Was macht eine gute Lehrkraft aus?

Nicht ganz so wie John Hattie mit seiner weltberühmten Studie, der fragte: “Was wirkt im Unterricht?”, aber doch so ähnlich: Jason Anderson von der Uni in Warwick (UK) und Gülden Taner (Uni Ankara, Türkei) haben über 100 einschlägige empirische Studien unter der Fragestellung betrachtet: “Was macht eine gute Lehrkraft aus?” Sie wollen ihre Erkenntnisse nicht als Checklist (miss)verstanden wissen, sondern als Hinweis auf Eigenschaften, die erfahrenen Lehrkräften (expert teachers) gemeinsam sind.

[Nachtrag: Die neue Hattiestudie hält dazu auch wieder einige interessante Aspekte bereit.]


Anderson, J. & Taner, G. (2023). Building the expert teacher prototype: A metasummary of teacher expertise studies in primary and secondary education. Educational Research Review 38, 100485. doi:10.1016/j.edurev.2022.100485


Mehr als 100 Studien zu erfolgreichen Lehrer:innen

Die Autor:innen der vorliegenden Metastudie wählten als Grundlage nur solche Studien aus, die sich mit dem Können von Lehrkräften (auf der Primar- und Sekundarstufe) befassten und die folgenden Kriterien für Expertise erfüllten:

(1) Ausreichende Erfahrung, damit sich Fachwissen entwickeln kann (Mindestpraxis von 5 Jahren);

(2) Weitere Marker für Expertise – unter anderem soziale Anerkennung (z. B. Nominierung durch wichtige Interessenvertreter), Leistungskriterien (z. B. Lernerfolg, Erhalt von Lehrerauszeichnungen) und berufliche/gesellschaftliche Gruppenzugehörigkeit (z. B. Status als Lehrerausbilder).

Daraus ergab sich eine Auswahl von insgesamt 106 Studien mit einer Entstehungszeitspanne von 39 Jahren, geografisch weltweit gesteckt, allerdings mit einem Schwerpunkt von 59 Prozent auf den USA. Insgesamt lagen den Studien die Beobachtung von 1124 expert teachers zugrunde.

Diese Studien wurden von dem Autorenpaar auf Gemeinsamkeiten durchforstet: Welche Eigenschaften versierter Lehrkräfte tauchten immer wieder auf? Und in welcher Häufigkeit? Dann wurde eine Liste dieser Eigenschaften zusammengestellt, in die nur solche aufgenommen wurden, die in mindestens fünf Studien beobachtet worden waren. Daraus ergab sich eine Liste von 73 Eigenschaften guter Lehrer:innen (in der Metastudie als expert teachers bezeichnet).

Diese werden wie folgt beschrieben [interpretierende Übertragung von mir].


Gute Lehrkräfte kennen ihr Fach und Ihre Schüler:innen

Kompetente Lehrkräfte verfügen über ein gut entwickeltes Wissen in vielen Bereichen. An erster Stelle steht ihr pädagogisches Wissen, das, auch wenn die Definitionen in der Literatur etwas variieren, ein zentrales Merkmal zu sein scheint (beschrieben in 17 Studien). Das pädagogische Wissen der expert teachers beinhaltet ein umfassendes Fachwissen ebenso wie ein umfangreiches Wissen über ihre Schüler:innen (16 Studien), sowohl im Allgemeinen (Kenntnis von Merkmalen verbreiteter Lerntypen) als auch in Bezug auf bestimmte Personen (z. B. Wissen über deren persönliche Bedürfnisse und Herausforderungen). Sie kennen natürlich auch die Anforderungen des Lehrplans.

Gute Lehrkräfte können mit Unterrichts-Problemen umgehen

Die Untersuchungen deuten darauf hin, dass versierte Lehrpersonen ein ausgeprägtes Bewusstsein für das Geschehen im Klassenzimmer haben, z. B. für das Verhalten der Lernenden, ihre Fortschritte und ihren Unterstützungsbedarf (so die Ergebnisse von 12 Studien). Dies ist eng mit dem Hauptanliegen verbunden, nämlich dass die Schüler bei der Sache sind und lernen. Wahrscheinlich aufgrund ihrer umfassenden Kenntnisse über die Lernenden sind gute Lehrer:innen in der Lage, mögliche Probleme vorherzusagen und den Unterricht von vorneherein so anzulegen, dass sie vermieden werden.

Da sie über ein breites Spektrum an automatisierten kognitiven Prozessen und Heuristiken verfügen (z. B. spezifische Möglichkeiten, auf Ereignisse zu reagieren oder Unterrichtsphasen zu bewältigen), sind sie in der Lage, mit Unerwartetem effektiv umzugehen und infolgedessen fundierte Entscheidungen zu treffen. In der Fachliteratur wird dies auch als “progressive Problemlösung” bezeichnet: Wenn sie mit dem Unerwarteten konfrontiert werden, lernen sie aus ihren Versuchen und Improvisationen.

Gute Lehrkräfte bauen Beziehungen auf und übernehmen Verantwortung für die Lernenden

Bild von 14995841 auf Pixabay

Gute Lehrerinnen und Lehrer sind der Überzeugung, dass es wichtig ist, gute Beziehungen zu den Lernenden aufzubauen (so erwähnt in 9 Studien), sie während der gesamten Unterrichtsstunde einzubeziehen und jeden Lernenden als Individuum zu behandeln und sich seiner unterschiedlichen Bedürfnisse und persönlichen Lebensverhältnisse bewusst zu sein.

Diese zwischenmenschliche Haltung wird durch zwei weitere Überzeugungen untermauert: das Gefühl einer moralischen Pflicht oder Mission gegenüber den Lernenden und die Notwendigkeit, die Entwicklung der Lernenden als Menschen und zukünftige Bürger zu fördern; dafür sehen sie sich auch mit in der Hauptverantwortung.

Weiterhin verfolgen gute Lehrkräfte eine konstruktivistische Bildungstheorie, der gemäß Schüler:innen keine tabula rasa sind, sondern unterschiedlichste Erfahrungen mitbringen, auf denen sie ihr eigenes Verständnis eines Themas aufbauen müssen. Außerdem setzen sie hohe Standards für ihre Lernenden und haben hohe Erwartungen an deren Fähigkeiten.

Gute Lehrkräfte haben auch hohe Erwartungen an die Kinder und Jugendlichen. Bild von Gerd Altmann auf Pixabay

Weitere sieben Überzeugungen, die den Schwellenwert knapp verfehlten (Erwähnung in jeweils 4 Studien), bezogen sich ebenfalls auf Fragen der zwischenmenschlichen Praxis (z. B. Respekt für die Lernenden, Aufbau einer starken, stabilen Lerngemeinschaft) und damit verbundene Werte (z. B. Vermeidung der Schuldzuweisung an die Lernenden für ihre Unzulänglichkeiten und Aufbau des Selbstwertgefühls der Lernenden), was alles auf sehr klare Belege für die zwischenmenschliche Dimension und einen moralischen Imperativ im Kern der Überzeugungssysteme von Lehrerexperten hinweist.

Gute Lehrkräfte haben Leidenschaft für ihre Fächer und ihre Schüler:innen

Drei persönliche Eigenschaften von guten Lehrkräften stachen aus dem Datensatz hervor (alle in 12 Studien erwähnt): ihre Leidenschaft für ihren Beruf und ihre Arbeit, ein positives Selbstverständnis und Belege dafür, dass sie sich um ihre Lernenden kümmern oder sie lieben.

Gute Lehrer:innen sind da, wenn ihre Schüler:innen durch ein Tief gehen. Bild von Gerd Altmann auf Pixabay

Zwei weitere Attribute aus dem Datensatz waren der starke Wunsch der Lehrer, erfolgreich zu sein (Berichte über “Ehrgeiz” und “Motivation” wurden unter diese Kategorie subsumiert), und ihre Widerstandsfähigkeit und Ausdauer angesichts von Herausforderungen; beides belegt ihre Leidenschaft für ihre Arbeit und die ihnen anvertrauten Kinder und Jugendlichen.

Knapp unter dem Schwellenwert (mit Erwähnung in jeweils 4 Studien) lagen mehrere verwandte Merkmale: Leidenschaft für das spezifische Fach, das sie unterrichten, Freude am Unterrichten und eine optimistische Weltsicht.

Gute Lehrer:innen sind selbstkritisch, bilden sich weiter und arbeiten viel mit Kolleg:innen zusammen

Die Professionalität von guten Lehrer:innen zeichnet sich durch drei miteinander verbundene und sehr gut belegte Themen aus: Reflexion, Weiterlernen und Zusammenarbeit. In Bezug auf das erste Thema wurde (in 21 Studien) festgestellt, dass solche Lehrkräfte häufig umfassend und kritisch reflektieren, das heißt, sie problematisieren und hinterfragen ihre eigene Praxis.

In Bezug auf das Weiterlernen gibt es in den Daten starke Hinweise darauf, dass solche Lehrpersonen während ihrer gesamten Laufbahn den Wunsch haben, sich ständig zu verbessern und dazu zu lernen (16 Studien), oft durch Engagement in beruflicher Weiterbildung und berufsbegleitender Qualifikationen und häufig auch durch die Zusammenarbeit mit Kolleg:innen.

Dieses Interesse an Kooperation manifestiert sich sowohl direkt als auch indirekt. Direkt zeigt es sich zum Beispiel in der Teilnahme an professionellen Lerngemeinschaften. Indirekt dadurch, dass versierte Lehrkräfte häufig Kollegen helfen (16 Studien) und eine Reihe von Unterstützungsmaßnahmen anbieten, wie z. B. Mentoring; daneben sind sie auch in formalisierten Lehrerausbildungs- und Führungspositionen zu finden. Sie tauschen regelmäßig Materialien und/oder Ideen mit Kollegen aus.

Gute Lehrerinnen sind lebenslange Weiterlerner. Bild von Gerd Altmann auf Pixabay

Pädagogische Praxis

Gute Lehrkräfte sind sorgfältige und flexible Unterrichtsplaner

Die Belege für die Planungspraktiken der guten Lehrkräfte deuten erstens darauf hin, dass sie sorgfältig planen, wenn auch nicht unbedingt in schriftlicher Form (einige planen u.U. vollständig im Kopf), und zweitens, dass sie bei der Planung die Bedürfnisse der Lernenden berücksichtigen (beobachten 12 Studien), ohne jedoch langfristige (z. B. curriculare) Ziele zu übersehen. In scheinbar paradoxer Weise werden versierte Lehrer:innen häufig als flexible Planer beschrieben, die sich bewusst sind, dass sie bei Bedarf die Richtung im Unterricht ändern müssen. In Bezug auf die Materialvorbereitung kristallisierten sich zwei Themen heraus: dass sie regelmäßig Materialien aus dem Kerncurriculum (z. B. Lehrbücher) anpassen und dass sie diese mit eigenen Materialien oder Aktivitätstypen ergänzen.

In Bezug auf die Strukturierung des Unterrichts zeigt eines der am häufigsten genannten Themen im Datensatz, dass erfahrene Lehrkräfte – trotz ihrer sorgfältigen Planung – in der Lage sind, während des Unterrichts flexibel zu sein, zu improvisieren und angemessen auf den Lernprozess zu reagieren, was in der Literatur häufig als “adaptive Expertise” bezeichnet wird (Grundlage: 20 Studien). Dies wird durch ihre regelmäßig berichtete Fähigkeit erleichtert, interaktiv zu reflektieren (d. h. noch während des Unterrichts). Diese Flexibilität bedeutet jedoch nicht, dass der Unterricht dieser Lehrer:innen nicht strukturiert wäre – es gab auch deutliche Hinweise darauf, dass sie über klare Routinen und Verfahren verfügen, insbesondere die Kolleg:innen in der Primarstufe, und dass die eingesetzten Lernaktivitäten nicht zusammenhanglos erfolgen, sondern dem Entwicklungsstand der Lernenden entsprechen.

Es wurde auch festgestellt, dass der Unterricht versierter Lehrkräfte eine hohe “time-on-task” aufweist, das heißt, es wird viel Zeit mit Lernaktivitäten verbracht, weniger mit administrativen oder verhaltensbezogenen Ablenkungen (vgl. Hattie, 2009: Effektstärke d = 0.49, das heißt leicht überdurchschnittlich).

Gute Lehrkräfte schaffen eine positive Unterrichtsatmosphäre in wechselnden Sozialformen

Entsprechend ihrer Überzeugung von der Bedeutung zwischenmenschlicher Beziehungen schaffen die expert teachers ein positives, unterstützendes Lernumfeld (12 Studien), entwickelten enge Beziehungen zu den Lernenden und pflegen gegenseitigen Respekt und Vertrauen innerhalb der Klassengemeinschaft. Diese zwischenmenschlichen Fähigkeiten zeigen sich in ihrer Sensibilität für die emotionale Atmosphäre im Klassenzimmer und in der Fähigkeit, mögliche Störungen zu antizipieren, bzw. zu verhindern.

In engem Zusammenhang mit ihren zwischenmenschlichen Fähigkeiten – möglicherweise als Folge davon – wurde festgestellt (17 Studien), dass erfahrene Lehrkräfte die Lernenden häufig durch die Wahl spezifischer Aktivitäten, Strategien oder Praktiken intensiv in den Lernprozess einbinden und das Lernen zu einem Erlebnis machen, auch durch ihren Humor und intrinsisch motivierende Aktivitäten.

In Bezug auf die Interaktionsdynamik im Klassenzimmer gibt es in 12 Studien deutliche Hinweise darauf, dass die versierten Lehrer:innen regelmäßig von kooperativen Lernformen (Gruppen- und Partnerarbeit) Gebrauch machen. Daneben gibt es auch lehrerzentrierte Phasen, also Frontalunterricht, der jedoch durch individuelle Lernphasen ausgeglichen wird.

Sowohl bei der Einzelarbeit als auch bei der Partner- und Gruppenarbeit wurde häufig beobachtet, dass die expert teachers das Lernen aktiv überwachen, im Klassenzimmer umhergehen und individuelle Unterstützung anbieten, während sie gleichzeitig den Fortschritt bewerten und die Lernenden bei der Stange halten. Auf diese Weise individualisieren sie das Lernen und sind in der Lage, einen differenzierten Unterricht anzubieten, der den individuellen Bedürfnissen, Interessen oder Herausforderungen der Lernenden gerecht wird.

Es gibt lehrerzentrierte, individuelle und kollaborative Lernphasen. Bild von svklimkin auf Pixabay

Gute Lehrkräfte folgen einem konstruktivistischen Ansatz

Der konstruktivistische Ansatz der versierten Lehrkräfte spiegelt sich auch in ihrem Unterricht wider, und zwar dergestalt, dass sie das Lernen mit dem Leben der Lernenden und deren erworbenen Schemata verknüpfen (17 Studien) und das Lernen neuer Inhalte dadurch erleichtern, dass sie auf dem aufbauen, was die Kinder und Jugendlichen bereits wissen. Sie fördern Peer-Tutoring (z. B. Peer-Feedback, Peer-Korrektur und Peer-Instruktion) und beziehen problemorientiertes und entdeckendes Lernen in ihren Unterricht ein.

In 15 Studien wird darauf hingewiesen, dass die expert teachers die Kognition und Metakognition ihrer Lernenden effektiv entwickeln und viel Wert auf Denkfähigkeiten höherer Ordnung (einschließlich kritischem Denken und Kreativität) legen, anstatt nur Fakten auswendig zu lernen. Sie achten auf angemessene Lernfähigkeiten und Selbstregulierungsfähigkeiten, die es den Schülerinnen und Schülern ermöglichen autonomer zu lernen.

Gute Lehrkräfte geben während des Lernens Feedback, nicht erst am Ende

Während die summative Beurteilung (am Ende einer Lernsequenz) selten im Mittelpunkt der Studien steht, gab es in den Daten starke Hinweise darauf, dass die formative (begleitende) Beurteilung ein zentraler Bestandteil der Praxis versierter Lehrkräfte ist, was manchmal als “dynamische Beurteilung” bezeichnet wird – die Fähigkeit einer Lehrkraft, während des Unterrichts kontinuierlich zu beurteilen (z. B. durch Befragung der Lernenden oder durch Überwachung der Arbeit der Lernenden). Dazu gehört auch das Feedback im Sinne der Hattiestudie (mit einer Effektstärke von d = 0.73).

Quelle: https://slideplayer.com/slide/2469489/

Der Wert der formativen Evaluation ist nicht hoch genug einzuschätzen: die Effektstärke d liegt bei 0.90.

Quelle: https://slideplayer.com/slide/2469489/

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