Gast #59: Falscher Lorbeer

Die Bayern werfen sich ja angesichts ihrer Ergebnisse in Bildungsvergleichen immer gern in die Brust und sehen sich als die Besten. Prof. em. Hans Wocken hat recherchiert und zeigt, dass die Besonderheiten nicht im Schulsystem, sondern in der Schülerschaft liegen.

Die falschen Lorbeeren des Schulsystems

Sozialökonomischer Status determiniert Leistungsstatus

von Hans Wocken

1. Geschichte einer Entdeckung

Das „Institut zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen“ (IQB) überprüft in regelmäßigen Abständen im Auftrag der Kultusministerkonferenz (KMK) das Erreichen der zentralen Bildungsstandards. Mit dem IQB-Bildungstrend 2021 wurden zum ersten Mal nach den erheblichen Einschränkungen des Schulbetriebs in den Pandemiejahren die Kompetenzen der Grundschülerinnen und Grundschüler in den Kernfächern Deutsch und Mathematik anhand einer auf Bundes- und Länderebene repräsentativen Stichprobe untersucht. Die Erhebungen zum IQB-Bildungstrend 2021 fanden vor den Sommerferien 2021 statt. Im Oktober 2022 wurde der Bericht zum Bildungstrend der Öffentlichkeit präsentiert.

Das Deutsche Schulportal resümiert das Ergebnis folgendermaßen:

Die Ergebnisse des IQB-Bildungstrends sind alarmierend. Die Kompetenzen in Deutsch und Mathematik haben sich bei Kindern in der vierten Klasse dramatisch verschlechtert. Je nach Kompetenzbereich verfehlen im Schnitt 18 bis 30 Prozent der Schülerinnen und Schüler die Mindeststandards. Dabei zeigt der aktuelle Bildungstrend, dass die Leistungen in fast allen Ländern nachgelassen haben, allerdings in deutlich unterschiedlichem Umfang.

IQB 2016; IQB 2021

Kurz nach Erscheinen des Bildungstrends konnte ich in einer Bibliothek das dort vorrätige, vielfältige Zeitungsangebot studieren und der neugierigen Frage nachgehen, wie die IQB-Studie von der bildungspolitisch interessierten Öffentlichkeit aufgenommen und bewertet wurde. In einer Zeitung hat eine Seite meine Aufmerksamkeit in besonderem Maße auf sich gezogen. Nebst dem Bericht über die IQB-Studie fanden sich auf der gleichen Seite eine Grafik und eine Tabelle der Arbeitslosenquote in den Bundesländern im Jahr 2022 (Tab. 1).

BYBWRPHESHNITHBBSNSLHHNWSZMVBEHB
3,13,54,64,85,25,35,35,65,66,36,86,87,17,38,810,2
Tab. 1: Arbeitslosenquote in Deutschland 2022 nach Bundesländern (Statistisches Landesamt Baden-Württemberg 2023)

Spontan erschloss sich mir folgender Zusammenhang zwischen der Arbeitslosenquote (Tab. 1) und den IQB-Kompetenzreihen (Tab. 2):

  • Bayern und Sachsen belegen in allen Leistungsdomänen des IQB durchweg die beiden ersten Plätze. Gleichzeitig kann Bayern durch die niedrigste Arbeitslosenquote und Sachsen durch einen mittleren Platz imponieren.
  • Die Bundesländer Berlin und Bremen rangieren in Deutsch wie auch Mathematik weit abgeschlagen auf den beiden letzten Plätzen. Zugleich halten beide Länder im Arbeitslosenranking die rote Laterne; Berlin meldet mit 8,8 Prozent und Bremen mit 10,2 Prozent die höchste Arbeitslosenquote.

Diese Koinzidenz der Merkmale kann kein Zufall sein. Der erste spontane Eindruck spornte mich an, der Sache auf den Grund zu gehen. Das Ergebnis meiner Nachforschungen enthält die vorliegende Abhandlung.

2. Die IQB-Bildungstrends im Lichte sozialökonomischer Disparitäten

Statt der Arbeitslosenquote wird im Folgenden die „SGB-II-Quote unter 15“ (kurz: SQB-Quote) verwendet. Die SQB-Quote beschreibt den prozentualen Anteil aller Kinder und Jugendlichen unter 15 Jahren, die Sozialhilfe gemäß SGB-II beziehen. Während die Arbeitslosenquote sich auf die erwachsene, werktätige Bevölkerung bezieht, ist die SGB-Quote deutlich schulnäher und damit für den anstehenden Untersuchungszweck relevanter. Die SGB-Quoten beziehen sich auf das Jahr 2021 und wurden vom „Bremer Institut für Arbeitsmarktforschung und Jugendberufshilfe“ (BIAJ 2021) zur Verfügung gestellt.

Abb. 1: Kompetenzwerte Mathematik 2016 und SGB-Quoten der Bundesländer

Als einführendes Beispiel wird in Abb. 1 der Zusammenhang zwischen den Kompetenzwerten „Mathematik 2016“ und der SGB-Quote dargestellt. Die Kompetenzwerte werden im Diagramm durch Säulen abgebildet; die Reihung der Rangliste wurde nach dem IQB-Wert vorgenommen. Die SGB-Quote ist als Entwicklungslinie eingezeichnet.

Beschreibung

Die beiden Variablen IQB-Wert und SGB-Quote verhalten sich gegenläufig zueinander. Die Kompetenzreihung fällt von Bayern mit 508 Punkten kontinuierlich ab bis hin zu Bremen mit 418 Punkten. Das Mittelfeld liegt erkennbar dicht beieinander. Zwischen dem Drittplatzierten Sachsen-Anhalt (ST) und dem Drittletzten Hamburg (HH) liegen nur 27 Punkte. Im Mittelfeld sind die Abstufungen zwischen den Bundesländern sehr gering. Baden-Württemberg (BW) und Schleswig-Holstein (SH) sowie Brandenburg (BB) und Hessen (HE) bilden sogar punktgleiche Paarungen. Die Linie für die SBG-Quote steigt mit Ausnahme der beiden Ausreißer Sachsen-Anhalt (ST) und Schleswig-Holstein (SL) relativ kontinuierlich an, was auf eine lineare Beziehung zwischen IQB-Kompetenz und SGB-Quote hindeutet.

Die gegenläufigen Steigungstendenzen drücken sich statistisch in einem negativen Korrelationskoeffizienten von r = -0,85 aus; das ist ein in Sozialwissenschaften beeindruckend hoher Wert. In Sprache übersetzt bedeutet diese Korrelation:


  • Je höher die Sozialhilfequote (SGB-Quote), desto niedriger der Kompetenzwert Mathematik. Und
  • je niedriger die SBG-Quote, desto höher der Kompetenzwert in Mathematik.

Die beiden ersten und beiden letzten Bundesländer schneiden also in beiden Merkmalen zugleich entweder gut oder eben schlecht ab. Bayern und Sachsen sind also sowohl in Mathematik 2016 als auch bei der Sozialhilfe-Quote „Spitze“, dagegen sind Berlin und Bremen bei beiden Variablen die „Kellerkinder“ im Ensemble der Bundesländer.

Der offensichtliche, starke Zusammenhang zwischen den beiden Variablen kann durch den multiplen Koeffizienten R2statistisch genau bestimmt werden. Für das vorliegende Beispiel wurde ein Bestimmtheitsmaß (auch: Determinationskoeffizient) von R2 = 0,72 ermittelt. Das bedeutet, dass die abhängige Variable IQB-Wert in Mathematik nahezu zu drei Viertel durch die unabhängige Variable SGB-Quote vorhergesagt, „aufgeklärt“ werden kann.

Nur 28 Prozent der Unterschiedlichkeit der Kompetenzwerte in Mathematik geht auf Einflüsse zurück, die nicht untersucht wurden.

Nach diesem einführenden Beispiel sollen nun die beiden Bildungstrends aus den Jahren 2016 und 2021, die sich beide nur auf die Grundschule beziehen, in den Blick genommen werden. Aus dem Trendberichten 2016 und 2021werden jeweils die Variablen „Lesen“ und „Mathematik“ zu der Variable „SGB-II-Quote“ (kurz: SGB-Quote) in Beziehung gesetzt. Die SGB-Quote beschreibt, wie bereits erwähnt, den prozentualen Anteil von Kindern und Jugendlichen unter 15 Jahren, die Sozialhilfe beziehen.

Tab. 2: IQB-Werte und SGB-Quoten für die Variablen Lesen und Mathematik in den Bildungstrends 2016 und 2021

Die vier SQB-Variablen werden aus Platzgründen nicht mehr als Grafiken präsentiert. Als empirische Belege für einen Zusammenhang zwischen den Schulleistungen der Bundesländer und den länderspezifischen SGB-Quoten sind der Korrelationskoeffizient r und der Determinationskoeffizient R2 statistisch relevante Kennwerte und hinreichend informativ.

Die Tabelle 2 enthält die vollständigen Daten. Im Fokus der Aufmerksamkeit stehen nur die beiden ersten und beiden letzten Plätze der Rangreihen; sie sind in der Tabelle leicht grau unterlegt. Das Mittelfeld der Bundesländer soll und darf im Folgenden außer Acht bleiben; sofern ein spezifisches Interesse an dem Abschneiden bestimmter Bundesländer vorliegt, können die numerischen IQB-Werte aus Tab. 2 genutzt werden.

Klare Rangfolge

Das Ergebnis der beiden Bildungstrends kann in wenigen Worten beschrieben werden. Die Bundesländer Bayern und Sachsen haben scheinbar die beiden ersten Rangplätze in allen vier Variablen exklusiv für sich gepachtet. Sie liegen, besonders im Jahr 2021, mit einem deutlichen IQB-Punkte-Abstand vor dem Mittelfeld. Bayern belegt viermal den ersten Platz, Sachsen viermal den zweiten Platz. Bei der Variable Mathe 2021 tauschen die beiden Bundesländer die beiden ersten Plätze.

Noch klarer und eindeutiger sind die Verhältnisse am unteren Ende der Ranglisten. Bremen belegt notorisch bei allen gelisteten Variablen den letzten Platz. Berlin findet sich gleichfalls konstant auf dem vorletzten Platz, und das mit signifikanten Punkteabstand zum jeweils Drittletzten.

Erweiterung des Horizonts

Interessant ist nun, wie sich die Sozialhilfe-Quoten zu den Leistungsrankings verhalten. Der unstrittige Punktbeste Bayern kann auch bei der SGB-Quote als das Bundesland mit der niedrigsten Sozialhilfe-Quote von 6,2 Prozent beeindrucken. Für Sachsen wird nicht der zweitbeste Rang, sondern nach Bayern, Baden-Württemberg und Brandenburg der viertbeste Rang (10,9 Prozent) notiert.

Bremen vermeldet mit großen Abstand mit 30,9 Prozent die höchste SGB-Quote. Der prozentuale Anteil der Kinder und Jugendlichen, die Sozialhilfe beziehen, ist damit in Bremen fünfmal so hoch wie in Bayern! Anschaulich formuliert:

Bei einer angenommenen Klassenstärke von 25 sitzen in den bayerischen Klassen etwa 2 Schüler mit SGB-Status, in den bremischen Klassen dagegen etwa 8 Schüler. Nicht minder bedrückend ist mit einer Quote von 25,2 Prozent der Anteil der Sozialhilfeempfänger in Berlin. In den Berliner Klassen können also bei einer Klassenstärke von 25 durchschnittlich 6 Schüler pro Klasse erwartet werden, die Sozialhilfe beziehen. Die SGB-Quoten von Bremen und Sachsen liegen sehr, sehr deutlich über den entsprechenden Werten der Bundesländer im Mittelfeld.

Tab. 2 lässt also sowohl bei IQB-Kompetenzen als auch bei den SGB-Quoten eine überaus deutliche Dreiteilung erkennen. Die beiden ersten Plätze nehmen in den Rankings beider Variablen unangefochten und konstant Bayern und Sachsen ein. Ebenso unangefochten und konstant finden sich Berlin und Bremen auf den beiden letzten Plätzen der Ranglisten wieder.

Deutlicher Zusammenhang zwischen Schulleistungen und sozialen Unterstützungsstatus

Die Klarheit und Eindeutigkeit eines Zusammenhangs zwischen den Schulleistungen und dem sozialen Unterstützungsstatus von Schülern findet konsequenterweise statistisch Ausdruck in außergewöhnlich hohen Korrelationskoeffizienten. Die einfachen Korrelationen zwischen IQB-Werten und SGB-Quoten liegen im Bildungstrend 2016 über r > 0,8 und im Bildungstrend 2021 über r > 0,7. Die multiplen Koeffizienten R2 lauten 0,67 (Lesen 2016), 0,72 (Mathe 2016), 0,49 (Lesen 2021) und 0,57 (Mathe 2021). Die Abb. 2 verdeutlicht durch die Regressionslinie den negativen Zusammenhang zwischen IQB-Werten und SGB-Quoten.

Das sind überraschende, ja höchst erstaunliche statistische Kennwerte für den Beziehungszusammenhang zwischen Niveau der Schulleistungen und Sozialhilfe-Quoten.

Um die Größenordnung der Determinationskoeffizienten deutlich zu machen und einordnen zu können, sei als Vergleich der Zusammenhang zwischen Intelligenztestwerten und Schulleistungen herangezogen. In einem Lehrbuch zur Pädagogischen Psychologie findet sich dazu Folgendes:

„Intelligenz ist die bisher erklärungsmächtigste Einflussgröße auf die Schulleistung. Durch die mit Intelligenztests erfassten kognitiven Fähigkeiten werden allerdings meist nur 25 bis 30%, höchstens bis 50% der individuellen Schulleistungsunterschiede erklärt“ (Gast, Norbert /Heller, Kurt u.a. 1985, 190)“.

Der Vergleich mit dem Zusammenhang zwischen Testintelligenz und Schulleistungen macht deutlich, dass die Variablen IQB-Kompetenz und SGB-Wert in der Tat sehr hoch miteinander korreliert sind. Das Schulleistungsniveau der Bundesländer kann allein durch die SGB-Quote, die als ein Indikator für das sozialökonomische Niveau in den Ländern angesehen werden kann, zu mehr als die Hälfte der Varianz aufgeklärt werden. Damit bleibt für alle übrigen Determinanten von Schulleistungen nicht mehr allzu viel übrig. Zugespitzt formuliert:

Die Schulleistungskompetenzen sind zu einem überwiegenden Anteil durch die sozialökonomischen Verhältnisse determiniert.

Abb. 2: Position der Bundesländer im zweidimensionalen Raum und lineare Regression

Die Abb. 2 verortet zusammenfassend die Bundesländer in einem zweidimensionalen Raum mit der abhängigen Variablen IQB-Mathe 2016 auf der Y-Achse und der unabhängigen Variable SGB-Quote auf der X-Achse. Ferner ist in die Grafik die Linie der linearen Regression eingetragen.

Tab. 3: Rangliste der Bundesländer im IQB-Bildungstrends 2016 und 2021

Die Tab. 3 präsentiert noch einmal die Ranglisten der Bundesländer für alle Variablen. Sie enthält keine neuen Informationen, sondern will einer übersichtlichen Zusammenfassung dienlich sein.

3. Interpretation: Wider den sozialen Vergleich von Ungleichen

Pikanter Hinweis

Der Interpretation der IQB-Bildungstrends sei ein kurzer, aber pikanter Hinweis auf ein unscheinbares Nebenergebnis vorangeschickt. Bayern und Sachsen sind bekanntermaßen bekennende Vertreter eines sog. „differenzierten“, also hierarchisch gegliederten Schulwesens. Die Bildungstrends 2016 und 2021 beziehen sich aber nicht auf das ganze Schulsystem, sondern ausschließlich auf die Grundschule. Nun haben just die glühenden Verehrer eines gegliederten Schulsystems in einem Leistungswettbewerb gesiegt, an dem ausschließlich Vertreter eines gesamtschulartigen, integrierten Schulsystems teilgenommen haben.

Die Ironie dieses Wettbewerbs besteht also darin, dass ausgerechnet die Befürworter von Separation und Skeptiker von Inklusion diesen Grundschulwettbewerb gewonnen haben. Damit liefern völlig unerwartet Bayern und Sachsen den eindeutigen und unverdächtigen Nachweis, dass ein integriertes, nicht gegliedertes Schulsystem sehr wohl in hohem Maße leistungsfähig ist und auch in Leistungsvergleichen respektable Siege davontragen kann.

Die von der Separation gerne vorgetragene Behauptung, dass heterogene Lerngruppen generell leistungshomogenen Jahrgangsklassen unterlegen sind, ist damit durch die diversen IQB-Bildungstrends wiederholte Male widerlegt worden. Bayern und Sachsen gebührt Anerkennung und Dank, dass sie einem integrierten, leistungsheterogenen Schulsystem die Ehre erwiesen und ein überzeugendes, empirisches Qualitätstestat ausgestellt haben.

Interpretationen der Ergebnisse

Doch nun zur Interpretation der Ergebnisse. Insbesondere die Ergebnisse des „IQB-Bildungstrend 2021“ haben das Land aufgewühlt und nahezu in Panik versetzt. Nach dem PISA-Schock 2000 nun der IQB-Schock 2021. Die Verkündung der Ranglisten war ein willkommener Anlass, über die Bildungsrepublik Gericht zu halten und abzurechnen. Die Leistungsguten ergriffen die Chance, den Mythos von der Überlegenheit hierarchischer Schulformen mit leistungshomogenen Leistungsgruppen ein wenig aufzufrischen. Die Leistungsschwachen mussten sich den Vorwurf gefallen lassen, Leistungsverweigerung zu betreiben und der Selbstlerneuphorie und anderen neumodischen Irrtümern verfallen zu sein.

Die Wahrnehmung und Bewertung des Bildungstrends 2021 in der bildungspolitischen Öffentlichkeit erfolgten eher nach dem üblichen Muster. Die Interessenvertreter aller gesellschaftlichen Gruppen, Parteiungen und Verbände bemächtigen sich der Ergebnisse und legen sie für ihre Interessen eigensinnig und selbstwertdienlich aus. Eine kleine Auswahl.

  • Der bayerische Kultusminister Piazolo: „Das differenzierte und durchlässige bayerische Schulsystem hat sich bewährt“ (KM Bayern).
  • Die „Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft“, ein von den Arbeitgeberverbänden finanziertes Tochterunternehmen des Instituts der deutschen Wirtschaft: „Die guten Ergebnisse bayerischer Schulen zeigen im Ländervergleich, dass das differenzierte Schulwesen deutlich messbaren Mehrwert und bessere Chancen für seine Schülerinnen und Schüler schafft.“
  • „Sachsen und Bayern haben in Deutschland das beste Schulsystem“ (3xMehr 2013).
  • Der bayerische Realschullehrerverband: „Die ernüchternden Ergebnisse des dritten IQB-Bildungstrends und der damit verbundene Kompetenzrückgang der Viertklässler in den Fächern Deutsch und Mathematik zeigt einmal mehr: Nur durch eine Stärkung der differenzierten Lehrkräfteausbildung werden unsere Kinder schulartspezifisch bestmöglich ausgebildet! […] Die vergleichsweise guten Ergebnisse der bayerischen Schülerinnen und Schüler sind ein deutlicher Indikator, dass das bewährte bayerische Schulsystem kein Labor für Bildungsexperimente werden darf!“ (BRLV 2022).
  • Petra Stanat, die Direktorin des IQB, betont immer wieder mit großem Nachdruck, dass die Trendstudien lediglich rein deskriptive Beschreibungen, aber keine theoretischen Erklärungen liefern würden. „Mit unseren Studien können wir zwar differenziertes Beschreibungswissen über Stärken und Schwächen liefern, Ursachen für die beobachteten Befunde lassen sich anhand der Daten aber nicht mit Sicherheit bestimmen“ (Kelch 2017).
  • Josef Kraus, der ehemalige Präsident des Deutschen Lehrerverbandes, geht da weniger vorsichtig zu Werke. Er urteilt über die Bremer Bildungspolitik: „In Bremen findet man quasi wie mit einer Lupe vergrößert fast alles, was man falsch machen kann“ (Hellwig 2022).

Im bildungspolitischen Raum haben die Vergleichsstudien neben der Monitoring-Funktion offenkundig eine interessendienliche Rechtfertigungsfunktion. In der Erziehungswissenschaft werden dagegen die empirischen Vergleichsstudien mangels substantieller theoretischer Relevanz eher am Rande zur Kenntnis genommen.

Im bildungspolitischen Raum haben die Vergleichsstudien neben der Monitoring-Funktion offenkundig eine interessendienliche Rechtfertigungsfunktion.

Am ärgerlichsten sind all jene Kommentare, die die IQB-Kompetenzwerte als bare Münze nehmen und ohne abwägende Analysen, ohne Fragen nach den Ursachen und Bedingungen, ohne Erörterung der diversen Ausgangslagen und unterschiedlichen Rahmenbedingungen in Indikatoren für die Qualität der Bildungspolitik und die Qualität des Schulsystems übersetzen. Die Ranglisten der Bildungstrends werden unmittelbar und direkt als valide Aussagen über die Bildungsqualität der Bundesländer ausgegeben. Die Argumentationen lauten etwa so: Weil für Bayern in den Untersuchungen die besten Leistungswerte ermittelt wurden, hat Bayern auch das beste Schulsystem Deutschlands. Weil Bremen in den Rankinglisten den letzten Platz belegt, ist auch das gesamte Schul- und Bildungssystem Bremens miserabel.

Die Ranglisten der Bildungstrends werden unmittelbar und direkt als valide Aussagen über die Bildungsqualität der Bundesländer ausgegeben.

Naive Übernahmen

Derartige Aussagen, Interpretationen und Bewertungen sind in hohem Maße oberflächlich und naiv; sie zeichnen sich durch einen eklatanten Mangel an soziologischer Phantasie und wissenschaftlichen Grundregeln aus. Der Kardinalfehler dieser hypothetischen Erklärungen besteht darin, dass die Schulleistungen von Schülern als unmittelbare Leistungen des Schulsystems ausgegeben werden. Schulleistungen sind aber keineswegs ein Produkt eines Systems. Schulleistungen sind ein Gemeinschaftserzeugnis von Schülern, Elternhaus, Peer Group, Lehrern und auch von den sozialen Verhältnissen.

Alles schulische Lernen ist ein Prozess, dessen Erfolg von vielen Faktoren abhängt, nämlich vor allem von den Kindern selbst, der Familie, den Freunden, den Lehrern, der Unterrichtsqualität, der Schule und last not least den gesellschaftlichen und ökonomischen Verhältnissen in den Kommunen. Ja, Schulleistungen sind auch eine Leistung der Gesellschaft und der Ökonomie. Es ist wohl unmittelbar einsichtig, dass man die schlechten Schulleistungen von Kindern in Armutsvierteln, in den Favelas von Rio des Janeiro oder aus einem afrikanischen Dorf in Burkina Faso nicht den Lehrern anlasten oder der örtlichen Schule die Schuld geben darf.

Schulleistungen sind ein Gemeinschaftserzeugnis von Schülern, Elternhaus, Peer Group, Lehrern und auch von den sozialen Verhältnissen.

Zusammenhang von Herkunft und Schulerfolg

Eine völlig unstrittige Erkenntnis der internationalen und nationalen Bildungsforschung ist, dass in allen Ländern dieser Erde die soziale Herkunft mit dem Schulerfolg korreliert; mal mehr, mal weniger, aber dieser korrelative Zusammenhang ist allerorten gegeben. Wenn das aber universal so ist und allerseits anerkannt und bestätigt wird, warum werden dann nicht die Ergebnisse der Bildungstrends auch im Lichte sozialer und ökonomischer Bedingungen gesehen und interpretiert? Hier herrscht bei den Interpreten und Kommentatoren durchweg extreme soziologische Enthaltsamkeit, Ahnungslosigkeit oder gar Desinteresse vor.

Die vorliegende Untersuchung hat hingegen überzeugend demonstrieren können, dass die Leistungsqualität der Bundesländer in sehr hohem Maße durch die SGB-Quote determiniert, d.h. bestimmt und begrenzt ist. Der prozentuale Anteil an Sozialhilfeempfängern in den Schulklassen ist nach vorliegenden Befunden ein exzellenter Prädiktor für das Leistungsniveau der Bundesländer. Es ist daher ein unverständlicher, großer Fehler, bei der Interpretation der Bildungstrends die disparaten sozialökomischen Ausganglagen der Bundesländer nicht zu berücksichtigen.

Es ist ein unverständlicher, großer Fehler, bei der Interpretation der Bildungstrends die disparaten sozialökomischen Ausganglagen der Bundesländer nicht zu berücksichtigen

Es ist widersprüchlich, immer wieder die Effektstärke des ökonomischen und sozialen Kapitals hervorzuheben, dann aber bei Leistungsrankings diejenigen zu diskreditieren und abzuwatschen, die unverschuldet weniger davon besitzen. Wer sich über Bremen oder Berlin lustig macht und auf sie despektierlich herabschaut, ohne sich der dort herrschenden Ausgangslage zu versichern, fügt beiden Ländern ein nicht zu rechtfertigendes Unrecht zu. Und wer meint, angesichts der exzellenten Kompetenzwerte in Bayern und Sachsen dafür die Bildungspolitik dieser Länder loben und preisen zu müssen, ignoriert systematisch die erheblichen Unterschiede in den Ausgangslagen.

Bayern hat nicht das bessere Schulsystem, sondern andere Schüler

Zugespitzt formuliert: Bayern hat weder die besseren Schulen noch das bessere Schulsystem, sondern Bayern hat schlichtweg die „besseren“ Schüler als Bremen. Die Leistungspotentiale der bremischen Schüler sind schon vor Schulbeginn, vor dem ersten Schultag geringer als die vorschulischen Leistungspotentiale der bayerischen Schüler. In den Schulen mancher bremischen Stadtteile sind die Kinder aus prekären Lebenslagen deutlich in der Mehrheit, die bayrischen Schulen können sich dagegen über wohlerzogene Landkinder und bildungsbeflissene Bürgerkinder freuen. Ein Tölpel, wer bei diesem ungleichen Wettbewerb einen Sieg des Prekariats über das bürgerliche Milieu erwartet.

Die IQB-Bildungstrends wollen und können nicht den stringenten Beweis erbringen, dass Bayern wirklich die besten Schulen und obendrein auch noch das beste Schulsystem hat. Die Ungleichheit der Lern- und Leistungsergebnisse in den Bildungstrends spiegelt zu einem nennenswerten Anteil lediglich die Ungleichheit der Voraussetzungen und Ausgangslagen wieder.

Die Ungleichheit der Lern- und Leistungsergebnisse in den Bildungstrends spiegelt zu einem nennenswerten Anteil lediglich die Ungleichheit der Voraussetzungen und Ausgangslagen wieder.

Ein gerechtes Urteil über die Bildungsqualität der Bundesländer kann aber nur dann gefällt werden, wenn auch die Gleichheit der Wettbewerbsteilnehmer in den Rahmen-, Ausgangs- und Randbedingungen „präexperimentell“ gegeben ist, so dass etwaige Effektunterschiede verlässlich auf pädagogische Interventionen, Strukturen und Programme zurückgeführt werden können. Bei einer Ungleichheit der Leistungsvoraussetzungen kann man schlechterdings keine Gleichheit der Leistungsergebnisse erwarten! Das ist eine unhinterfragbare Binsenwahrheit, die in empirischen Untersuchungen zwingend gegeben sein muss. Schon Kinder wissen, dass in der Leichtathletik alle Läufer sich an der gleichen Startlinie aufstellen müssen und niemand vor dem Startschuss auch nur einen Fingerbreit die Startlinie übertreten darf.

Die Crux der Bildungstrends ist also,

  • dass Bundesländer, die von vorneherein ungleich sind, miteinander verglichen und einem sozialen Vergleich von Ungleichen unterworfen werden;
  • dass dann von den Kommentatoren (nicht vom IQB!) die erwartbar ungleichen Endprodukte schnurstracks den Schulen, Schulsystemen oder der Bildungspolitik zugerechnet werden;
  • dass die Ranglisten der Kompetenzwerte – ungewollt – schließlich doch als Ranglisten von Bundesländern und Bildungssystemen wahrgenommen und interpretiert werden.

Zynischer Leistungswettbewerb

Es ist nahezu zynisch, Ungleiche zu einem Leistungswettbewerb antreten zu lassen, am Ende den prädestinierten Siegern die Pokale und Medaillen auszuhändigen und den chancenlosen Verlierern persönliches Versagen und Unfähigkeit vorzuwerfen. Wettbewerbe, bei denen schon von vorneherein die Sieger und Verlierer feststehen, sind ein absurdes Showspiel und völlig sinnlos; sie dienen bestenfalls der Selbstbekräftigung und dem narzisstischen Geltungsbedürfnis der notorischen Sieger.

Die starke korrelative Beziehung zwischen dem sozialökonomischen Status und dem Kompetenzstatus wird auch in den Untersuchungsgängen der nahen Zukunft erneut die Ranglisten der nächsten Bildungstrends determinieren. Solange die sozialökonomischen Verhältnisse sich nicht angleichen, werden Bremen und Berlin bei Leistungswettbewerben wohl niemals Bayern und Sachsen schlagen, weder bei den IQB-Trenduntersuchungen noch in der Bundesliga.

Die IQB-Bildungstrends sind in der derzeitigen Form für die Bundesländer mit ungünstigen Lebens- und Wirtschaftsverhältnissen demütigend und beschämend

Die IQB-Bildungstrends sind in der derzeitigen Form für die Bundesländer mit ungünstigen Lebens- und Wirtschaftsverhältnissen demütigend und beschämend. Ihnen allen sei deshalb mit vollem Ernst empfohlen, dem sinn- und würdelosen Vergleich der Ungleichen aus dem Wege zu gehen und dem unfairen Leistungswettbewerb schlichtweg fernzubleiben.

Literatur

 [BIAJ 2021] Bremer Institut für Arbeitsmarktforschung und Jugendberufshilfe: Kinder, Jugendliche und Hartz IV: Kreis-, Großstadt- und Ländervergleich 2021 – neu berechnet. In: http://biaj.de/archiv-materialien

[BRLV 2022]: Ergebnisse des neuesten IQB-Bildungstrend: Der bayerische Weg der differenzierten Schulbildung sichert Qualität! In: https://www.brlv.de/

[IQB 2016] Stanat, Petra /Schipolewski, Stefan /Rjosk, Camilla /Weirich, Sebastian /Haag, Nicole (Hrsg.) (2017): IQB.Bildungstrend 2016. Kompetenzen in den Fächern Deutsch und Mathematik am Ende der 4. Jahrgangsstufe im zweiten Ländervergleich. Münster: Waxmann

 [IQB 2021] Stanat, Petra /Schipolowski, Stefan /Schneider, Rebecca /Sachse, Karoline A. /Weirich, Sebastian /Henschel, Sofie (Hrsg.) (2022): IQB-Bildungstrend 2021. Kompetenzen in den fächern Deutsch und Mathematik am Ende der 4. Jahrgangsstufe im dritten Ländervergleich. Münster: Waxmann

[KM Bayern]: „Das differenzierte und durchlässige bayerische Schulsystem hat sich bewährt.“ In: http://www.km.bayern.de/eltern/…

3xMehr (2013): Für ein differenziertes Schulwesen: Bundesweite Initiative gestartet. In: http://www.km.bayern.de (31. Juli 2013)

Gast, Norbert /Heller, Kurt /Kormann, Adam /Peez, Helmut /Rüdiger, Dietrich (1985): Dimensionen und Bedingungsfaktoren der Schulleistung. Tübingen: Deutsches Institut für Fernstudien an der Universität Tübingen

Hellwig, Silke (2022): “Kinder sind keine Versuchskaninchen”. In: Weser-Kurier, 20. November 2022

Kelch, Manja (2017): “Auf die Schulstruktur kommt es nicht an.” Interview mit der Chefin des IQB Prof. Dr. Petra Stanat. In: http://www.bildung.sachsen.de

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