Kürzlich im Internet:

In diesem post stecken sehr viele Emotionen, die repräsentativ für viele Beteiligte zu sein scheinen. Es würde kaum helfen, ebenso emotional zu antworten, deshalb erst ein kurzer Blick auf das Menschenrecht, dann auf den Unterricht.
Inklusion als Menschenrecht
Immerhin ist sich die Verfasserin dieser Aussage darüber im Klaren, dass es sich bei der Inklusion um ein Menschenrecht handelt. Hier die entsprechende Aussage der UN-Behindertenrechtskonvention:
(2) Bei der Verwirklichung dieses Rechts stellen die Vertragsstaaten sicher, dass…
- Menschen mit Behinderungen nicht aufgrund von Behinderung vom allgemeinen Bildungssystem ausgeschlossen werden und dass Kinder mit Behinderungen nicht aufgrund von Behinderung vom unentgeltlichen und obligatorischen Grundschulunterricht oder vom Besuch weiterführender Schulen ausgeschlossen werden;
- Menschen mit Behinderungen gleichberechtigt mit anderen in der Gemeinschaft, in der sie leben, Zugang zu einem integrativen, hochwertigen und unentgeltlichen Unterricht an Grundschulen und weiterführenden Schulen haben;
Interpretationsfragen
Die Interpretation dieser Aussagen ist zuweilen strittig, deshalb hier noch die Auslegung durch den UN-Fachausschuss und die Monitoringstelle:
2015 hatte der zuständige UN-Fachausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen (CRPD) in seinen Empfehlungen zum ersten Staatenbericht Deutschlands in Bezug auf die Umsetzung von Artikel 24 angemahnt, „im Interesse der Inklusion das segregierte Schulwesen zurückzubauen“. Ebenfalls 2015 hat der UN- Fachausschuss in seinem Kommentar zum Recht auf inklusive Bildung eindeutig klar gemacht, dass es kein Elternwahlrecht gibt und der Erhalt des Förderschulsystems nicht mit der Konvention vereinbar ist. Die Monitoring-Stelle UN-Behindertenrechtskonvention am Deutschen Institut für Menschenrechte verweist regelmäßig in ihrer Funktion als unabhängige Beratungsstelle für die Umsetzung der UN-BRK auf die eklatanten Umsetzungsdefizite in den Bundesländern.
Um also auf die Frage der Verfasserin der oben zitierten Aussage zu antworten: Da steht es geschrieben -> UN-Fachausschuss und Monitoringstelle sagen, dass das Menschenrecht nicht dadurch erfüllt wird, dass sich die Kinder den Pausenhof teilen.
Dass die Verfasserin sich vermutlich fragt, wie das gehen soll in diesem System, ist vollkommen berechtigt. Es fehlen einfach die Voraussetzungen. Aber die UN-BRK legt ja gerade fest, dass die Systemverantwortlichen diese Voraussetzungen schaffen sollen. Was sie nicht tun.
Nun zur Frage, wie die neue Hattiestudie The Sequel das Ganze sieht.
Wie sieht die Meta-Metastudie die Inklusion?
Grundlegende Info 1: Hatties Folgestudie verarbeitet über 2100 Metastudien, denen ihrerseits über 130 000 Einzelstudien an insgesamt über 200 Millionen Schülerinnen und Schüler zugrunde liegen. Das ist ein bemerkenswerter Umfang, der schon in der ersten Ausgabe die Times zu der Bemerkung veranlasste, hier sei der “Heilige Gral des Unterrichtens” gefunden worden.
Grundlegende Info 2: Hattie befasst sich in diesem Kapitel nicht mit der Menschenrechtsfrage. Es geht ihm – in bewusster Selbstbeschränkung – nur um die Frage: “Was wirkt im Unterricht?”
Wir betrachten zunächst Hatties Thermometerdarstellung (S. 192):
Aus dieser Darstellung lassen sich die folgenden Informationen herauslesen:
Links steht mit R = 5 ein Hinweis auf die Robustheit des Ergebnisses. Die Skala geht von 1 (gering) bis 5 (hoch), in diesem Fall also sind die Aussagen sehr gut belastbar.
0.52 im Oval ist die Effektstärke. Der Durchschnitt aller im Buch beschriebenen Effektstärken liegt bei 0.40 (= hinge point, Angelpunkt). Mainstreaming/inclusion wirkt – grob betrachtet – also sehr stark positiv auf die Leistung aller Lernenden in einer Klasse.
# meta = 11 verweist auf die Anzahl der verwendeten Metastudien,
# studies = 445 auf deren zugrundeliegende Einzelstudien,
est. # people = 4,868,670 auf die Gesamtzahl von Studienteilnehmern,
# effects = die Anzahl der Erwähnungen genau dieses Effekts,
se = 0.07 beschreibt die Standardabweichung.
Hattie schreibt also inklusiven Maßnahmen eine durchschnittliche Effektstärke von d = 0.52 und damit eine hohe Wirksamkeit zu. Dieser Wert bekommt die höchste Robustheit zugesprochen, auch deshalb, weil er auf 11 Metastudien an insgesamt fast fünf Mil-lionen Einzelstudienteilnehmern beruht.
So all benefit
John Hattie bezieht sich, wie gesagt, mit keiner Silbe auf die bei uns laufende Menschenrechtsdebatte, sondern betrachtet die Inklusion rein aus der Fragestellung heraus, ob sie im Unterricht funktioniert oder nicht. Dazu schreibt er ein paar eher kurze Ausführungen.
Es gab in den Jahren 1970 bis 1990 eine starke Bewergung hin zu mehr Inklusion – hier: mainstreaming -, und aus dieser Zeit stammen auch die meisten Metastudien. Den neueren Studien entnimmt Hattie die Erkenntnis, dass special-needs students dem Vorankommen der Mitschüler:innen in einer Regelklasse nicht nur nicht schaden, sondern es sogar befördern können, wenn die Lehrerinnen und Lehrer den Unterricht entsprechend gestalten:
But how are students without special needs affected by the presence of special-needs students? *Szumski et al. (2017) found a d = 0.12 across nonspecial-needs students; thus, the presence of students with special educational needs positively impacted all students. This advantage was similar across all levels of schooling, re-gardless of whether the special needs were mild or severe. Similarly, *Ahmad (2016) specifically investigated the effect on mathematics and reported a d = 0.38 increase for students with special needs and d = 0.81 for those without special needs. So all benefit. (S. 192)
Die Ursache für diesen doppelten Nutzen liegt nach seiner Erkenntnis darin, dass es allen Schülerinnen und Schülern zugute kommt, wenn die mit den speziellen Bedürfnissen von Anfang an mitbedacht werden: Alle haben den Aufbau von learning skills nötig, alle müssen Ich- und Wir-Stärke entwickeln, alle sollen das Zusammenarbeiten lernen, so dass die Behauptung zutrifft
that what works best for all students may not work for students with special needs, but what works for students with special needs work best for all students. (S. 193)
Eine neuere Studie (Mitchell and Sutherland 2020) identifizierte dieselben effektiven Strategien, die für alle Schülerinnen und Schüler günstig sind:
behavioral strategies (DI, review and practice, formative assessment, feedback), social strategies (cooperative group, peer tutoring, social skills training, classroom climate), cognitive strategies (self-regulated learning, memory strategies compre-hension strategies), and mixed strategies (assistive technology, early intervention, RTL, universal design). (S. 193)
Grouping and labelling
Hattie sieht die gute schulische Entwicklung von special-needs students noch von einer anderen Seite her bedroht, wenn er Gruppierungen infolge von Etikettierungen kritisiert:
Grouping, thus, can lead to a particularly invidious form of low expectations, leading to nasty negative effects from labeling or grouping students. These low expectations lead to questions about why these students cannot learn, engage, and be successful. For example, the label “learning difficulties” can lead to low performance expectations. (S. 223)
Natürlich ist ihm das Dilemma bewusst, dass man bei allen Schülerinnen und Schülern die Lernausgangslage erst einmal diagnostizieren und dann auch definieren muss. Der Schritt zur Etikettierung ist dann nicht mehr weit. Er hält aber fest, dass eine Diagnose immer nur der erste Schritt sein könne und niemals der letzte sein dürfe und verweist auf die Verantwortlichen in Singapore, die sich solchen Etiketten verweigern und allgemeiner von low-progress students sprechen (S. 224). Das ist zwar auch ein Etikett, allerdings ein viel allgemeineres.
Ergänzend nimmt er hier noch einmal das Beispiel Italien auf, dem Land, das festgelegt hat, dass alle Schülerinnen und Schüler nach dem gleichen Curriculum und mit derselben Qualität und Quantität unterrichtet werden müssen.
Dann zieht er zur Vermeidung der negativen Effekte von Etikettierungen noch zwei Linien ins Allgemeine:
Wir müssen entweder dafür sorgen, dass Etiketten nur zur Diagnose und zur Beschreibung besonderer Lernprobleme verwendet, aber niemals einem Kind angeheftet werden dürfen. Oder wir legen fest, dass jedes Kind im Lernen vorangebracht (accelerated) werden muss und ihm ein gut begründetes und auf Vorankommen basierendes Unterrichtsprogramm offen steht (S. 224).
Fazit
John Hattie spricht sich – immerhin in der größten uns bekannten Metastudie! – für eine Schule aus, in der die behinderten Kinder grundsätzlich inkludiert sind und ihre Anwesenheit für alle Schülerinnen und Schüler im gemeinsamen Unterricht pädagogisch fruchtbar gemacht wird. Gruppierungen aufgrund von Etikettierungen lehnt er ab.
Zurück zum Anfang
Die Person, die den oben zitierten post abgesetzt hat, ist erbost über die “radikale Form” in der das Menschenrecht umgesetzt werden soll. Das offenbart ein Haltungs- und ein Systemproblem, die beide miteinander zusammenhängen und sich gegenseitig verstärken.
Haltung:
Wer in einem Schulsystem wie dem bayerischen groß geworden ist, kann sich – egal, ob als Schüler:in, Lehrer:in, Vater oder Mutter – bis in das Menschenbild hinein nichts anderes vorstellen, als die gegebenen homogenisierten Schularten. Die laut staatlicher Propaganda auch erfolgreicher sind als die jeden anderen Bundeslandes, wobei ein Blick auf die sozioökonomischen Hintergründe und die Zahlen der Migrantenkinder deutlich zeigen würde, dass die Voraussetzungen einfach unterschiedlich sind, so dass der Vergleich a la Bildungstrend etc. in die Irre führt, wie Professor em. Hans Wocken in seinem Beitrag nachgewiesen hat.
System:
Wer in diesem strikt auf homogene Gruppen ausgerichteten System selbst unterrichtet wurde und später als Lehrer:in selbst unterrichtet, kann sich nicht nur schlecht vorstellen, “radikale” Inklusion zu betreiben, er oder sie kann es auch objektiv nicht! Man kann keiner Lehrkraft mit um die 25 Kindern/Jugendlichen in der Klasse zumuten, ein Inklusionskind dazu zu nehmen, weil es weder diesem, noch den anderen in der Klasse gerecht werden kann – solange man nicht eine einschlägig ausgebildete Fachkraft zur Unterstützung des gesamten Lernprozesses zur Verfügung hat. Das ist in Bayern, um es freundlich auszudrücken, nicht unbedingt gegeben.
Die immer zahlreicher werdenden Schulen mit dem Profil Inklusion sind – das ist jetzt eine reine Meinungsäußerung – der nicht von allen Verantwortlichen und vielleicht gut gemeinte Versuch, das Inklusionsanliegen der UN-BRK zu erfüllen und gleichzeitig an der Separation der Schularten festzuhalten. Was ja – siehe oben – vom UN-Fachausschuss und der Monitoringstelle als Umsetzungsdefizit gesehen wird.
So verstärken sich also die inklusionsfeindliche Struktur und die inklusionsskeptische Haltung vieler Lehrer:innen und mancher Verbände gegenseitig und halten uns in Bayern weiter auf dem falschen Weg.
Ich sehe als gute Möglichkeit den Weg an, der mit dem Jakob-Muth-Preis ausgezeichnet wurde: die “Förderschule ohne Schüler”.
Gast #29: “Ein graues, geheimnisumwittertes Papier”