Professor em. Hans Wocken hat eine fünfteilige Serie über die empirische Inklusionsentwicklung in Bayern verfasst. Im Folgenden gebe ich seinen 5. Teil wieder, in welchem er Bilanz zieht. Die anderen vier Teile stehen ebenfalls zum Download bereit (siehe unten).

Überblick
Die Untersuchungen zur schulischen Inklusionsentwicklung in Bayern sind mit dem vierten Teil an ihr Ende gekommen. Sie haben vier Etappen zurückgelegt:
Die erste Etappe
… vermittelte einen allgemeinen Überblick über die Entwicklung der schulischen Inklusion in Bayern von 2008/09 bis 2019/20. Die herausragenden Befunde waren einerseits die unkontrollierte diagnostische Etikettierung von Problem- und Risikoschülern als Schüler*innen mit sonderpädagogischem Förderbedarf („Etikettierungsschwemme“) und andererseits die unveränderte Fortsetzung der Separation in Sonderschulen („Separationsstillstand“).
Die zweite Etappe
… nahm die Inklusionsentwicklung in den bayerischen Regierungsbezirken unter die Lupe. Die Regierungsbezirke Oberbayern und Oberpfalz konnten Entwicklungen vorweisen, die vergleichsweise am ehesten noch mit der Inklusionsprogrammatik kompatibel sind. Während Schwaben, Oberfranken und Niederbayern die mittleren Ränge im bayerischen Vergleich belegen und dabei durchaus nicht zufrieden stellen können, geben die fränkischen Regierungsbezirke Mittel- und Unterfranken wegen ihrer überhöhten Separationsquote Anlass zu deutlicher Kritik.
Die dritte Etappe
… brachte dann in differenzierter Weise ans Tageslicht, in welchem Ausmaß die verschiedenen sonderpädagogischen „Fachrichtungen“ bzw. sonderpädagogischen Förderbedarfe zum Separationsstillstand bzw. zur Etikettierungsschwemme beigetragen haben. Allein die Entwicklungen der Förderschwerpunkte „Sprache“ und „Lernen“ können als verträglich mit der inklusionspolitischen Zielsetzung „Aufbau eines inklusiven Schulsystems“ angesehen werden. Völlig überraschend schießen dagegen die Zahlen sowohl für die Separation als auch für die Inklusion in den Förderschwerpunkten Körperlich-motorische Entwicklung, Sehen, Geistige Entwicklung und Emotional-soziale Entwicklung üppig ins Kraut. Den unrühmlichen Sieg in diesem Wettbewerb hat allerdings der Förderschwerpunkt Hören errungen, der seine Inklusionsquote innerhalb des Beobachtungszeitraums in kaum nachvollziehbarer Weise versechsfachen konnte!
Die vierte Etappe schließlich
… widmete sich den Verschiebungen der Förderbedarfsanteile innerhalb des gesamten Spektrums der sonderpädagogischen Förderschwerpunkte. Während in den Förderschulen Bayerns eine relative Stabilität des Förderbedarfsspektrums festzustellen war, zeigte sich in den allgemeinen, inklusiven Schulen eine deutliche und überraschende Verschiebung. Nicht wie erwartet die allgemeinen Förderschwerpunkte Lernen, Sprache und Verhalten verzeichneten innerhalb des gesamten Bedarfsspektrums Zuwächse, sondern die sog. speziellen Förderschwerpunkte Sehen, Hören, Körperlich-motorische Entwicklung und Geistige Entwicklung. Hypothetisch wurde als Ursache für die erdrutschartige Veränderung der sonderpädagogischen Tektonik das Ressourcen-Etikettierungs-Junktim angenommen. Gravierende Diagnosen zahlen sich aus und werden mit mehr Ressourcen belohnt.
Teil 5: Abschlussbilanz
Zum guten Ende sollen die inklusiven Entwicklungen in Bayern in dem elfjährigen Untersuchungszeitraum zusammenfassend kommentiert und auch subjektiv bewertet werden. Das abschließende Urteil fokussiert vor allem eine kritische Einschätzung des Beitrages, den die sonderpädagogische „Förderdiagnostik“ zu den inklusiven Entwicklungen geleistet hat.
Erhebliches Versagen der sonderpädagogischen Diagnostik
Die sonderpädagogische Diagnose von inklusionsrelevanten Förderbedarfen hat ohne alle Frage den tradierten wissenschaftlichen Gütekriterien der Objektivität, Zuverlässigkeit (Reliabilität) und Validität zu genügen. Mit Bezugnahme auf diese unstrittigen Gütekriterien muss der sonderpädagogischen Diagnostik ein erhebliches Versagen attestiert werden.
Objektivität
Die sonderpädagogische Diagnostik hat nicht in gewohnter Weise mit wissenschaftlicher Sorgfalt und Unbestechlichkeit die diagnostische Feststellung von besonderen Förderbedarfen vorgenommen, sondern ihr Handeln dem Zeitgeist und den Interessen der Auftraggeber angepasst: Sie hat zum Separationsstillstand und damit zum ungefährdeten Erhalt des Sonderschulsystems einen systemstabilisierenden Beitrag geleistet und zugleich durch eine ungezügelte Etikettierungsschwemme dem gegliederten Schulwesen Bayerns ein inklusives Feigenblatt ausgestellt. Objektiv, unabhängig, unparteilich ist solch eine einseitige Ausrichtung der diagnostischen Arbeit nicht. In der bayerischen Inklusionsreform hat sich die sonderpädagogische Diagnostik ob ihrer Dienstbarkeit für den staatlichen Auftraggeber als eine willfährige Magd des Schulsystems erwiesen.
Zuverlässigkeit (Reliabilität)
Sonderpädagogische Diagnosen müssen zuverlässig sein. Das heißt u.a., sie müssen zeitstabil sein. Die Diagnosen sollten von Zeit und Ort völlig unabhängig sein. Die Diagnosen von gestern sollen auch morgen und übermorgen noch Gültigkeit haben, und in den sieben Regierungsbezirken sollte die Messung des gleichen Förderbedarfs auch zu gleichen Ergebnissen führen.
Eine notwendige, unverzichtbare Voraussetzung für zuverlässige Diagnosen ist die zeitliche Stabilität der Merkmale „Förderbedarf“ und „Behinderung“. Hat sich etwa die psychosoziale Verfassung der bayerischen Schülerschaft real verändert? Sind die bayerischen Schülerinnen schwieriger, schwächer, unterstützungsbedürftiger, behinderter geworden? Soweit bekannt, haben sich seit 2008/09 keine epochalen Dramen und Katastrophen ereignet, die nachweislich einen nennenswerten Einfluss auf die Persönlichkeitsentwicklung der bayerischen Schülerinnen gehabt haben könnten. Es hat keine ökologische Katastrophe á la Tschernobyl gegeben, die möglicherweise gravierende Entwicklungsschädigungen durch schädigende Umwelteinflüsse hätte bewirken können. Es hat auch keine medizinischen Katastrophen á la Contergan gegeben, deren Folge genetische oder biophysische Veränderungen hätten sein können. Warum sollte sich schlagartig, mit Geltung der UN-BRK, die Realität der Förderbedarfe von heute auf morgen verändert haben?
Nein, nicht die Realität hat sich verändert, sondern verändert hat sich die sonderpädagogische Konstruktion dieser Realität.
Nein, nicht die Realität hat sich verändert, sondern verändert hat sich die sonderpädagogische Konstruktion dieser Realität. Seit 2008/09 hat sich sprunghaft, wie aus einem heiteren Himmel, die diagnostische Vermessung der behindertenpädagogischen Landschaft verändert. Von 2008/09 bis 2019/20 gibt es (in den bayerischen Förderschulen und inklusiven, allgemeinen Schulen zusammen)
- 1039 mehr Schülerinnen mit dem Förderbedarf Geistige Entwicklung (+ 9,2 Prozent);
- 498 mehr Schülerinnen mit dem Förderbedarf Körperlich-motorische Entwicklung (+ 14,8 Prozent);
174 mehr Schülerinnen mit dem Förderbedarf Sehen (+15,5 Prozent); - 1220 mehr Schülerinnen mit dem Förderbedarf Hören (+ 57,9 Prozent).

All diese Vermehrungen geschahen trotz eines allgemeinen Schülerrückgangs von etwa zehn Prozent und ungeachtet der im bayerischen Schulgesetz explizit verankerten inklusionspolitischen Zielsetzungen. Wenn Förderbedarfe im Sehen, Hören, in der Körperlich-motorischen und Geistigen Entwicklung im Jahr 2019/20 bei weitem nicht mehr das sind, was sie 2008/09 einmal waren, dann kann wahrlich nicht mehr von zuverlässigen, reliablen Messungen eines stabilen Konstrukts die Rede sein. Verändert hat sich nicht die sonderpädagogische Schülerschaft selbst, sondern verändert hat sich die diagnostische Konstruktion dieser Schülerschaft.
Und wenn die Regierungsbezirke recht unterschiedliche Quantitäten der diversen Förderbedarfe konstruieren, dann handelt es sich ebenfalls nicht um zuverlässige Messungen. Wenn ein Schüler seinen Fähigkeits- und Förderstatus allein durch einen Umzug in einen anderen Regierungsbezirk verändern kann, dann ist die Zuverlässigkeit der sonderpädagogischen Diagnosen der „Kulturhoheit“ der Regierungsbezirke zum Opfer gefallen.
Auch die prozentualen Verschiebungen der verschiedenen Förderbedarfe im gesamten Spektrum der sonderpädagogischen Förderschwerpunkte insbesondere im System der inklusiven, allgemeinen Schulen sind eben keine „objektiven“, reliablen Abbildungen der Wirklichkeit, sondern ein Indiz mangelnder zeitlicher Stabilität der Diagnosen und Konstrukte.
Validität
Diagnostische Befunde sind dann gültig, wenn sie genau das messen, was sie zu messen beabsichtigen und vorgeben. Unerlässliche Voraussetzung valider Diagnosen sind trennscharfe, inhaltlich definierte und instrumentell operationalisierte Konstrukte. Genau daran, an definierten und operationalisierten Konstrukten und Kriterien hat es die sonderpädagogische Diagnostik in der Inklusionsreform fehlen lassen. Definieren heißt dem lateinischen Wortstamm entsprechend: Grenzen setzen; genau bestimmen, was noch unter eine Definition fällt und was nicht mehr. Die sonderpädagogische Diagnostik hat im Verein mit der wissenschaftlichen Sonderpädagogik die traditionellen Behinderungskonstrukte entgrenzt, aufgeweicht, ausgedehnt und aufgebläht. Die Konturen der sonderpädagogischen Konstrukte Förderbedarf und Behinderung wurden durchlöchert, flexibilisiert, zunehmend blasser und mitunter gar randlos. Weder die Wissenschaft noch die Bildungsadministration hat harte Definitionskriterien vorgegeben und auf deren Einhaltung gepocht. In den definitionsfreien Räumen konnten dann Schulen und pädagogische Praxis ihre Interessen artikulieren und der sonderpädagogischen Diagnostik als Wünsche mitteilen.
Die sonderpädagogische Diagnostik hat im Verein mit der wissenschaftlichen Sonderpädagogik die traditionellen Behinderungskonstrukte entgrenzt, aufgeweicht, ausgedehnt und aufgebläht
Auch der Inklusionskritiker Otto Speck hat die unzulängliche begriffliche Klarheit der sonderpädagogischen Konstrukte nachdrücklich beklagt. Speck schlägt vor, den Begriff „sonderpädagogischer Förderbedarf“ auf seine ursprüngliche Bedeutung, also auf generelle Behinderungen zu beschränken und bei temporären, partiellen Lernerschwerungen von „zusätzlichem pädagogischen Förderbedarf“ zu sprechen (Speck 2019, 67 ff). Die vorgeschlagenen Begriffe sind durchaus bedenkenswert, aber sie lösen noch nicht das Problem. Ohne trennscharfe Definitionen, verbindliche Kriterien, konkrete Zuordnung von diagnostischen Verfahren und Instrumenten geht es nicht. Die Beliebigkeit und Uferlosigkeit der praktizierten Inklusionsdiagnostik ist wesentlich durch den Zerfall der definitorischen Grenzen und validen Konstrukte bedingt.
Die Kritik an der mangelnden Validität der sonderpädagogischen Diagnostik leitet über zu einer abschließenden, summarischen Beurteilung. Das Erstaunen über die Untersuchungsbefunde ist groß und will nicht enden. Wenige Anmerkungen sollen den Schluss bilden:
Werden hier nur neue diagnostische Etiketten vergeben?
Zunächst: Die Untersuchungen zur schulischen Inklusionsentwicklung in Bayern wurden in Teil 4 mit dem Konstruktivismus in Verbindung gebracht. Wie steht es um diese theoretische Erklärung? Der Untersuchungsbericht über die empirische Befundlage hat schon an mehreren Stellen, insbesondere in Teil 4, Kommentare eingefügt, die auf eine gute Passung des Konstruktivismus mit den berichteten Befunden hingewiesen haben. Der Förderschwerpunkt Lernen soll hier noch einmal aufgerufen werden, weil er auf eine recht kuriose Weise einen Beitrag zur Verträglichkeit der konstruktivistischen Erkenntnistheorie mit den empirischen Ergebnissen der vorliegenden Untersuchungen zu leisten vermag.

Der Förderschwerpunkt Lernen war 2008/09 in Bayern mit 20.715 Schülerinnen in Förderschulen der mit Abstand größte aller sonderpädagogischen Förderschwerpunkte. Innerhalb des elfjährigen Beobachtungszeitraum verlor der Schwerpunkt Lernen 2.081 „Sonderschüler“, das ist ein Verlust von zehn Prozent (Abb. 1 in Teil 3). Diesen Schülerrückgang kann man ja zunächst als eine konzeptgemäße, inklusionskonforme Entwicklung ansehen. Die ehemaligen separierten Schülerinnen mit einer „Lernbehinderung“ müssten aber dem Gesetz der kommunizierenden Röhren entsprechend in den inklusiven, allgemeinen Schulen als nunmehr inkludierte Schülerinnen mit einer „Lernbeeinträchtigung“ auftauchen, dort die Population der inkludierten Lernen-Schülerinnen verstärken und auch den relativen Anteil der Lernen-Schülerinnen innerhalb des Spektrums aller inkludierten Schülerinnen mit sonderpädagogischen Förderbedarf (Teil 4) mindestens reproduzieren. Die ehemaligen „lernbehinderten“ Schüler kommen gewiss auch in der allgemeinen Schule an; es bestehen aber einige Zweifel, ob sie dann in den inklusiven, allgemeinen Schulen auch in der Förderbedarfskategorie Lernen ankommen und klassifiziert werden. Die gesamte Faktenlage lässt den nicht beweisbaren, aber begründeten Verdacht zu, dass eine erhebliche Anzahl von „lernbehinderten“ Schüler*innen in den inklusiven Schulen nun in den Kategorien „Geistige Entwicklung“ oder „Emotional-soziale Entwicklung“ rubriziert werden.
Konstruktivismus in Aktion!
Sofern diese begründete Annahme tatsächlich berechtigt ist, werden den gleichen Schüler*innen neue diagnostische Etiketten vergeben. Die diagnostische Kategorisierung der gleichen Schüler wäre mithin nicht objektiv und reliabel, sondern in konstruktivistischen Sinne viabel. Es sieht so aus, als ob Schüler mit „Lernbehinderungen“ in einem unbekannten Umfang auch weg- und umkonstruiert wurden. Ähnliches gilt für den Förderschwerpunkt Sprache. Er verliert in elf Jahren 1580 „Sonderschüler“, gewinnt aber nur 373 „Inklusionsschüler dazu. Wie kann das angehen? Konstruktivismus in Aktion!
Sofern der Konstruktivismus für seine Grundthese, dass Erkenntnisse, Wissen und Begriffe nicht objektive Abbildungen der Wirklichkeit, sondern subjektive kognitive Konstruktionen sind, benötigen sollte, kann die sonderpädagogische Diagnostik eine reichhaltige Palette an selbstgefertigtem Anschauungs- und Beweismaterial anbieten.
Noch eine weitere rätselhafte Kuriosität
In Meinungsumfragen bekunden Lehrer wie Eltern gleichermaßen, dass sie sich insbesondere die Inklusion von Schülerinnen der Förderbedarfe „Geistige Entwicklung“ und „Sozial- emotionale Entwicklung“ nicht gut vorstellen können und als problematisch oder schwierig einschätzen (Hollenbach-Biele /Klemm 2020). Nun erleben ausgerechnet diese beiden Förderschwerpunkte in der Inklusionsreform beachtliche Zuwächse. Und das, obwohl die beiden Förderschwerpunkte „Geistige Entwicklung“ und „Sozial-emotionale Entwicklung“ auch schon in den Förderschulen kräftig zulegen. Wie kann man diese Gleichzeitigkeit von Entwicklungen, die nicht zueinander passen wollen, verstehen und begreifen? Werden in der Inklusion Schülerinnen mit den Förderbedarfen „Geistige Entwicklung“ und „Emotional-soziale Entwicklung“ nun a) von den Schulen gegen ihre eigene Überzeugung der Nichtintegrierbarkeit aufgenommen? Oder werden b) nun mehr Schülerinnen den beiden Förderschwerpunkten diagnostisch zugeordnet und entsprechend kategorisiert, um recht drastisch den Notstand der pädagogischen Praxis öffentlich zu machen? Wir wissen nicht, was „wahr“ ist. Die berühmte Frage des römischen Statthalters Pontius Pilatus „Was ist Wahrheit?“ können wir nicht beantworten, weil der radikale Konstruktivismus die Möglichkeit einer objektiven, wahren Erkenntnis verneint.
Wir wissen nicht, was „wahr“ ist.
Das Vertrauen in eine objektive, zuverlässige, valide Diagnostik von Förderbedarfen ist gründlich erschüttert, selbst bei speziellen, gravierenden Behinderungen. Der gern gepflegte Nimbus der wissenschaftlichen Exaktheit ist dahin. Auch spezielle Behinderungen sind offensichtlich Förderbedarfe, die nicht allein mit allerlei objektiven Instrumenten gemessen, sondern von Menschen subjektiv konstruiert werden. Die Hoffnung, man könne mit einer naturwissenschaftlich inspirierten Diagnostik das Ausufern von diagnostischen Etikettierungen verhindern oder doch mindestens einschränken, ist trügerisch und verflogen. Eine elfjährige Fehlentwicklung hat diese Hoffnung unwiederbringlich zerstört.
Man kann und muss die Untersuchungsbefunde wohl auch als ein schwerwiegendes Versagen der (sonder)pädagogischen Diagnostik lesen. Die (sonder)pädagogische Diagnostik in Bayern hat vor allem
- erstens nicht den Anstieg der Förderschülerzahlen in den Förderschulen verhindern können – trotz Inklusion. Und sie hat
- zweitens nicht den progredienten, überproportionalen Anstieg von Förderbedarfen in den allgemeinen Schulen aufhalten können.
Die sonderpädagogischen Metamorphosen sind konstruiert
Beide Fehlentwicklungen, sowohl das Mehr an Separation als auch das Mehr an Förderbedarfen, haben nichts, wirklich nichts mit realen Veränderungen in der Schülerschaft zu tun. Die sonderpädagogischen Metamorphosen sind hausgemacht, konstruiert. Natürlich ist die sonderpädagogische Diagnostik nicht der alleinige Akteur und der alleinige Verantwortliche, aber sie hat mitgemacht. Die sonderpädagogische Diagnostik und niemand anders hat die Förderbedarfs-und Behinderungsdiagnosen erstellt, und deshalb ist sie auch mitverantwortlich. Sie hat der Versuchung, durch mehr Diagnosen die Sonderschule zu stabilisieren und durch mehr Etikettierung die Ressourcen der inklusiven Schulen aufzubessern, keinen wirksamen Widerstand entgegengesetzt. In der gegenwärtigen Verfassung wird die sonderpädagogische Diagnostik weithin als Ressourcenbeschaffungsdiagnostik instrumentalisiert und missbraucht. Diese Ressourcenbeschaffungsdiagnostik ist ein schleichendes, tödliches Gift und treibt die Inklusionsentwicklung letztlich in den Ruin. Alle wissenschaftlichen Fachrichtungen der Sonderpädagogik sind aufgerufen, reinen Tisch zu machen und nachzuforschen, was in den eigenen Reihen an Etikettierungsprozessen in der Inklusionsentwicklung falsch läuft.

Ein „Weiter so!“ kann und darf es nicht geben. So läuft die Inklusionsreform absehbar aus dem Ruder und schaufelt sich selbst das Grab (Wocken 1996). Es ist schon paradox: Im Jahre 2008, vor der Ratifizierung der BRK, stand die schulische Inklusion in Bayern besser da als heute. Ohne die ganze, elfjährige Inklusionsreform wäre Bayern heute vermutlich inklusiver; es gäbe weniger Separation in Sonderschulen und weniger beschämende Etikettierungen „normaler“ Schüler als „besonders“. Faktisch hat die Inklusionsreform die Separation nicht gemindert und die Sonderschulen nicht schrumpfen lassen, sondern ganz im Gegenteil die sonderpädagogischen Reviere sogar noch vergrößert. Inklusion paradox: Bayern hat es verstanden, die Forderung nach Inklusion in ein Mehr an Separation umzulenken.
Inklusion wird geduldet, solange sie das System der Separation nicht irritiert oder gar ernsthaft in Frage stellt
Die bayerische Bildungspolitik hat seit der Nachkriegszeit die institutionelle Separierung von begabungsverschiedenen Schulformen zu einem absoluten, unhinterfragbaren Dogma erhoben. Ein glaubwürdiger Sinneswandel ist auch seit der Ratifikation der UN-BRK nicht erkennbar. Dem bayerischen Bekenntnis zur schulischen Inklusion fehlt es schlichtweg an Glaubwürdigkeit. Wiewohl mitunter verbal bekundet, ist Inklusion kein ernsthaftes bildungspolitisches Anliegen. Das System der Separation definiert verbindlich, ob, wieviel und welche Inklusion statthaft ist. Inklusion wird geduldet, solange sie das System der Separation nicht irritiert oder gar ernsthaft in Frage stellt.
Der historisch tief verwurzelte und strukturell verankerte Separatismus der bayerischen Bildungspolitik (Klafki 1976) hat allen inklusiven Lippenbekenntnissen zum Trotz genau jene Ergebnisse produziert, die mit dem System der Separation kompatibel und ihm genehm sind. Der Beweis, dass Bayern wirklich Inklusion kann und will, steht aus. Es ist höchste Zeit, aber es ist noch Zeit.
Literatur
[BRK] Vereinte Nationen (2009): Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen. (Behindertenrechtskonvention). Schattenübersetzung des Netzwerk Artikel 3 e.V. Berlin
[KMB 2019] Kultusministerium Bayern (2019): Sieben Modellregionen setzen sich für Inklusion an Schulen ein. (10.12.2019). München. In: http://www.km.bayern.de/ …
Hollenbach-Biele, Nicole /Klemm, Klaus (2020): Inklusive Bildung zwischen Licht und Schatten. Eine Bilanz nach zehn Jahren inklusiven Unterrichts. Gütersloh: Bertelsmann-Stiftung
Klafki, Wolfgang (1976): Restaurative Schulpolitik 1945-1950 in Westdeutschland – Das Beispiel Bayern. In: Aspekte kritisch-konstruktiver Erziehungswissenschaft. Gesammelte Beiträge zur Theorie-Praxis-Diskussion. Weinheim. S. 253-299
Speck, Otto (2019): Dilemma Inklusion. Wie Schule allen Kindern gerecht werden kann. München, Basel: Reinhardt
Wocken, Hans (1996): Sonderpädagogischer Förderbedarf als systemischer Begriff. In: Sonderpädagogik, 26, S. 34-38
Wocken, Hans (2014a): Verkehrte Inklusion: Über die ungerührte Fortsetzung der Separation und die ungeziemende Eingemeindung der Nichtbehinderten. Eine statistische Analyse der schulischen Inklusionsentwicklung in Bayern In: Bayern integriert Inklusion. Über die schwierige Koexistenz widersprüchlicher Systeme. Hamburg: Feldhaus Verlag, S. 63-81
Wocken, Hans (2014b): Bayern integriert Inklusion. Über die schwierige Koexistenz widersprüchlicher Systeme. Hamburg: Feldhaus Verlag
Wocken, Hans (2017): Inklusion in Bayern: Stabile Fehlentwicklungen. Etikettierungsschwemme und Separationsstillstand weiterhin auf hohem Niveau In: Wocken, Hans (Hrsg.): Beim Haus der inklusiven Schule. Praktiken – Kontroversen – Statistiken. Hamburg: Feldhaus Verlag, S. 155-169
Wocken, Hans (2019): Das Scheitern der Pseudo-Inklusion. Beklagte Misstände, unangenehme Wahrheiten und dringliche Umsteuerungen. In: Wocken, Hans (Hrsg.): Die AUCH-Inklusion. Standpunkte – Praktiken – Horizonte. Hamburg: Feldhaus Verlag, S. 9-16
Die 5 Teile als PDF-Dateien
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