Wir (Deutschen) haben im März 2007 die UN-Behindertenrechtskonvention unterzeichnet. Es handelt sich dabei um ein Menschenrecht auf Teilhabe am “normalen” Leben. Selbstverständlich sind alle Verantwortlichen bereit, diesem Recht zu seiner Geltung zu verhelfen. Überall. Auch im Schulsystem.
Die Quadratur des Kreises
Wenn allerdings das Menschenrecht auf Inklusion auf ein gegliedertes Schulsystem trifft, dann wird es spannend. Wir (Bayern) haben an diesem Punkt unsere besonderen Schwierigkeiten. Bruno Schor* hat das einmal die “Quadratur des Kreises” genannt. Und Prof. (em) Hans Wocken wird nicht müde, den auf Selektion gerichteten Menschen nachzuweisen, dass hier zwei sich gegenseitig ausschließende Prinzipien aufeinanderstoßen. Literaturhinweise unten.
*Dr. Bruno J. Schor: ehemals Abteilung Förderschulen am Staatsinstitut für Schulqualität und Bildungsforschung
Der bayerische Weg besteht nun darin, ein heftig auf Selektion ausgelegtes Schulsystem frech als inklusiv zu bezeichnen. Das soll an dieser Stelle nicht vertieft werden, es möge ein Zitat des UN-Ausschusses für die Rechte von Menschen mit Behinderung reichen:
Der UN-Ausschuss macht deutlich, dass sich Staaten, die neben dem „regulären“ Schulsystem ein Sonder- oder Förderschulsystem weiter aufrechterhalten, in Widerspruch zur Verpflichtung aus Artikel 24 UN-BRK stellen (40). Er empfiehlt den Staaten deshalb dringend, die Finanzierung ihres Bildungssystems zu überdenken und die Mittel nur noch in die Entwicklung von inklusiver Bildung fließen zu lassen.
(Kroworsch 2017, S. 4)

Aktueller Anlass: ein Antrag
Anlass für mein genervtes Augenrollen ist ein aktueller Vorgang im Bayerischen Landtag: Die Fraktion von Bündnis 90/ Die Grünen hat zwei Anträge gestellt, die darauf zielen, “mehr Gebärdensprache an allgemeinbildende Schulen (und Förderzentren) zu bringen”.
Dies ist der eine Antrag im Wortlaut:
“Die Staatsregierung wird aufgefordert, die Deutsche Gebärdensprache (DGS) an allgemeinbildenden Schulen in Bayern zu stärken. Zu diesem Zweck ist:
─ die Einführung einer Arbeitsgruppe bzw. eines Wahlfachs „Deutsche Gebärdensprache“ in allgemeinbildenden Schulen einzuführen und durch Förderzuschüsse des Freistaats zu unterstützen,
─ die Fortbildungsangebote in DGS für Lehrkräfte an allgemeinbildenden Schulen auszubauen,
─ ein Konzept für den Tandemunterricht aus Deutscher Laut- und Gebärdensprache zu erstellen und den Schulen als Handreichung zur Verfügung zu stellen.”
Der Antrag wurde von der Landtagsmehrheit (CSU + Freie Wähler) in drei Ausschüssen (Bildung, Soziales, Finanzen) weggeputzt. Die FDP hat mal zugestimmt, mal sich enthalten.
Das Menschenrecht auf Inklusion
Begründet wird der Antrag mit Verweis auf einen Abschnitt der Behindertenrechtskonvention (BRK). Damit klar ist, dass die Gebärdensprache nicht ein zufälliges Beispiel ist, das sich die Grünen frei gesucht haben, lohnt sich der genau Blick auf die offizielle Übersetzung der UN-BRK (Zwischenüberschriften von mir):
Artikel 24 Bildung (Ziel)
(1) Die Vertragsstaaten anerkennen das Recht von Menschen mit Behinderungen auf Bildung. Um dieses Recht ohne Diskriminierung und auf der Grundlage der Chancengleichheit zu verwirklichen, gewährleisten die Vertragsstaaten ein integratives Bildungssystem auf allen Ebenen und lebenslanges Lernen mit dem Ziel,
a) die menschlichen Möglichkeiten sowie das Bewusstsein der Würde und das Selbstwertgefühl des Menschen voll zur Entfaltung zu bringen und die Achtung vor den Menschenrechten, den Grundfreiheiten und der menschlichen Vielfalt zu stärken;
b) Menschen mit Behinderungen ihre Persönlichkeit, ihre Begabungen und ihre Kreativität sowie ihre geistigen und körperlichen Fähigkeiten voll zur Entfaltung bringen zu lassen;
c) Menschen mit Behinderungen zur wirklichen Teilhabe an einer freien Gesellschaft zu befähigen. (Beauftragter der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen, S. 21)
Menschen mit Behinderung sollen nicht vom allgemeinen Bildungssystem ausgeschlossen werden
(2) Bei der Verwirklichung dieses Rechts stellen die Vertragsstaaten sicher, dass
a) Menschen mit Behinderungen nicht aufgrund von Behinderung vom allgemeinen Bildungssystem ausgeschlossen werden und dass Kinder mit Behinderungen nicht aufgrund von Behinderung vom unentgeltlichen und obligatorischen Grundschulunterricht oder vom Besuch weiterführender Schulen ausgeschlossen werden;
b) Menschen mit Behinderungen gleichberechtigt mit anderen in der Gemeinschaft, in der sie leben, Zugang zu einem integrativen, hochwertigen und unentgeltlichen Unterricht an Grundschulen und weiterführenden Schulen haben;
c) angemessene Vorkehrungen für die Bedürfnisse des Einzelnen getroffen werden;
d) Menschen mit Behinderungen innerhalb des allgemeinen Bildungssystems die
notwendige Unterstützung geleistet wird, um ihre erfolgreiche Bildung zu erleichtern; (Beauftragter der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen, S. 21)

Lehrerbildung in Gebärdensprache oder Braille
(4) Um zur Verwirklichung dieses Rechts beizutragen, treffen die Vertragsstaaten geeignete Maßnahmen zur Einstellung von Lehrkräften, einschließlich solcher mit Behinderungen, die in Gebärdensprache oder Brailleschrift ausgebildet sind, und zur Schulung von Fachkräften sowie Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen auf allen Ebenen des Bildungswesens. (Beauftragter der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen, S. 22)
Leider liegt mir kein Ausschussprotokoll vor. Deshalb kann ich nicht erkennen, ob CSU und Freie Wähler den Antrag nicht vielleicht deshalb abgelehnt haben, weil sie sich eine noch umfassendere Ausbildung in Gebärdensprache vorgenommen haben oder gute Anträge aus Prinzip schon allein deshalb ablehnen, weil sie vom politischen Gegner eingebracht werden. Es könnte aber auch sein, dass sie die Ausbildung in Gebärdensprache für Grund- und Mittelschullehrkräfte für völlig unnötig halten, weil es dafür ja spezielle Schulen gibt. Dahin gehören die Schüler mit Hörproblemen, und das ist: Exklusion.
Die UN-BRK unterzeichnen, sich zum Menschenrecht bekennen und gleichzeitig exklusive Strukturen aufrecht erhalten – das nenne ich Schaufenster-Inklusion. Was lernen wir daraus? Es liegt noch ein weiter Weg vor uns.
Literatur
Beauftragter der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen. Die UN-Behindertenrechtskonvention. Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen. Die amtliche, gemeinsame Übersetzung von Deutschland, Österreich, Schweiz und Lichtenstein.
Blanck, J. M., Edelstein, B. & Powell, J. J. (2013). Von der schulischen Segregation zur inklusiven Bildung? Die Wirkung der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen auf Bildungsreformen in Bayern und Schleswig-Holstein, Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung. Discussion Paper.
Blanck, J. M., Edelstein, B. & Powell, J. J. (2013). Persistente schulische Segregation oder Wandel zur inklusiven Bildung? Die Bedeutung der UN-Behindertenrechtskonvention für Reformprozesse in den deutschen Bundesländern. Swiss Journal of Sociology 39 (2), 267–292.
Blanck, J. M. (2020). Übergänge nach der Schule als “zweite Chance”? Eine quantitative und qualitative Analyse der Ausbildungschancen von Schülerinnen und Schülern aus Förderschulen “Lernen” (Bildungssoziologische Beiträge, 1. Auflage). Weinheim: Juventa Verlag. Diesen neuen Aufsatz von Jonna Blanck habe ich hier vorgestellt: Faktencheck #71: Etikettierung bis in den Arbeitsmarkt hinein
Kroworsch, S. (September 2017). Das Recht auf inklusive Bildung: Allgemeine Bemerkung Nr. 4 des UN-Ausschusses für die Rechte von Menschen mit Behinderungen (Deutsches Institut für Menschenrechte, Hrsg.) (Information Nr. 12).
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