Prof. em. Dr. Hans Wocken beobachtet seit Jahren Entwicklungen und Entscheidungen der bayerischen Schulpolitik. In diesem Beitrag formuliert er seine Wahrnehmungen als Diagnose und Therapie der bayerischen Bildungspolitik.
Kulturimperialismus
Das Grundübel der bayerischen Bildungspolitik lässt sich auf einen einzigen Begriff bringen: Kulturimperialismus. Kulturimperialismus will heißen, dass eine herrschende Gruppe ihre eigene Kultur, also bestimmte Lebensformen, Verhaltensweisen und Wertvorstellungen anderen Menschen ohne deren Einwilligung aufzwingt und vorschreibt. Dem „Kreuz-Befehl“ (Prantl 2018) von Ministerpräsident Söder folgend werden in öffentlichen Gebäuden Bayerns die Kreuze aufgehängt, ob es den Andersdenkenden gefällt oder nicht. In der Bildungspolitik pflegt die machthabende christlich-soziale Bildungsadministration seit Jahrzehnten einen politischen Stil, der ohne alle Umschweife als intoleranter Kulturimperialismus bezeichnet werden kann. Der bayerische Kulturimperialismus setzt sich aus zwei Komponenten zusammen: An erster Stelle steht die orthodoxe Ideologie des gegliederten Schulwesens, und diese wird zweitens umgesetzt und realisiert durch eine rigide, zentralistisch und hierarchisch organisierte Schulverwaltung.
Kulturimperialismus will heißen, dass eine herrschende Gruppe ihre eigene Kultur, also bestimmte Lebensformen, Verhaltensweisen und Wertvorstellungen anderen Menschen ohne deren Einwilligung aufzwingt und vorschreibt.
1. Ideologie des gegliederten Schulwesens
Diese Ideologie besagt, dass das bayerische Schulsystem in der Sekundarstufe allein die klassischen Schulformen Hauptschule, Realschule und Gymnasium anbietet und neben diesen klassischen Schulformen auch keine andere, zusätzliche oder alternative Schulform zugelassen wird. Das bayerische Modell einer dreifach gegliederten Schulstruktur in der Sekundarstufe tritt mit einem absoluten Alleinvertretungsanspruch auf. Weil die gesamte Bildungspolitik des Bundeslandes der Gliederungsideologie vollständig unterworfen ist und jegliche strukturelle Alternative (z. B. Gemeinschaftsschule) weder gedacht noch geplant noch realisiert werden darf, kann man mit vollem Recht von einem undemokratischen und intoleranten Kulturimperialismus sprechen.
Weil die gesamte Bildungspolitik des Bundeslandes der Gliederungsideologie vollständig unterworfen ist und jegliche strukturelle Alternative (z. B. Gemeinschaftsschule) weder gedacht noch geplant noch realisiert werden darf, kann man mit vollem Recht von einem undemokratischen und intoleranten Kulturimperialismus sprechen.
Einzig gültige Weltanschauung
Die Ideologie des gegliederten Schulwesens betrachtet sich als die einzig gültige Weltanschauung, die keiner theoretischen Rechtfertigung bedarf. Sie beansprucht eine überzeitliche Gültigkeit, bedarf keinerlei Korrekturen oder situativer Anpassungen. Jedwede Kritik und alle Änderungsvorschläge werden als unzulässige, unbotmäßige Anschläge gegen eine unantastbare, nahezu göttliche Wahrheit angesehen. Wer immer in schulpolitischen Diskursen die Schulstrukturfrage aufwirft und problematisiert, bekommt alsbald diese eine monotone Antwort zu hören: „Diese Frage ist schon entschieden!“ Ende der Diskussion.
Empirische Bildungssystemforschung gibt es in Bayern nicht
Weil die Ideologie des gegliederten Schulwesens mit dem Nimbus der Unantastbarkeit und Nichtfalsifizierbarkeit ausgestattet ist, erübrigt sich konsequenterweise jede weitere wissenschaftliche Forschung. Die beiden bayrischen Lehrstühle für empirische Bildungsforschung in Bamberg und München haben, soweit bekannt, bislang keine nennenswerten empirischen Untersuchungen zur Evaluation des gegliederten Schulwesens durchgeführt. Ferner: Die Forschungsprogramme der Wissenschaftlichen Begleitungen zur Inklusionsreform klammern mit Bedacht alle strukturellen Fragen etwa zur Qualität der diversen Organisationsformen oder zu einem Vergleich von separierenden und inkludierenden Förderkonzepten aus. Statt freier wissenschaftlicher Forschung folgen sie devot dem Mantra des kultusministeriellen Auftraggebers: „Inklusion durch eine Vielfalt schulischer Angebote!“ Die regierungstreue, subalterne Haltung der Wissenschaftlichen Begleitung erhellt auch aus der Tatsache, dass für zwei wissenschaftliche Tagungen an der Universität Würzburg beide Male der prominente Inklusionsgegner Bernd Ahrbeck als Hauptreferent eingeladen wurde. Das ist weder Werbung noch Fortbildung für Inklusion, sondern schlichtweg ein unverhohlener, demonstrativer Akt einer missionarischen Anti-Inklusion. Über die realen Fehlentwicklungen der Inklusionsreform („Etikettierungsschwemme“; „Separationsstillstand“ (Wocken 2017; 2021)) haben die Wissenschaftlichen Begleitungen bislang keine einzige empirische Untersuchung vorgelegt. Empirische Bildungssystemforschung gibt es in Bayern nicht, weil das christlich-soziale Parteiprogramm diese Frage bereits entschieden hat und daher als irrelevant und überflüssig erachtet. Im Bildungsbereich findet die grund- und landesgesetzlich verbürgte Freiheit von Wissenschaft und Forschung in Bayern de facto nicht statt.
Ein unverhohlener, demonstrativer Akt einer missionarischen Anti-Inklusion
Kompromissloses Nein zu Eltern und Gemeinden
Ein wahres Husarenstück hat sich der christlich-soziale Kulturimperialismus in den Gemeinden Denkendorf und Kipfenberg geleistet (Grüttner o.J.). Die kleinen Gemeinden konnten aufgrund rückläufiger Schülerzahlen nicht mehr eine wohnortnahe Mittelschule aufrechterhalten. Daher beschlossen die beiden Gemeinderäte mehrheitlich einschließlich von Stimmen der CSU, zusammen eine gemeinsame Gemeinschaftsschule einzurichten. Das Vorhaben wurde vorzüglich vorbereitet. Eine Elternbefragung erbrachte in beiden Gemeinden eine deutliche Mehrheit von 60 bis 80 Prozent für eine Gemeinschaftsschule. Für das pädagogische Konzept wurde eine besondere, auf die lokalen Bedingungen abgestimmte wissenschaftliche Expertise (Rösner 2010) vorgelegt. Ferner wurde für die Aufbauphase eine wissenschaftliche Kooperation mit der Universität Eichstätt vereinbart. Es half alles nichts. Nach gediegenen Beratungsrunden zwischen den Vertretern der Gemeinden und des Kultusministeriums beantwortete das Ministerium den Antrag der Gemeinden mit einem ultimativen und kompromisslosen Nein. Mit diesem Verbot einer Gemeinschaftsschule in Denkendorf und Kipfenberg hat die christlich-soziale Bildungsadministration ein beispielloses Denkmal für eine illiberale imperialistische Bildungspolitik gesetzt. Entgegen der gern beanspruchten Bürgernähe wurde hier ein mehrheitlicher basisdemokratischer Bürgerwille der christlich-sozialen Parteiideologie eines gegliederten Schulwesens unterworfen. Und genau das verdient den Namen Kulturimperialismus. Ein autoritäres Verbot einer alternativen Schulform ist mit dem Geist einer freiheitsliebenden, liberalen Demokratie kaum vereinbar.
Mit diesem Verbot einer Gemeinschaftsschule in Denkendorf und Kipfenberg hat die christlich-soziale Bildungsadministration ein beispielloses Denkmal für eine illiberale imperialistische Bildungspolitik gesetzt.
Ausgerechnet die ungegliederte bayerische Grundschule zeigt Bestleistungen
Das gegliederte Schulwesen Bayerns wird von konservativen Parteien und Lehrerverbänden (Philologenverband; Realschullehrerverband) immer wieder verteidigt und legitimiert mit dem Verweis auf eine angebliche Überlegenheit „begabungsgerechter“, homogener Jahrgangsklassen. In der Tat belegt Bayern regelhaft in nationalen wie auch internationalen empirischen Leistungsstudien respektable bis hervorragende Plätze auf den Rankinglisten. Das ist völlig unstrittig und soll ausdrücklich anerkannt werden. Aber kann die positive Leistungsbilanz der bayerischen Schule tatsächlich und hinreichend mit der strukturellen Differenzierung des Schulsystems erklärt werden? Im jüngsten IQB-Bildungstrend 2021 (IQB 2021) hat auch die bayerische Grundschule im Ländervergleich vorzüglich abgeschnitten und in den untersuchten Leistungsdomänen Lesen, Zuhören, Rechtschreiben und Mathematik durchweg erste und zweite Plätze belegt. Mit diesem Resultat liefert ausgerechnet Bayern, also ein bekennender Gegner integrativer Schulformen, einen exzellenten empirischen Beweis für die hohe, mindestens gleichwertige Leistungsfähigkeit eines ungegliederten schulischen Subsystems! Die Erklärung mit einer differenzierten, gegliederten Schulstruktur indes taugt nicht, sie scheitert kläglich an dem vorzüglichen Abschneiden der Grundschule; und sie kann deshalb auch keine wissenschaftliche Allgemeingültigkeit beanspruchen.
Mit diesem Resultat liefert ausgerechnet Bayern, also ein bekennender Gegner integrativer Schulformen, einen exzellenten empirischen Beweis für die hohe, mindestens gleichwertige Leistungsfähigkeit eines ungegliederten schulischen Subsystems!
Die bayerische Schule ist in ambitionierter Weise leistungsorientiert
Aber wie kann man die guten Platzierungen der bayerischen Schule in leistungsvergleichenden Studien dann erklären? Mit einer besseren finanziellen und personellen Ausstattung der Schulen? Mit höheren Kompetenzen der bayerischen Lehrerschaft und einer besseren Unterrichtsqualität? Nichts von alledem. Beide Argumente können nicht überzeugen und entbehren empirischer Evidenz. Nach meiner Auffassung kommt dem Variablenkomplex „Schul- und Leistungskultur“ ein höheres Erklärungspotential zu. Die bayerische Schule ist in ambitionierter Weise leistungsorientiert. Diese Leistungsorientierung manifestiert sich in hohen Leistungserwartungen. Das anspruchsvolle Erwartungsniveau bringt dann in stetiger Verknüpfung mit vielfältigen Leistungskontrollen und auch Leistungssanktionen bessere Schulleistungen der Schülerinnen und Schüler hervor. Die empirische Lehr- und Lernforschung kann eindrücklich belegen, dass hohe Leistungserwartungen auch hohe Lernleistungen hervorbringen können (Hattie; Helmke; Meyer). In Bayern wird die ausgeprägte Leistungsorientierung der Schule zusätzlich noch unterstützt durch einen traditionsbewussten elterlichen Erziehungsstil, bei dem auch die sog. Sekundärtugenden wie Leistungsbereitschaft, Pflichtgefühl, Gehorsam, Disziplin, Pünktlichkeit, Zuverlässigkeit usw. durchaus noch einen anerkannten Stellenwert haben.
Anspruchsvolle Leistungserwartungen sind zwiespältig
Anspruchsvolle Leistungserwartungen sind lernförderlich; in dem Maße jedoch, in dem sie das Vermögen der Schüler übersteigen, können sie in Leistungsstress und Leistungsdruck ausarten und unerwünschte negative psychosoziale Nebenwirkungen zeitigen, unter denen insbesondere die leistungsschwächeren Schüler leiden. Wenn schwache Schülerinnen schlechte Noten mit nach Hause bringen, müssen sie in nicht wenigen Elternhäusern mit gehöriger Schelte, mitunter gar mit Strafen rechnen. Alljährlich befinden sich vor dem Übertritt auf die weiterführenden Schulen nicht wenige bayerische Familien in einem Ausnahmezustand (Reinders u.a. 2014); dann spielen sich dort wahre Dramen und Angstorgien ab, ob denn der Sprung auf die höheren Schulen gelingt.
Vor dem Wechsel von der Grundschule in die Sekundarstufe ist die Stressbelastung von Kindern und ihren Eltern in Bayern deutlich bis dramatisch höher als in Hessen (Reinders u. a. 2014). Dieser empirische Befund spricht nicht für eine kinder- und familienfreundliche bayerische Schule. Was ist wichtiger: Die Medaillenränge der bayerischen Schule oder das Wohlergehen der bayerischen Schülerinnen und Schüler? Gemäß Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen ist „das Wohl des Kindes ein Gesichtspunkt, der vorrangig zu berücksichtigen ist“ (KRK, Art. 3). Selektion und Separation sind folglich als potentiell kindeswohlgefährdend einzustufen.
Nicht unerwähnt bleiben darf, dass Bayern im bundesweiten Vergleich die höchste Sitzenbleiberquote hat (siehe Diagramm unten). Leistungsorientierung hat also auch ihren Preis, insbesondere, wenn sie mit unangemessenen Erwartungen daherkommt und obendrein noch von Leistungsdruck und Selektionsdrohungen begleitet wird. In aller Regel zahlen insbesondere die leistungsschwachen Schüler den Preis für die Leistungserfolge der starken Schüler.
Leistung ist etwas anderes als Bildung
Der stolze Blick Bayerns auf die ersten Plätze von Leistungsrankings ist ergänzungsbedürftig. Man darf gute Bildung nicht mit guten Schulleistungen gleichsetzen. Mit dem alljährlich vergebenen Deutschen Schulpreis (Schulpreis o.J.) werden Schulen ausgezeichnet, die sich an einem umfassenden Verständnis von Bildung und Lernen orientieren. Der erweiterte, ganzheitliche Bildungs- und Lernbegriff lässt die Verengung auf intellektuelle Leistungen weit hinter sich und umfasst fachliche, überfachliche, personale und soziale Bildungsziele. Zu dem umfassenden Bildungsverständnis gehören die sechs Qualitätsbereiche: Leistung, Umgang mit Vielfalt, Unterrichtsqualität, Verantwortung, Schulleben und Schule als lernende Institution. Die bayerische Schule kann zwar im Qualitätsbereich Leistung beeindrucken, eine gute Schule in einem umfassenden Sinn ist sie allein deshalb noch lange nicht. Insbesondere bei dem Kriterium Umgang mit Vielfalt werden die Schulen eines gegliederten Schulsystems kaum sonderlich reüssieren können. Bislang sind lediglich sechs bayerische Schulen mit dem Deutschen Schulpreis ausgezeichnet worden. Ein deutlicher Dämpfer und zugleich Veranlassung, die intellektualistische Verengung von guter Schule auf Leistungswettbewerb und Leistungspokale zu überdenken.
Die bayerische Schule kann zwar im Qualitätsbereich Leistung beeindrucken, eine gute Schule in einem umfassenden Sinn ist sie allein deshalb noch lange nicht.
2. Die zentralistische und hierarchische Schuladministration
Die Ideologie der Leistungsoptimierung durch Leistungshomogenisierung und Leistungsselektion ist eng verknüpft mit einer zentralisierten und hierarchischen Kultusadministration. Die bayerische Kultusadministration ist zentralistisch, weil alle nachgeordneten Verwaltungsebenen (Städte, Gemeinden, Landkreise, Regierungsbezirke) nur einen minimalen bis gar keinen Einfluss auf die Programmatik der Bildungspolitik haben. Und sie ist hierarchisch, weil alle Gewalt eben nicht von den unmittelbar Beteiligten, sondern von der Behördenspitze ausgeht. Die nachgeordneten Verwaltungsebenen werden durch das rigide Top-Down-Regiment zu bloßen Befehlsempfängern degradiert. Im Vergleich aller Politikbereiche (Gesundheit, Verkehr, Justiz, usw.) ist die Kultusadministration wohl mit der rigidesten zentralistischen und hierarchischen Organisationsstruktur ausgestattet.
Das bayerische Kultusministerium ist maximal reformbedürftig
Über das bayerische Kultusministerium konnte die CSU jahrzehntelang die eigenen bildungspolitischen Vorstellungen nahezu autokratisch umsetzen, ohne dass oppositionelle Kräfte in und außerhalb des Parlaments daran sonderlich viel ändern könnten. Die operativen Prozesse der Kultusverwaltung ähneln in mancher Hinsicht jenem governmentalen Stil, den Michel Foucault in seinem Buch „Überprüfen und Strafen“ (2015) detailliert beschrieben hat. Das Staatsministerium für Unterricht und Kultus gleicht einer uneinnehmbaren Festung. Die bedeutendsten außerparlamentarischen Bildungsakteure, der BLLV (Bayerischer Lehrerinnen- und Lehrer-Verband) und das Forum Bildungspolitik, ein Zusammenschluss von über 40 bayerischen bildungspolitischen Vereinen, Verbänden und Organisationen, müssen damit rechnen, dass ihre Eingaben, Petitionen, Empfehlungen und Resolutionen an der Festung abprallen und sie regelhaft vom Ministerium abgebürstet werden. Die parlamentarischen Oppositionsparteien SPD (9,7 %), Die Grünen (17,6 %), FDP (5,1 %) und AfD (10,2%) sind quantitativ so unbedeutend, dass sie kaum ernst genommen werden müssen. Während das Kultusministerium von Gnaden der CSU mit autokratischer Selbstherrlichkeit von oben nach unten durchregieren kann, sind in oppositionellen Kreisen in und außerhalb des Parlaments nicht selten Phänomene wie Verzweiflung, Hoffnungslosigkeit, Demotivation oder bildungspolitische Apathie zu beobachten.
Die bedeutendsten außerparlamentarischen Bildungsakteure müssen damit rechnen, dass ihre Eingaben, Petitionen, Empfehlungen und Resolutionen an der Festung abprallen und sie regelhaft vom Ministerium abgebürstet werden.
Das nahezu absolutistische Regiment des Ministeriums hat höchst schädliche Wirkungen: Routiniertes Befolgen der ewig gleichen Prinzipien; abnehmende Gestaltungsfreude und Innovationsbereitschaft; Verkrustung; Immobilität. Kein Geringerer als der Ministerpräsident Markus Söder selbst hat die Schwäche der bayerischen Kultusadministration so beschrieben:
„Wenn es eine Institution in Bayern gibt, die maximal reformbedürftig ist, dann ist das das Kultusministerium!“
M. Söder 2022
Mitgift und Erblast der CSU
Dieses authentische Urteil unmittelbar aus dem Regierungszentrum verdient lebhafte Zustimmung. Gleichwohl, die Diagnose greift zu kurz. Der Immobilismus der Bildungsadministration hat eine klar benennbare Ursache. Seit der Existenz des Freistaates Bayern, also seit über 70 Jahren wird das Kultusministerium – mit Ausnahme der Jahre 2018 bis 2023 – ausschließlich von Politikern der CSU geführt! Der Immobilismus der Kultusadministration ist also nichts anderes als die Mitgift und Erblast der christlich-sozialen Partei. Söder hat mit seiner Diagnose unwillentlich ein Eigentor geschossen. Er wollte die Kultusverwaltung treffen, traf mit seiner Kritik aber in Wahrheit die eigene Partei als den ursächlich Verantwortlichen für eine unbewegliche, dogmatisch verhärtete Bildungspolitik.
Spuren in den Schulen und Klassenzimmern
Das strenge Regiment der bayerischen Kultusverwaltung hinterlässt auch Spuren in den Schulen und Klassenzimmern. Nicht wenige Schulen, Lehrer und Schüler unterwerfen sich dem übermächtigen Anpassungsdruck. Der Bildungsjournalist Martin Spiewak hat seine Eindrücke zu zwei durchschnittlichen Grundschulen in Berlin und in München eindrücklich in seinem Bericht „Von Strebern und Chaoten“ (2013) beschrieben. Einige sinngemäße und wörtliche Zitate aus seiner nichtrepräsentativen Studie können die Differenz zwischen der Spree und der Isar anschaulich aufzeigen:
- In Berlin zählt man mehr als einhundert Brennpunktschulen mit hohen Anteilen aus Hartz-IV-Familien, in München dagegen etwa zwölf.
- Lehrerfortbildung ist in Berlin freiwillig, an der Isar besteht hingegen eine Fortbildungspflicht von etwa zwölf Unterrichtstagen in vier Jahren.
- „Der Wochenplan muss in München spätestens montags um 7.45 Uhr zur möglichen Einsicht der Schulleitung schriftlich vorliegen. Die Spree-Pädagogen kennen solche strikten Gebote nicht.“
- „In München gehorchen die Unterrichtsschritte einer strafferen Choreografie, und die Schüler wissen rascher, was zu tun ist. Auch der Geräuschpegel ist in München niedriger.“
- Das Kultusministerium Bayern schreibt für die vierte Jahrgangsstufe 22 Proben verbindlich vor, damit die Grundschulempfehlung „gerichtsfest“ belegt werden kann.
- Die Lehrer an der Spree sind tendenziell skeptisch gegenüber Leistung. „Bei einem Schultest wollen die Bayern die Besten sein. Die Berliner wollen beweisen, dass der Test nichts taugt.“
- „Spricht man mit den Eltern an der Isar-Schule, dann reden diese ständig über den Leistungsdruck. Im Gespräch mit den Spree-Eltern fällt das Wort ‚Druck‘ kein einziges Mal.“
- In München „verleidet der Leistungsdruck den Schülern den Spaß am Lernen. Zudem gerät leicht aus dem Blick, dass nur in einem freiheitlichen Klima Fantasie und Kreativität blühen.“
- „Im chaotischen Berliner Schulklima wächst offenbar Neues und Einzigartiges, was bei Pisa nicht getestet wird: Zweitklässler, die einen Vortrag über Eichhörnchen halten; Schüler, die ihr Lieblingsbuch vorstellen oder ihren Stadtteil mithilfe des Internets erkunden – all das gab es bei den Besuchen an der Spree-Schule zu sehen, an der Isar-Schule nicht. In Bayern scheint man für so etwas nur selten Zeit zu haben. Hier zählt jede Minute auf dem Weg zum Grundschulabitur.“
Konsequenzen
Die Konsequenzen aus den Diagnosen „Gegliedertes und separierendes Schulsystem“ und „Zentralistische, hierarchische Schuladministration“ liegen auf der Hand, sie ergeben sich logisch aus den diagnostischen Befunden (Tabelle).
Dimension | Diagnose: IST | Therapie: SOLL |
Strukturelle Ordnung | Gegliedertes und separierendes System | Pluralistisches, vielfältiges System |
Operative Steuerung | Zentralistische, hierarchische Administration | Demokratische, partizipatorische Steuerung |
Therapie 1: Entwicklung einer vielfältigen, pluralistischen Sekundarstufe
Bezüglich der strukturellen Ordnung der bayerischen Sekundarstufe gilt es, die Ideologie des gegliederten Schulwesens von ihrer starren Dogmatik und absoluten Geltung zu befreien und für Alternativen zu öffnen. Die SPD und die Grünen haben diese Zielsetzung auch als „Öffnungsklausel“ bezeichnet. Es geht schlichtweg um ein wenig mehr Freiheit in der bayerischen Bildungspolitik, um eine Liberalisierung der Drei- bzw. Viergliedrigkeitsdoktrin und die Ermöglichung von alternativen Schulformen.
Die Gemeinschaftsschule als Ergänzung
Gegenwärtig scheint die Zulassung und Anerkennung einer Gemeinschaftsschule eine vordringliche Option einer liberaleren Bildungspolitik zu sein. Eine Gemeinschaftsschule ist eine weitere, staatliche Schulform in der Sekundarstufe Bayerns. Sie umfasst die Jahrgangstufen 5 bis 10; anzustreben ist ein enger Verbund mit einer angegliederten Grundschule sowie eine verbindliche Zuordnung zu einer gymnasialen Oberstufe. An einer Gemeinschaftsschule können die Schulabschlüsse aller Schulformen erworben werden. Die Gemeinschaftsschule wird als „Ergänzung“, nicht als „Ersatz“ der bestehenden Sekundarschulen verstanden. Durch die Einrichtung von Gemeinschaftsschulen verwandelt sich das existierende Schulsystem zu einer pluralistischen, vielfältigen Sekundarstufe.
Die Gemeinschaftsschule wird als „Ergänzung“, nicht als „Ersatz“ der bestehenden Sekundarschulen verstanden.
Die Gemeinschaftsschule ist eine Schule der Vielfalt und Gemeinsamkeit. Sie ist also erstens eine inklusive Schule für alle. Sie kann von allen Schülerinnen und Schülern gewählt werden, die bislang die Mittelschule, Realschule oder ein Gymnasium besucht haben; sie ist ferner offen für alle Schülerinnen und Schüler mit Behinderungen, die bislang Sonder- bzw. Förderschulen besuchen mussten.
Die Gemeinschaftsschule als ein Miteinander der Verschiedenen
Die Gemeinschaftsschule ist zweitens eine gemeinsame Schule. Ihre pädagogische Leitidee lautet „Miteinander der Verschiedenen“. Sie fördert die „Gemeinsamkeit in der Vielfalt“ durch eine gemeinsame Unterrichtung der Verschiedenen, durch gemeinsames Leben und Lernen. Und sie fördert die „Vielfalt in der Gemeinsamkeit“ durch eine binnendifferenzierende Schulorganisation und eine individualisierende Unterrichtsgestaltung. Alle Schülerinnen und Schüler werden individuell nach ihren Möglichkeiten, ihren Begabungen und ihren Bedarfen pädagogisch gefördert, ohne Sitzenbleiben, ohne Noten und ohne Aussonderung.
Die Gemeinschaftsschule ist keine Pflichtschule, sondern eine Angebotsschule. Sekundarschüler und ihre Eltern können die Gemeinschaftsschule als eine gleichwertige Alternative zu den anderen Schulformen wählen, eine Verpflichtung zum Besuch einer Gemeinschaftsschule besteht indessen nicht.
Der Vorschlag, „nur“ die zusätzliche Einrichtung von Gemeinschaftsschulen einzufordern, nicht aber das gesamte gegliederte Schulwesens Bayerns in Frage zu stellen, wird zahlreiche, insbesondere fortschrittliche Kritiker auf den Plan rufen. Die reformerische Bescheidenheit fordert Begründungen.
Das reformstrategische Argument: Bürger und Politiker mitnehmen
Reformen sind keine Revolutionen. In pädagogischen Kreisen kursiert das geflügelte Wort: „Man muss die Kinder da abholen, wo sie stehen!“ Diese Sentenz sollte auch für Bildungsreformen gelten. In Bayern – so pfeifen es die Spatzen von den Dächern – gehen die Uhren bekanntlich anders. Reformen sollten sich deshalb einer progressiven, sukzessive fortschreitenden Strategie befleißigen. Es gilt, die Politiker und die Bürger Bayerns mitzunehmen. Deshalb muss aus reformstrategischer Sicht zunächst die allerwichtigste Frage beantwortet werden: Was ist der nächste mögliche Schritt? Wie könnte in Bayern die „Zone der nächsten Entwicklung“ aussehen?
Was ist der nächste mögliche Schritt? Wie könnte in Bayern die „Zone der nächsten Entwicklung“ aussehen?
Wer in Bayern das gegliederte Schulwesen samt und sonders abschaffen will, beschädigt die Identität der christlich-sozialen Union, und verdirbt sich selbst alle Chancen. Es sollte stattdessen vielmehr darum gehen, möglichst viele Bürger und Politiker für eine Öffnung der bisherigen bildungspolitischen Dogmatik zu gewinnen, um eine möglichst breite Basis für den nächsten, möglichen Reformschritt in der „Zone der nächsten Entwicklung“ zu schaffen.
Das gegliederte Schulwesen repräsentiert wahrlich keine freiheitliche Ordnung. Es gleicht einem Kastensystem, das Kinder sortiert und separiert. Die Möglichkeit von Gemeinschaftsschulen ist unabdingbar auf die politische Toleranz von Alternativen angewiesen. Bayern sollte den Kulturimperialismus hinter sich lassen und ein freiheitliches Bildungssystem anstreben, in dem alle Bürger und ihre Kinder sich wiederfinden können.
Das demokratische Argument: Gleiches Recht für alle Eltern
Demokratie heißt nicht vollständige, selbstgefällige Herrschaft einer Mehrheit über eine Minderheit. Dieses Verständnis entspräche eher der mittelalterlichen Herrschaftsformel: „Cuius regio, eius religio“. Frei übersetzt: Wer die Macht hat, hat auch das Sagen. Die Anderen haben sich gefälligst einzufügen und klaglos zu folgen.
Die Ideologie des gegliederten Schulwesens ist zu einer Art Staatsreligion geworden. Demokratie ist hingegen eine Staatsform, in der auch Minderheiten einen Platz haben. Demokratie ist ein Garant der Freiheit, aber bitte der Freiheit aller. Es gibt in Bayern ohne Frage viele Menschen, die eine andere Schule als die Kastenschule haben wollen. Die christlich-soziale Union ignoriert diese Menschen. Das Grundgesetz (Art. 7) und die Bayerische Verfassung (Art. 126, 1) sehen die Erziehung des Kindes als das natürliche Recht der Eltern an. Dieses natürliche Elternrecht endet keineswegs an den Pforten der Schule. Gerade die konservativen Parteien berufen sich zur Legitimation von Sonder- und Förderschulen immer wieder auf das sog. Elternwahlrecht. Ist es rechtens, wenn Eltern von Kindern mit Behinderungen explizit das Recht auf Sonderschulen zugestanden wird, aber Eltern von Kindern, die eine inklusive schulische Bildung wünschen, das gleiche Elternwahlrecht verweigert wird? Gleiches Recht für alle Eltern! Ohne die Einrichtung von Gemeinschaftsschulen innerhalb eines pluralistischen Schulsystems können inklusionsorientierte Eltern nicht das gleiche Recht wahrnehmen. Ist die bayrische Staatsschule sich dieser Diskriminierung bewusst?
Es gibt in Bayern ohne Frage viele Menschen, die eine andere Schule als die Kastenschule haben wollen. Die christlich-soziale Union ignoriert diese Menschen.
Das philosophische Argument: Die großen Erzählungen sind gescheitert
Die Philosophie der Postmoderne ist keine in sich geschlossene, homogene Theorie, sondern eher ein Sammelbecken für unterschiedliche zeitgenössische philosophische Theorieansätze und -strömungen. Ihr gemeinsames Thema ist ein radikaler Zweifel an der Möglichkeit einer absolut gültigen Erkenntnis und einer einzigen Wahrheit. Der französische Philosoph Jean-Francois Lyotard hat Ende der 20. Jahrhundert mit der berühmten Rede vom „Ende der großen Erzählungen“ die Philosophie der Postmoderne ins Leben gerufen. Lyotard spricht nicht von theoretischen, politischen oder weltanschaulichen Systemen, sondern von Erzählungen. Seine Kernthese ist, dass alle großen Erzählungen erbärmlich gescheitert sind. Christentum, Kapitalismus, Marxismus oder Liberalismus, sie alle haben ihren absoluten Wahrheitsanspruch und ihre vollmundigen Heilsversprechen nicht einlösen können. Die Botschaft lautet daher: „Postmoderne bedeutet, dass man den Meta-Erzählungen keinen Glauben mehr schenkt“ (Lyotard). Wahrlich nicht selten haben die großen Weltanschauungen und Ideensysteme ihren Wahrheitsanspruch verabsolutiert, dabei die Grenze zum Totalitären deutlich überschritten und sind in Gesellschaft und Politik mit hegemonialen Anmaßungen und doktrinären Alleinvertretungsansprüchen aufgetreten. Die Philosophie der Postmoderne bestreitet grundsätzlich, dass es eine einzige allgemeinverbindliche Wahrheit geben kann. Sie kritisiert die großen Erzählungen wegen ihrer Ausgrenzung anderer Weltsichten und wegen der Unterdrückung nonkonformer, alternativer Meinungen und Positionen. Stattdessen entfaltet sie selbst eine hohe Sensibilität für Differenzen und Widersprüche, mahnt eine Vielfalt von Aussagen, Konzepten und Lebensformen an und plädiert für eine radikale Pluralität in Wissenschaft und Kultur, Gesellschaft und Politik. Vielfalt und Pluralität sind seither zu zentralen Begriffen eines zeitgenössischen Selbstverständnisses geworden.
Die Ideologie des gegliederten Schulwesens gehört zu jenem Typus vormoderner, unglaubwürdiger Erzählungen.
In den Sozial- und Humanwissenschaften ist eine absolute Wahrheit grundsätzlich nicht zu haben
Die Ideologie des gegliederten Schulwesens gehört ebenfalls zu jenem Typus vormoderner, unglaubwürdiger Erzählungen. Ihr Wahrheitsgehalt ist „kontingent“ (Niklas Luhmann), er kann letztlich nicht mit absoluter Sicherheit demonstriert werden, denn es könnte, wie ja die PISA-Studien belegen, auch anders sein. Es gibt nicht nur eine gute Ordnung, wie das Grundsatzprogramm „Die Ordnung“ (CSU 2016) suggeriert, sondern eben eine Vielfalt guter Ordnungen. In den Sozial- und Humanwissenschaften ist eine absolute Wahrheit grundsätzlich nicht zu haben. Bekanntlich kann heute zu fast jedem wissenschaftlichen Gutachten ohne sonderliche Mühe ein weiteres, ebenso wissenschaftliches Gutachten bestellt werden, das dann das genaue Gegenteil „beweist“. Auch die gern bemühte evidenzbasierte Empirie wird wohl niemals die strittige Dauerfrage nach der Leistungsüberlegenheit eines separierenden oder integrierenden Schulsystems klären können. Die notorische Widersprüchlichkeit der empirischen Befunde eignet sich bestenfalls dafür, neue Unsummen von Forschungsgeldern für megagroße Untersuchungen zu akquirieren, die dann wieder einmal einen anderen Befund erbringen, der dann in der allgegenwärtigen bildungspolitischen Strukturdebatte postwendend von den widerstreitenden Parteien jeweils zu eigenem Vorteil ausgedeutet wird.
Auch die gern bemühte evidenzbasierte Empirie wird wohl niemals die strittige Dauerfrage nach der Leistungsüberlegenheit eines separierenden oder integrierenden Schulsystems klären können.
Radikale Anerkennung von Vielfalt
Der radikale Zweifel an einer einzigen Wahrheit hat konsequenterweise eine radikale Anerkennung von Vielfalt zur Folge. Das einzige politische System, das der Heterogenität postmoderner Gesellschaften gerecht werden kann, ist die Demokratie! Ein Basiswert von Demokratie ist Freiheit. Freiheit für alle hat unausweichlich Vielfalt und Heterogenität zur Folge. Freie Individuen kann man nicht mehr in gleichmacherische „Uniformen“ stecken. Demokratie ist unauflöslich mit der Toleranz von Verschiedenheit und Andersartigkeit verbunden. Die Anerkennung von Freiheit ist Bedingung und Möglichkeit für ein gleichberechtigtes Miteinander und Nebeneinander unterschiedlicher Subjekte und Gruppen, persönlicher Lebenskonzepte, diverser politischer Orientierungen und religiöser Weltanschauungen.
Demokratie braucht Inklusion
In modernen, demokratischen Gesellschaften sollte dementsprechend für die Heterogenität der Schülerinnen und Schüler ein demokratisches, pluralistisches Schulsystem verfügbar sein. „Demokratie braucht Inklusion“ lautet das Amtsmotto der Bundesbehindertenbeauftragten Jürgen Dusel. Aus der Sicht der Postmoderne ist das gegliederte Schulwesen Bayerns ein vormodernes, anachronistisches System. Der Zeitgeist der Postmoderne wird gewiss in der kommenden Zeit hartnäckig an die Pforte des bayerischen Schulsystems anklopfen und Tag für Tag ein wenig mehr die Anerkennung von Heterogenität und Wertschätzung von Vielfalt einfordern. Ein zukunftsfähiges bayerisches Schulsystem braucht Pluralität in einem doppelten Sinne, nämlich eine Vielfalt der Schulformen und eine Vielfalt in den Schulen. Es sollte eigentlich bei etwas gutem Willen möglich sein, eine gleichberechtigte Koexistenz von separierenden und integrierenden Schulformen nicht allein zuzulassen, sondern im Namen demokratischer Freiheit und Toleranz ausdrücklich und voller Überzeugung zu bejahen.
Ein zukunftsfähiges bayerisches Schulsystem braucht Pluralität in einem doppelten Sinne, nämlich eine Vielfalt der Schulformen und eine Vielfalt in den Schulen.
Therapie 2: Demokratische, partizipatorische Steuerung
Die Bundesrepublik hat den Bundesländern ein wunderbares Geschenk gemacht, die sog. Kulturhoheit. Die Bundesländer können kraft ihrer exklusiven Zuständigkeit für Schule und Bildung eine weitestgehend selbstständige Bildungspolitik betreiben. Es gibt weder ein Bundesschulgesetz noch irgendwelche Vorgaben für die strukturelle Gestaltung des Schulwesens oder die inhaltliche Ausgestaltung der Lehr- und Lernpläne oder die konzeptionelle Ausrichtung der pädagogischen Arbeit. Bayern und weitere Bundesländer haben die ihnen zugestandene Kulturhoheit als Ermächtigung verstanden, umgehend eine streng zentralistische und rigide hierarchische Kultusadministration zu installieren. Die Kulturhoheit wurde kurzum in einen Kulturimperialismus umgedeutet und umgewandelt. Die Kultusverwaltung in Bayern ist in struktureller und operativer Hinsicht einem militärischen Machtapparat ähnlicher als einer administrativen Exekutive, die vom Geist der Demokratie durchdrungen wäre.
Die Kulturhoheit wurde kurzum in einen Kulturimperialismus umgedeutet und umgewandelt.
Schulen und Kommunen brauchen Freiräume
Ein modernes pluralistisches Bildungssystem braucht hingegen eine Schulverwaltung, die partizipative Mitwirkung und eigenverantwortliche Mitgestaltung auf allen Ebenen der Kultusadministration zulässt und ermöglicht. Die Kommunen und die Schulen brauchen Freiräume für eine kreative Entwicklung eigener pädagogischer Profile und für eine unerlässliche Anpassung struktureller Vorgaben, curricularer Rahmenpläne und pädagogischer Konzepte. Gute Schulen sind keine Maschinen, die nach starren Regeln pädagogische Fertigfabrikate herstellen, sondern lebendige Organismen, die mit Vernunft und Eigensinn ausgestattet sind, über erhebliche Potentiale zur Selbstorganisation und Selbstgestaltung verfügen und unverwechselbare pädagogische Entwicklungsmilieus schaffen können. Gängelungen, Reglementierungen und Überwachungen behindern die Selbstentfaltungs- und Wachstumskräfte; es braucht die Ermutigung und Ermächtigung zu einer selbstständigen Gestaltung des eigenen pädagogischen Hauses innerhalb eines flexiblen Rahmens.
Gute Schulen sind keine Maschinen, die nach starren Regeln pädagogische Fertigfabrikate herstellen, sondern lebendige Organismen, die mit Vernunft und Eigensinn ausgestattet sind
Regionalisierung der Kulturhoheit
Den wünschenswerten Aufbau einer partizipativen, demokratischen Schulverwaltung möchte ich mit der Leitidee „Regionalisierung der Kulturhoheit“ überschreiben. Diese Leitidee mag hier eine knappe, exemplarische Erläuterung erfahren. Das Kultusministerium, die administrative Zentrale, dezentralisiert nach und nach, mehr und mehr die bislang zentralisierte Kulturhoheit und lässt in bemessenem Umfang und in dosierter Form die nachgeordneten Verwaltungsebenen an der Kulturhoheit des Landes teilhaben. Regierungsbezirke, Städte, größere Kommunen und Bildungsregionen partizipieren an der Kulturhoheit und erhalten je ein Stück lokaler oder regionaler Kulturhoheit geschenkt. Umfang und Inhalte der Dezentralisierung bedürfen gewiss einer differenzierten Bestimmung, die hier jedoch nicht geleistet werden kann.
Schulentwicklung in der Bildungsregion
Ein Beispiel mag die Regionalisierung der Kulturhoheit illustrieren. In einer Bildungsregion mittlerer Größe konstituiert sich ein basisdemokratischer Wille, eine gemeinsame Gemeinschaftsschule einzurichten. Die beteiligten Stadt- und Gemeinderäte bekunden mit stabilen Mehrheiten diesen bildungspolitischen Willen. Ferner wird durch förmliche Befragungen der Wähler oder der Elternschaft ermittelt, ob die betroffenen Bürger und Eltern ebenfalls die Einrichtung einer Gemeinschaftsschule in ihrer Region wünschen. Die Bildungsregion übermittelt dem Kultusministerium nebst dem notariell belegten Bürgerwillen auch ein elaboriertes pädagogisches Konzept für die neue Gemeinschaftsschule. Nach fachlicher Überprüfung relevanter Möglichkeitsbedingungen gibt das Ministerium dann grünes Licht für eine neue regionale Gemeinschaftsschule; ein prinzipielles Vetorecht kommt dem Ministerium nicht zu!
Die zentralistische und hierarchische Kultusadministration Bayerns in ein partizipatives, demokratisches Steuerungssystem umwandeln
Das Konzept „Regionalisierung der Kulturhoheit“ muss in gediegenen fachlichen Diskursen ausdifferenziert werden und sich bewähren. Es könnte in unterschiedlichen Ausformungen und Varianten geeignet sein, die kulturpolitische Enteignung und Bevormundung der Kommunen schrittweise abzubauen. Mittelfristig besteht die Hoffnung, dass die zentralistische und hierarchische Kultusadministration Bayerns dann in ein partizipatives, demokratisches Steuerungssystem umgewandelt wird.
Der gegenwärtige Kulturimperialismus übt repressive Herrschaft aus. Er hat die Ideologie des gegliederten Schulwesens in Stein gemeißelt und mit einem absoluten Monopol ausgestattet, das auf Gedeih und Verderb durchgesetzt werden muss und jegliche alternative Schulform despotisch verbietet. Genau dieser orthodoxe und autoritäre Kulturimperialismus verdient nachhaltigen und breiten bürgerschaftlichen Widerstand; er sollte das nächste Dezennium nicht überstehen. Bayern sollte sich auf den Weg zu einem demokratischen, pluralistischen Schulsystem machen und auch inklusive Schulen zulassen. Also Schulen, die weder nach sog. Begabungstypen separieren noch Kinder und Jugendliche mit Behinderungen aussondern, exkludieren:
Eine Exklusionsgesellschaft, eine Ausschlussgesellschaft also, wäre eine undemokratische Gesellschaft. Ja: Inklusion ist ein demokratischer Begriff und eine demokratische Notwendigkeit.
H. Prantl 2017, 207
Literatur
[Schulpreis] Deutscher Schulpreis (o.J.): Was macht eine gute Schule aus? Stuttgart: https://www.deutscher-schulpreis.de/was-macht-eine-gute-schule-aus
CSU (2016): Die Ordnung. Grundsatzprogramm der Christlich-Sozialen Union. München
Foucault, Michel (2015): Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. 15. Aufl. Frankfurt a.M.: Suhrkamp
Grüttner, Roland (o.J.): Chronik der Gemeinschaftsschule Bayern. In: https://paedagokick.de
IQB (2021): IQB-Bildungstrend 2021. Berlin. In: https://www.iqb.hu-berlin.de/BT2021
Prantl, Heribert (2017): Die Kraft der Hoffnung. Denkanstöße in schwierigen Zeiten. München: Süddeutsche Zeitung
Prantl, Heribert (2018): Söder liest eine politische Messe. Süddeutsche Zeitung, 30. April 2018
Reinders, Heinz; Ehmann, Tamara; Post, Isabell; Niemack, Juliane (2015): Stressfaktoren bei Eltern und Schülern am Übergang zur Sekundarstufe. Abschlussbericht über die Elternbefragung in Hessen und Bayern 2014. Hg. v. Lehrstuhl Empirische Bildungsforschung der Julius-Maximilians-Universität Würzburg. Würzburg (Schriftenreihe Empirische Bildungsforschung, 33)
Rösner, Ernst (2010): Schulentwicklung in Denkendorf und Kipfenberg. Gutachten zur Errichtung einer Gemeinschaftsschule als Modellversuch in Denkendorf und Kipfenberg. Arnsberg: Skript
Söder, Markus (2022): “Wir drehen das große Rad”. Nürnberger Nachrichten, 4. Oktober 2022
Spiewak, Martin (2013): Von Strebern und Chaoten. DIE ZEIT, 6. Juni 2013
Wocken, Hans (2017f): Inklusion in Bayern: Stabile Fehlentwicklungen. Etikettierungsschwemme und Separationsstillstand weiterhin auf hohem Niveau In: Wocken, Hans: Beim Haus der inklusiven Schule. Praktiken – Kontroversen – Statistiken. Hamburg: Feldhaus Verlag, S. 155-169
Wocken, Hans (2021): Schulische Inklusion in Bayern. Empirische Analyse der schulischen Inklusionsentwicklung in Bayern von 2008/09 bis 2019/20. In: Wocken, Hans: Dialektik der Inklusion. Inklusion als Balance. Hamburg: Feldhaus Verlag, S. 237-282
Prof. Dr. Hans Wocken
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