In den vergangenen Tagen wurden die Ergebnisse des Bildungstrends 2022 veröffentlicht (Link). Wie nicht anders zu erwarten, hat sich Bayern, in Person von Kultusminister Piazolo angesichts der Spitzen-“Leistungen” der getesteten Schüler:innen wieder in die Brust geworfen (Link). Dass die guten Ergebnisse verschiedene Ursachen haben und beispielsweise auch im Zusammenhang stehen mit dem wesentlich geringeren Anteil an Migrantenkindern (Link), wird gern übersehen. Aber heute soll einmal ein früher Kritiker an den Testverfahren von Bildungstrend, VERA , PISA u.a. zu Wort kommen.
Bartnitzky, H. (2006). Wie VERA und Verwandtes die Bildungsqualität beschädigen. Die potemkinschen Dörfer der gegenwärtigen Schulpolitik. Die Deutsche Schule 98. Die Deutsche Schule 98 (2006) 2, S. 201-213. doi:10.25656/01:27332
Dieser Aufsatz ist schon etwas älter, aber die grundsätzliche Kritik an den Testverfahren scheint mir auch in der Gegenwart noch berechtigt zu sein. Beim Kritiker handelt es sich nicht um einen Bruder Leichtfuß, sondern um eine Person mit einschlägigen Erfahrungen und Veröffentlichungen, vor allem im Bereich VERA (siehe Hinweise unten):
Horst Bartnitzky, geb. 1940; Dipl.-Päd., Leitender Regierungsschuldirektor i.R., Leiter mehrerer Lehrplankommissionen in NRW; Bundesvorsitzender des Grundschulverbandes; Arbeitsschwerpunkte: allgemeine Grundschulfragen, Deutschdidaktik

Im Folgenden sind die nicht besonders gekennzeichneten Passagen dem Aufsatz entnommen. Überschriften, Zwischentitel und Zitate sind von mir.
“Empirische Wende” als politische Reaktion auf PISA
Am Anfang stand eine politische Entscheidung: Nach den enttäuschenden Ergebnissen der PISA-Studie und den öffentlichen Reaktionen dazu beschloss die Kultusministerkonferenz unmittelbar nach Veröffentlichung der PISA-Ergebnisse im Dezember 2001 sieben Handlungsfelder. Im Handlungsfeld 5 wurde vereinbart: „Maßnahmen zur konsequenten Weiterentwicklung und Sicherung der Qualität von Unterricht und Schule auf der Grundlage von verbindlichen Standards sowie eine ergebnisorientierte Evaluation.” (KMK 2001)
Damit wollte die KMK für die Schulpolitik die „empirische Wende” einleiten – verkürzt allerdings auf die Messung von Schülerleistungen, soweit sie denn messbar sind. Denn: „Um gezielt den Unterricht zu entwickeln und um gezielt die Kompetenzen der Schülerinnen und Schüler zu fördern, benötigt man unbedingt eine empirische Basis”, so die für die Vergleichstests VERA verantwortlichen Wissenschaftler (Isaac u.a.2006). (Bartnitzky 2006, S. 201)
Output-Steuerung. Bildungsstandards. Landesweite Leistungstests
In diesem Zusammenhang wurden dann insbesondere drei Maßnahmen schulpolitisch durch die KMK und in den Ländern festgelegt und den Medien als Ausweis tatkräftiger Politik vorgestellt:
Von der Input-Steuerung zur Output-Steuerung
Erstens ein Paradigmenwechsel: von der Input-Steuerung zur Output-Steuerung. Waren bisher die Maßnahmen zur Steuerung der Schulbildung insbesondere auf Richtlinien und Lehrpläne, Aus- und Fortbildung bezogen, so sollten sie sich nun von den Ergebnissen her leiten lassen. Der Output, also in der Sprache der KMK: die ergebnisorientierte Evaluation, solle nun zeigen, was die Schule zu leisten imstande sei, wo ihre Stärken und ihre Schwächen liegen.
Nationale Bildungsstandards
Dazu bedürfe es zweitens der Festlegung der erwarteten Ergebnisse schulischen Lernens, eben des gewünschten Outputs: verbindliche nationale „Bildungsstandards”, die dann von der KMK 2004 für den Abschluss der vierjährigen Grundschule in Deutsch und Mathematik und für den mittleren Bildungsanschluss in Deutsch, Mathematik und Englisch veröffentlicht wurden
(KMK 2004a). Diese Standards sollten von nun an die Unterrichtsarbeit in den sog. Kernfächern leiten. (Siehe auch: Schlömerkemper 2004)
Institut für Qualitätsentwicklung (IQB)
Drittens solle überprüft werden, inwieweit die Standards erreicht wurden: landesweite Leistungstests sollten dies richten. Zusätzlich wurde in Berlin ein zentrales „Institut für Qualitätsentwicklung im Bildungswesen” (IQB) gegründet, das beispielhaft Testaufgaben entwickeln und damit die Arbeit der Lander unterstützen soll. (Bartnitzky 2006, S. 201–202)
Potenzial für eine Qualitätsentwicklung – nicht genutzt
Hieraus könnten sich Ansätze für eine Qualitätsentwicklung ergeben: Aus Sicht der einzelnen Schule können bundesweite Bildungsstandards als Bezugspunkte fur die schuleigenen Lehrpläne und die Schulprogramme fungieren; die Außenevaluierung kann die eigenen vielfältigen Evaluierungen in den Unterrichtsprozessen und -ergebnissen ergänzen. Aus Sicht der staatlichen Verantwortung kann durch die Außenevaluierung ermittelt werden, welche Schulen wirksame und nachhaltige Unterstützungen brauchen, zum Beispiel Schulen in sozialen Brennpunkten, die aus Gründen der Bildungsgerechtigkeit eine andere Ausstattung an Personal und Material, auch an Bildungszeit brauchen, als andere Schulen. (Bartnitzky 2006, S. 202)
Leider aber lassen die real praktizierten Tests, ihre politische Vermarktung und die insgesamt einseitige und schmalspurige Effektivitätssicht dies nicht zu – zum Schaden der schulischen Bildung. (Bartnitzky 2006, S. 202)
Was ist Bildung?
Bildung umfasst alle Aspekte der Lebenswelt: Sprache und Kommunikation, Mathematik, Natur und Technik, Zeit und Raum, Sozialität und Politik, ästhetische Bereiche sowie Religion und Wertorientierung.
Bildung als Prozess stärkt die Fähigkeiten, die Lebenswelt in ihren Phänomenen wahrzunehmen, Strukturen und Funktionen zu durchschauen und in ihr selber aktiv mitzuwirken, Mitverantwortung zu übernehmen und zu tragen. Deshalb ist Unterricht auf Sinnzusammenhänge hin angelegt, die auch Fächergrenzen überschreiten, sowie auf aktive Handlungsmöglichkeiten.
Bildung ist individuelle Bildung: Die pädagogische Ethik wie neuere Erkenntnisse der Lernforschung verweisen auf das eigenaktive Denken und Handeln, auf Sinnkonstruktion und Entwicklung eigener Lernstrategien und Lernwege. (Bartnitzky 2006, S. 202–203)
Die Verkürzung der Bildung auf einen Wettbewerb in Lesen, Mathematik und Naturwissenschaften
Schon die bildungspolitische Debatte verkürzte sich auf die schulfachlichen Felder, in denen die internationalen Untersuchungen wie TIMSS, PISA, IGLU schwerpunktmäßig getestet haben: auf Lesekompetenz, Mathematik, Naturwissenschaften. Sicher, Lesekompetenz wird zu Recht als eine Schlüsselkompetenz angesehen, mathematisches und naturwissenschaftliches Denken als zukunftsbedeutsam. Dennoch: Ganze Lernbereiche und Lernfelder, die kürzlich noch hoch gewichtet wurden, sind quasi über Nacht in die Bedeutungslosigkeit gefallen: (Bartnitzky 2006, S. 203)
Die Gründe für diese Begrenzungen sind offensichtlich: Zum einen orientiert man sich an den internationalen Untersuchungen, weil schulpolitisches Ziel ist, bei Folgeuntersuchungen besser abzuschneiden. Hier ist auch ein Wettlauf der Länder entstanden. (Bartnitzky 2006, S. 204)
Guter Unterricht ist mehr als sein Output
Schon im Begriff der Output-Steuerung wird ein verhängnisvoller doppelter Irrtum sichtbar. Der erste Irrtum betrifft den sog. Output. Er ist ein Begriff aus technischen Arbeitsabläufen: Man lege das angestrebte Ergebnis fest und konstruiere den Arbeitsprozess so, dass er zu diesem Ergebnis kommt. Übertragen auf Unterricht heißt das: der Unterrichtsprozess wird zum Mittel für den Zweck des Unterrichtsziels. Dieses Bild technischer Produktion entspricht aber nicht dem Bildungsprozess, ja, es widerspricht ihm. Die Qualität der Prozesse hat hier einen hoch bedeutsamen Stellenwert, weil diese selber bildungswirksam sind.
Schülerinnen und Schüler lassen sich durch die gestaltete Lernumgebung anregen, machen durch die Verwendung von Sozialformen und Lernsituationen bedeutsame Lernerfahrungen, nicht identische, sondern individuelle. Die langfristig wirksamen Effekte auf Selbstbild, Motivation, Einstellung, bereichsspezifische Qualifikationen sind in der Regel nicht punktuell abprüfbar, aber möglicherweise in längeren Zeiträumen beobachtbar. (Bartnitzky 2006, S. 204)
Technische Vorgänge sind im Prinzip steuerbar, Handlungen von Menschen sind es nicht. Sie dürfen es auch nicht sein, weil dies unserer Ethik von der Würde des Menschen widerspricht. Bildungsprozesse sind Entwicklungsprozesse junger Menschen und es sind Förderprozesse professionell Lehrender. Beide sind nicht steuerbar, bei beiden bedarf es der inneren Zustimmung zu einer Handlung, sonst entwickelt sich kein Bildungsprozess. Dies zusammenzubringen, ist die hohe Kunst aller Lehrenden. Günstige Bedingungen dafür zu schaffen ist im Übrigen die Pflicht der Schulpolitik. (Bartnitzky 2006, S. 205)
Bildungsprozesse sind Entwicklungsprozesse junger Menschen und es sind Förderprozesse professionell Lehrender. Beide sind nicht steuerbar, bei beiden bedarf es der inneren Zustimmung zu einer Handlung, sonst entwickelt sich kein Bildungsprozess.
Hier also ist der beschworene Paradigmenwechsel nötig: von der behaupteten Output-Steuerung zur Entwicklungsförderung mit dem Doppelblick auf die Prozesse wie auf die Ergebnisse. (Bartnitzky 2006, S. 205)
Schüler:innen sind nicht zu belehrende Objekte, sondern Subjekte des Lernens
Mit der falschen Mittel-Zweck-Relation ist bereits das Fehlbild vom Lerner angesprochen. Schülerinnen und Schüler sind nicht Objekte der Belehrung, sie lernen nicht eins zu eins, was gelehrt, ihnen also „beigebracht” wurde. Schülerinnen und Schüler sind Subjekte ihres Lernens, die nach ihren je individuellen Voraussetzungen, mit ihren individuellen Möglichkeiten und ihrem aktuellen Interesse Angebote zum Lernen wahrnehmen, Neues im Zusammenhang ihres bisherigen Fähigkeits- und Kenntnisstandes konstruieren. Gehirnarbeit ist individuelle Arbeit.
Als guter Unterricht gilt deshalb zu Recht ein Unterricht, der genau dies unterstützt: die Fähigkeiten zum selbstständigen Lernen mit dem Angebot verschiedener Zugriffsmöglichkeiten und Lernmethoden. Lernkompetenz ist deshalb ein didaktischer Schlüsselbegriff. Verbunden mit der individuellen Eigenleistung jedes Lerners gilt das didaktische Interesse insbesondere dem Lernweg der Schülerinnen und Schüler, ein Weg auch mit eigenständigen Lösungsstrategien, mit scheinbaren Rückschritten, mit Übergeneralisierungen als wichtigen Etappen auf dem Lernweg (Bartnitzky 2006, S. 205)

Hinter falschen Kreuzchen kann richtiges Denken stecken
In den derzeitigen amtlich beauftragten Leistungstests ist von einem solchen Verständnis von Lernprozessen aber nichts zu erkennen. Hier gilt für die Testaufgaben das Gebot der Ökonomie, wie dies auf einen entsprechenden Vorbehalt Helmke u.a. klar stellten. Um „viel diagnostisch relevante Informationen pro Zeiteinheit” zu gewinnen, muss darauf geachtet werden, „dass die Schülerinnen und Schüler möglichst wenig selbst schreiben müssen, stattdessen: Ankreuzen, Unterstreichen etc.” (Bremerich-Vos u.a. 2005, 4).
Durch diese schlichten Reaktionen lassen sich Gedankenwege und Lernstrategien, die dem Ankreuzen zu Grunde liegen, nicht ermitteln. Eine Durchsicht der Aufgaben und Auswertungsmanuale zeigt sogar, dass klug gedachte Lösungen als falsch
gekennzeichnet werden, weil sie nicht der Erwartung der Testkonstrukteure entsprechen. (Bartnitzky 2006, S. 205–206)
Die Tests und ihre Auswertung lassen nicht zu, dass die Denkakte der Kinder zum Vorschein kommen können.
Damit wird strukturell auf das verzichtet, was die Evaluierung guten Unterrichts eigentlich ausmacht: das Erhellen des selbstständigen Denkens der Lerner. Entscheidende Informationen über Schülerleistungen bleiben damit nicht erfasst, häufiger werden faktische Schülerleistungen sogar als Fehlleistungen moniert. (Bartnitzky 2006, S. 206)
Kindfremde Texte und Aufgaben
Sie stellen Texte und Aufgaben vor, die für Kinder oft fremd sind. Die Aufgabenstellung und die Art der Testdurchführung lassen gar nicht erst zu, dass die Kinder und Jugendlichen sich mit der Situation, um die es geht, vertraut machen, dass sie zu einer Fragehaltung kommen. Bei Texten zum Beispiel sollen sie zu Themen, die sie wenig berühren, irgendwelche Fragen beantworten, die nicht ihre Fragen sind. (Bartnitzky 2006, S. 207)
Dies alles können ältere Jugendliche leichter bewältigen als jüngere Kinder, zur Kontextdistanz fähige Schülerinnen und Schüler besser als kontextabhängig denkende. Auf diese Weise werden die Ergebnisse bereits vorgeprägt: Ein bestimmter Lerntyp aus bestimmtem sozialen Milieu wird diese Testsituation besser bewältigen als andere. (Bartnitzky 2006, S. 207)
Damit wird eine bestimmte Rollenverteilungfestgelegt: Die Tests externer „Experten” zeigen die Leistungsprofile. Wo es Defizite gibt, ist es aber Aufgabe der Lehrerinnen und Lehrer, sie in absehbarer Zeit zu beheben, schließlich steht der nächste Test ein Jahr später bereits an. Die Veröffentlichung der Ergebnisse sorgt für zusätzlichen Druck auf die Schulen. (Bartnitzky 2006, S. 208)
Die Verlage sind längst auf diesen Zug gesprungen
Die Verlage sind längst auf diesen Zug gesprungen. Dort werden Aufgabensammlungen mit dem Versprechen angedient: „Die sofort einsetzbaren Unterrichtsbausteine und Kopiervorlagen erleichtern die tägliche Arbeit und bereiten die Schüler optimal auf Prüfungen vor.” Ein großer Schulbuchverlag bewirbt „Übungshefte für die Lernstandserhebungen, damit die Kinder angstfrei den Vergleichsarbeiten entgegensehen können”. (Bartnitzky 2006, S. 208)
Wer testet, spart sich die Beschäftigung mit anderen Problemen
Zur Spielfläche für Schulreform wird damit der testorientierte Unterricht. Andere Bereiche wie selbstständige Schulentwicklung, Verzicht auf dauerhafte Beschämung und Beschädigung der Lerner, Veränderung der Schulstruktur und andere mehr werden oder bleiben geschlossen. Auf entsprechende Investitionen in die Bildung kann verzichtet werden, die Politik rührt z.B. das brisante Thema Auslesestruktur der deutschen Schule gar nicht erst an. (Bartnitzky 2006, S. 208)
Die Überhöhung des Aussagewerts wird zum Kernpunkt schulischer Diagnostik
Mit dieser Überhöhung des Aussagewerts der derzeitigen Leistungstests werden sie, schulpolitisch gewollt, wissenschaftlich bestärkt, öffentlich entsprechend rezipiert, nun schulpraktisch zum Kernpunkt schulischer Diagnostik. Messbare Effektivität wird zum Leitbild der unterrichtlichen Arbeit. Eine gute Schule ist eine Schule, die gute Testergebnisse vorweisen kann. Auch beim sog.
„fairen Vergleich”, bei dem Schulen in ähnlichen sozialen Milieus miteinander verglichen werden, ist dies nicht anders. Es werden dann eben die Schulen in mehrere Landesligen eingeteilt. (Bartnitzky 2006, S. 208)
Dies ist der teaching-to-the-test-Effekt und potemkinsche Dörfer
Dies ist der teaching-to-the-test”-Effekt: Die Leistungen in den Tests werden zwar besser, weil der Unterricht auf die speziellen Anforderungen der Tests hin ausgerichtet wird, Leistungen in den außertestlichen Bereichen aber nehmen ab, weil sie unterrichtlich nicht mehr wie zuvor gefördert werden. Potemkinsche Dörfer werden gebaut. (Bartnitzky 2006, S. 209)
Zusammenfassung von Kritikpunkten
Die gegenwärtig praktizierten Tests orientieren sich mit ihrer einseitigen und schmalspurigen Effektivitätssicht nicht an einem komplexen Bildungsbegriff:
Sie verstärken das Interesse an wenigen ausgewählten Fächern, die im Fokus der internationalen Untersuchungen liegen, und hier testen sie einige Bereiche in der kognitiven Dimension mit eher einfachen Aufgabenstellungen. Überfachliche Bildungsansprüche, andere Lerndimensionen und komplexe Aufgabenstellungen bleiben ausgeklammert.
Sie nehmen die Lerner in ihren Denkvorgängen nicht wahr, sondern ermitteln Antworten auf der Aussageoberfläche. Damit können sie keine Aussage zur Denkqualität, zu den individuellen Denkstrategien und Lösungswegen der Schülerinnen und Schüler machen. Mithin reduziert sich die Möglichkeit erheblich, Schlüsse für Fördermaßnahmen zu ziehen.
Sie verwenden verfremdete Aufgabenstellungen. In den gewählten Lebensweltzusammenhängen kann sich immer nur ein Teil der Schüler wiederfinden. Dies wirkt sich bei vielen Schülerinnen und Schülern, insbesondere jüngeren und kontextabhängig denkenden, nachteilig auf Interesse und Leistung aus.

Sie unterstellen für Lernprozesse eine Mittel-Zweck-Relation und verfolgen damit ein technizistisches Paradigma: Die Unterrichtsprozesse werden auf die Vermittlung von überprüfbaren Zielen reduziert. Damit wird der Blick auf nachhaltig wirksame und qualifizierende Bildungsprozesse verstellt, die Auswirkungen auf Selbst-, Sozial- und Sachkompetenzen außerhalb von Papier-Bleistift-Evaluierungen haben. Dieses Verständnis wird insbesondere in den Kommentaren der VERA-Wissenschaftsgruppe und in der politischen Vermarktung deutlich. (Bartnitzky 2006, S. 209)
Das Gefahrenszenario
Sowohl die Testautoren wie ihre Auftraggeber, die Schulpolitik der Länder, geben generalisierend vor, mit den Testergebnissen die Leistungen der Schülerinnen und Schüler und damit der Schulen in den entsprechenden Lernbereichen zu spiegeln. Damit wird die begrenzte Aussagekraft der Tests zu einzelnen fachlichen Leistungen fälschlich in eine Allaussage über Qualität von Unterricht und Schule insgesamt umgemünzt.
Die Politik nutzt die Ergebnisse für grundlegende Eingriffe in die Struktur der Schulen, siehe die Absichten zum öffentlichen Ranking, zur Belobigung der „25 Besten” in Nordrhein-Westfalen, verbunden mit der freien Schulwahl auch im Grundschulbereich. Damit werden neoliberale Vorstellungen aus der Wirtschaft unzulässig auf den Bildungsbereich übertragen.
Folge wird sein, dass die Lehrkräfte die Testaufgaben zum Modell für Unterricht nehmen, um die Ergebnisse beim nächsten Test zu steigern. Entsprechende Erfahrungen aus anderen Ländern liegen vor. Damit werden die Begrenztheiten der derzeitigen Leistungstests (siehe oben) zum Maß für Unterricht. Am Ende definieren die Bedingungen für jährliche Leistungstests, was und wie in der Schule gelernt werden soll, nicht aber der auf Bildung bezogene Diskurs aus Schulpädagogik, Fachdidaktik und Schulpolitik. (Bartnitzky 2006, S. 209–210)
Was sind die Alternativen?
Die Alternative ist nicht die Abwendung von der „empirischen Wende” oder gar von wissenschaftlicher kritisch-konstruktiver Entwicklungsbegleitung. Die Alternative ist vielmehr, die Empirie und die Methoden an dem zu orientieren, was eine gute Schule ausmacht. Hierzu gibt es bereits Evaluierungsformen externer wie interner Art in Fülle. (Bartnitzky 2006, S. 210)
Beispiele zur externen Evaluation
Dazu bedarf es anspruchsvollerer Tests, die auch höhere Lernformen in den Blick nehmen. Georg Lind verweist als Beispiel auf den Moralischen UrteilsTest (MUT), der an der Universität Konstanz entwickelt wurde (Lind 2005, 27)…
Lehrerinnen und Lehrer greifen selbst auf einfache standardisierte Tests zurück, die nicht nur nach der Oberfläche ,falsch oder richtig?’ bewerten, sondern die Aufschluss über den Entwicklungsstand des einzelnen Kindes geben und zugleich über den Stand der eigenen Klasse zu anderen Grundschulklassen orientieren wie die Hamburger Schreibprobe (HSP 1-9), die zur Rechtschreibentwicklung fir alle Jahrgangsstufen vorliegt (May).
Hans Brügelmann führte eine Leseuntersuchung mit zig-tausend Kindern in Siegen und Umgebung an Hand des Stolperwörter-Tests (LUST) durch, einem einfachen und alltagstauglichen Test übrigens für alle Grundschulklassen, den der Berliner Schulleiter und Fortbildner Wilfried Metze entwickelt hat und von Lehrkräften über das Internet bezogen werden kann. Damit werden individuelle Entwicklungen der Kinder im Laufe der Grundschulzeit deutlich (Brügelmann 2003, Metze 2004).
Indem Lehrkräfte und Schulkollegien zu solchen Tests greifen, können die Testergebnisse angemessen in die Gesamtevaluierung integriert werden und haben dann ihren immer nur ergänzenden Stellenwert als „Warnlampe”, die genauere Beobachtung anregt, nicht aber ersetzt. (Bartnitzky 2006, S. 210)
Das Modell der Schulinspektion
Das Modell der Schulinspektion, das derzeit in einigen Ländern entwickelt und erprobt wird, kann ein für die Evaluierung und Förderung der Bildungsqualität hilfreiches Instrument sein, wenn es auf kritisch-konstruktive Beobachtung und Kommunikation mit den Lehrenden setzt und wenn es das komplexe Faktorengefüge im Blick hat, das eine „gute Schule” ausmacht. Nur wenn es
die Bestandsaufnahme in Bezug auf die Effektivität in die Bestandsaufnahme der Schulqualität integriert, wird es die Bildungsqualität erhellen und angemessene Ansatzpunkte ihrer Weiterentwicklung finden können. (Siehe zum Forschungsstand: Brügelmann 2005, 283 if., Czerwenka 2005). (Bartnitzky 2006, S. 211)
Ein Blick nach Schweden
Ein Blick nach Schweden zeigt, wie dort der „Blick von außen” so genutzt wird, dass er sich in die Unterrichtsentwicklungen der jeweiligen Schule integriert: Jeweils am Ende der Klasse 5 werden nationale Fachprüfungen durchgeführt. „Die Prüfungen”, so die Durchführungsanweisung, „sollten nicht als Zusatz zur übrigen Arbeit in der Schule angesehen werden, sondern vielmehr als Material, welche gewisse Teile der täglichen Arbeit ersetzen.” Vermieden wird die deutsche Klausurmanie.
Vermieden wird die deutsche Klausurmanie.
In den schwedischen Anleitungen heißt es zum Beispiel: Das Material enthält „sowohl Aufgaben, welche die Schüler individuell lösen sollen als auch Aufgaben, die sie zusammen lösen sollen … Es ist vorteilhaft, den Prüfungscharakter herunterzuspielen … Die Lehrkräfte können beschließen, mehr oder weniger Zeit zu veranschlagen. Es ist nicht beabsichtigt, die Schüler unter Zeitdruck arbeiten zu lassen, sondern ihnen die Möglichkeit zu geben, mit den Aufgaben fertig zu werden.” Zudem enthalten
die Materialien immer auch Bögen zur Selbstbeurteilung oder -einschätzung durch die Schülerinnen und Schüler selbst: „Eine derartige Selbstbeurteilung bezweckt, das Bewusstsein des Schülers für das eigene Lernen zu schärfen und seine Verantwortung dafiir zu unterstreichen, welches eines der übergreifenden Ziele des Lehrplans ist.” (Skolverket 2003/2004)
Geschadet hat diese Art der externen Evaluierung den Leistungsergebnissen schwedischer Schülerinnen und Schüler nicht, im Gegenteil. (Bartnitzky 2006, S. 211)
Zur internen Entwicklung
Noch einmal das Beispiel Nordrhein-Westfalen: Hier wurden bereits vor VERA für Deutsch und Mathematik Aufgabenbeispiele entwickelt, die zugleich Modelle für qualitätsvollen Unterricht sind (z.B. Ministerium für Schule, Wissenschaft und Forschung des Landes Nordrhein-Westfalen 2002). Die Lehrkräfte der Parallelklassen wählten hieraus für ihre Klassen aus, erörterten die Unterrichtsprozesse, die Lernentwicklungen und die Lernergebnisse im Lehrerteam, auch mit Vergleich der Parallelklassen. Diese Arbeit war für zwei bis drei Jahre verpflichtend für alle Schulen und trug zur schulinternen Verständigung über Unterricht und Leistung bei. Mit der ersten VERA-Runde 2004 verschwanden die Aufgabenbeispiele, die entsprechenden Konferenzbeschlüsse, Fortbildungen u.a. in der Schublade.
Dieses Beispiel zeigt zweierlei: Es gibt Alternativen auf der Schulebene zur Qualitätsentwicklung, viele weitere sind der Literatur zur Schulentwicklung zu entnehmen. Das Beispiel zeigt aber auch, wie solche entwicklungsbezogenen Ansätze mit der politischen Prioritätenentscheidung für die sog. Output-Steuerung abrupt an Bedeutung verloren und nicht mehr unterstützt wurden. (Bartnitzky 2006, S. 211)
Pädagogische Leistungskultur im Sinne des Grundschulverbandes
Der Grundschulverband entfaltete in seinem Projekt „Pädagogische Leistungskultur” die wichtigsten Aspekte einer wirksamen, weil ermutigenden Leistungsförderung, in die auch die Kinder dialogisch einbezogen sind: Leistungen der Kinder wahrnehmen -Leistungen würdigen – Lernwege öffnen – Kinder individuell fördern (Bartnitzky, Speck-Hamdan 2004). Derzeit veröffentlicht der Grundschulverband auf dieser Grundlage Materialien für alle Fächer und Schuljahre der Grundschulzeit, mit deren Hilfe Lernentwicklungen und Lernstände der Kinder festgestellt, Lerngespräche mit Kindern geführt, individuelle weitere Lernwege geöffnet und Lernwege von den Lernern selbst, also den Kindern, reflektiert werden. (Bartnitzky 2006, S. 211–212)
Die ratlose Frage der Wissenschaftler
Am Anfang dieses Beitrags wurde die ratlose Frage der VERA-Wissenschaftler zitiert, bezogen auf „Lehrkräfte, die VERA nicht sinnvoll nutzen”: „Mit welchen Verfahren (könnte) in solchen Fällen überhaupt erfolgreich Schulentwicklung stattfinden?” (Isaac u.a. 2006) Ist es die schiere Unkenntnis über alternative Schulentwicklungs-Strategien sowie über Beispiele wie oben angeführt oder ist es deren Geringschätzung? Das eine wäre so erschreckend wie das andere. Das Vergessenstempo in manchen Schulministerien ebenso. (Bartnitzky 2006, S. 212)
Literaturhinweise
Bartnitzky, Horst 2003: Lesekompetenz — was ist das und wie fördert man sie? In: Grundschulverband aktuell, 84, 3 if. (wieder abgedruckt in: Grundschulverband 2006)
Bartnitzky, Horst 2005a: VERA Deutsch 2004: Ungeeignet und bildungsfern. In: Grundschule aktuell, 89, 10ff.
Bartnitzky, Horst 2005b: „Schimpansenkinder müssen laufen lernen”— Lesetest in Bayern. In: Grundschule aktuell 92, 25
Bartnitzky, Horst; Angelika Speck-Hamdan (Hg.) 2004: Leistungen der Kinder wahrnehmen — würdigen — fördern. Frankfurt a.M.: Grundschulverband
Bartnitzky, Horst; Hans Brügelmann, Ulrich Hecker, Gudrun Schönlcnecht, 2005: Pädagogische Leistungskultur: Materialien für Klasse 1 und 2. Frankfurt: Grundschulverband
Bartnitzky, Horst; Hans Brilgelmann, Ulrich Hecker, Gudrun Schönknecht 2006: Pädagogische Leistungskultur: Materialien für Klasse 3 und 4. Frankfurt: Grundschulverband