Bayern, dieses zuweilen recht eigenwillige Volk im Süden Deutschlands, macht sich auf den Weltraum zu erobern (“Bavaria One“), schafft es aber nicht, seine Kinder so in die Schule zu schicken, wie es menschenrechtlich geboten und pädagogisch und ökonomisch (!) richtig wäre. Nein, das sage nicht ich, sondern das Deutsche Institut für Menschenrechte, allerdings in neutralerem und freundlicherem Ton – es lässt nur die schmerzhaften Fakten sprechen.
Deutsches Institut für Menschenrechte (Hrsg.). (Dezember 2022). Entwicklung der Menschenrechtssituation in Deutschland Juli 2021 – Juni 2022. Bericht an den Deutschen Bundestag gemäß § 2 Absatz 5 DIMRG, Berlin.
“Deutsches Institut für Menschenrechte”?
Das Deutsche Institut für Menschenrechte (DIM) liest einigen Bundesländern gehörig die Leviten, u.a. Bayern. Aber muss das die Bayerische Staatsregierung jucken? Heutzutage kann jeder Mensch eine (wirtschaftliche, kulturelle, wissenschaftliche, oder künstlerische) Einrichtung ins Leben rufen und sich “Institut” nennen. Mit welcher Autorität spricht also das DIM? Hier mag ein kurzer Blick auf die Selbstdarstellung genügen, um die Seriosität hervorzuheben [Zitate sind blau hinterlegt]:
Das Institut ist nur den Menschenrechten verpflichtet und politisch unabhängig. Seit 2015 regelt das „Gesetz über die Rechtsstellung und Aufgaben des Deutschen Instituts für Menschenrechte“ die Rechtsstellung, die Aufgaben und die Finanzierung des Instituts. Es ist als gemeinnütziger Verein organisiert und wird vom Deutschen Bundestag sowie – für einzelne Projekte – aus Drittmitteln finanziert.
Dieses Institut hat nun also einen Bericht an den Deutschen Bundestag verfasst, den es sich genauer anzuschauen lohnt. Ich zitiere aus dem Abschnitt des Berichts, der sich speziell mit der schulischen In- und Exklusion befasst.

Die schulische Inklusion wird de facto verwehrt – Gesamtstrategie gefordert
Für die rasche Orientierung genügt es, einen Blick auf die Kurzfassung zu werfen. Im Anschluss daran werden einige Dinge vertieft. Kurzfassung:
Zugang verwehrt
Kinder und Jugendliche mit Behinderungen haben das Recht auf einen diskriminierungsfreien Zugang zu einem inklusiven Schulsystem. Doch vielen Schülerinnen mit Behinderungen in Deutschland wird dieser Zugang de facto verwehrt. Die Folge: Die selbstbestimmte Lebensgestaltung sowie die zukünftige gesellschaftliche Teilhabe von Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen ist wesentlich beeinträchtigt. Deutschland benötigt eine Gesamtstrategie für inklusive Bildung, deren Kernelement eine stärkere Kooperation von Bund und Ländern im Bildungsföderalismus sein sollte. (Deutsches Institut für Menschenrechte 2022, S. 13)
Auch der Bund ist in der Pflicht
An den völkerrechtlichen Verpflichtungen aus der UN-BRK muss sich Deutschland messen lassen. Der Bund kann sich seiner Gesamtverantwortung zur Umsetzung eines inklusiven Schulsystems nicht durch Verweis auf die Länderzuständigkeit im Bildungsbereich entziehen. (Deutsches Institut für Menschenrechte 2022, S. 13)
Gleichbleibende Exklusion hat negative Folgen
Viele Landesregierungen bekennen sich vordergründig zur inklusiven Bildung, halten aber am Förderschulsystem für Schülerinnen mit Behinderungen fest. Das Ergebnis: Die Exklusionsquote, die den Anteil von Schülerinnen an Förderschulen im Verhältnis zur Gesamtzahl der Schülerinnen abbildet, ist bundesweit seit Jahren nahezu gleichbleibend hoch. Aktuell werden im Bundesdurchschnitt noch immer mehr als die Hälfte der Schülerinnen mit sonderpädagogischer Förderung an einer Förderschule unterrichtet.
Eine Grafik zu den einzelnen Exklusionsquoten der Bundesländer folgt im Text weiter unten.
Die Förderschule ist in den meisten Bundesländern nach wie vor eine fest im Schulsystem verankerte Schulform. Schülerinnen verlassen diese meist ohne Schulabschluss – der Beginn einer lebenslangen Exklusionskette: Sie wechseln oft in gesonderte und theoriereduzierte Formen der Ausbildung mit weniger Chancen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt. Im Gegensatz dazu verweisen nationale und internationale Studien auf die Vorteile des inklusiven Unterrichts – bis hin zu einer bildungsökonomischen Kostenersparnis. (Deutsches Institut für Menschenrechte 2022, S. 13)
Auf welche Hürden die Eltern und Schülerinnen stoßen
Es zeigt sich zum Beispiel, dass es für manche Eltern oft ein beträchtlicher Mehraufwand ist, einen inklusiven Schulplatz zu organisieren, anderen wird schon früh vermittelt, dass ihr Kind besser auf einer Förderschule aufgehoben sei. Auch gibt es Eltern, die nur aufgrund unzureichender Informationen die Förderschule wählen. Und immer wieder legen Lehrerinnen beziehungsweise Regelschulen Schülerinnen mit Behinderungen den Wechsel auf eine Förderschule unmissverständlich nahe. (Deutsches Institut für Menschenrechte 2022, S. 13)
Wille zur Inklusion in den Bundesländern unterschiedlich ausgeprägt
Die Bundesländer sind bereits seit 2009 in der Pflicht, ihre Schulsysteme so zu reformieren, dass sie Kinder und Jugendliche mit und ohne Behinderungen optimal fördern und niemanden wegen einer körperlichen, psychischen, intellektuellen oder Sinnesbeeinträchtigen ausgrenzen. Fast 14 Jahre nach Inkrafttreten der UN-BRK in Deutschland zeigen allerdings nur sehr wenige Bundesländer ausreichend politischen Willen zum menschenrechtlich erforderlichen Aufbau eines inklusiven Schulsystems mit gleichzeitigem deutlichem Rückbau der Förderschulstandorte. Eine Ausnahme bilden Bremen, Hamburg und Schleswig-Holstein, die mit großem Engagement das Recht auf inklusive Bildung umsetzen. Ganz anders Baden-Württemberg, Bayern, Rheinland-Pfalz und das Saarland, deren Exklusionsquoten auf eine Rückentwicklung hindeuten. (Deutsches Institut für Menschenrechte 2022, S. 13–14)
Bundeszuständigkeit erhöhen
Dazu empfiehlt das Deutsche Institut für Menschenrechte drei einander ergänzende Wege:
- − Artikel 74 Absatz 1 Nr. 4 GG: Einführung einer ergänzenden Zuständigkeit des Bundes für bestimmte Elemente eines inklusiven Schulsystems außerhalb des pädagogischen Kernbereichs
- − Artikel 91b GG: Einführung einer Gemeinschaftsaufgabe zur Schaffung eines inklusiven Schulwesens zur Angleichung und Erweiterung der Standards
- − Staatsvertrag zwischen Bund und Ländern: „Pakt für Inklusion“. (Deutsches Institut für Menschenrechte 2022, S. 14)
Exklusionsquoten der Länder
(Deutsches Institut für Menschenrechte 2022, S. 40)
Fallbeispiele
Zur Veranschaulichung der exklusiven Haltung von Schulen, Lehrkräften und/oder Behörden werden im Bericht vier Fallbeispiele dargestellt. Sie seien hier kurz erwähnt, das vierte wird ausführlicher wiedergegeben.
Fallbeispiel 1:
Herr und Frau B. entschieden sich gegen das „Rundum-sorglos-Paket“ der Förderschule – ein großer Mehraufwand für sie (Deutsches Institut für Menschenrechte 2022, S. 30)
Fallbeispiel 2:
Frau X. wurde immer wieder gesagt, ihr Sohn werde auf eine Förderschule kommen (Deutsches Institut für Menschenrechte 2022, S. 31)
Fallbeispiel 3:
Frau M. ging davon aus, dass ihr Kind in einer Förderschule besser Deutsch lernen und nach kurzer Zeit auf die Grundschule wechseln würde […] Für Frau M. ist klar: Rückblickend wurde ihr mit dem Rat zur Förderschule nicht geholfen und sie wurde falsch informiert. An der Grundschule wiederholte Lisa die zweite Klasse, der Förderbedarf wurde aufgehoben, die Logopädie beendet. Sie lernt erfolgreich an der gleichen Schule wie ihr Geschwisterkind und hat dort viele Freunde. (Deutsches Institut für Menschenrechte 2022, S. 35)
Fallbeispiel 4:
Die Klassenlehrerin sagte Frau A., dass für ein behindertes Kind kein Platz auf der Schule sei Jasmin besucht eine reguläre Grundschule. Als Kleinkind wurde bei ihr Autismus diagnostiziert. Sie wurde vor Schulbeginn logopädisch, ergotherapeutisch und durch das Sozialpädiatrische Zentrum gefördert. Der Schulstart war für Jasmin eine große Herausforderung, da sie sich an die vielen Kinder gewöhnen und ruhig zuhören musste. Nach kurzer Zeit beschwerte sich die Klassenlehrerin über Jasmins soziales und emotionales Verhalten. Ihre Mutter, Frau A., nahm eine ablehnende Grundhaltung der Lehrerin wahr, die sich aus ihrer Sicht nicht mit einem Kind mit Behinderungen auseinandersetzen wollte. Frau A. hoffte, die Klassenlehrerin durch eine positive schulische Entwicklung von Jasmin umstimmen zu können. Jasmin wurde durch eine Schulassistenz unterstützt. Jasmin hatte Freude am Lernen und machte schulisch große Fortschritte. Sie orientierte sich an positiven Vorbildern und fühlte sich wohl.
Die Beschwerden der Klassenlehrerin gegenüber Frau A., anderen Eltern, Lehrkräften und der Schulleitung hielten jedoch an. Mehrfach sagte die Klassenlehrerin Frau A., dass ein Kind mit Behinderungen wie Jasmin keinen Platz an der Schule hätte. Die Klassenlehrerin drängte Frau A. zum Schulwechsel auf die Förderschule „Geistige Entwicklung“. Frau A. setzte den Verbleib ihrer Tochter an der Grundschule zunächst durch. Sie nahm Nachteile in Kauf, wie die Betreuung ihrer Tochter zu Hause bei einem Ausfall der Schulassistenz. Die Klassenlehrerin setzte eine Kurzzeitbeschulung von Jasmin durch, sodass sie die Schule für kürzere Zeit besuchte als andere Kinder. Für Frau A. bedeutete das eine große zeitliche Belastung. Sie empfand dies als Schikane.
Der anhaltende Konflikt mit der Lehrerin belastete Frau A. stark. Auch die Schulleiterin drängte zum Schulwechsel. Frau A. sah sich schließlich zur Zustimmung gezwungen. Sie meldete Jasmin an einer Förderschule mit dem Förderschwerpunkt „Geistige Entwicklung“ an. Als dort kein Platz war, wurde das Kind einer anderen Förderschule zugewiesen. Frau A. war erschüttert, da diese Schule einen schlechten Ruf hatte.
Nach dem Wechsel verschlechterten sich die Fähigkeiten und das Sozialverhalten von Jasmin. Sie wirkte niedergeschlagen und traurig. Eines Tages sagte sie, „Mama, ich möchte arbeiten.“ Für Frau A. war deutlich, dass Jasmin unterfordert war und ihr die Struktur des Unterrichts und positive Vorbilder fehlten. Frau A. bemüht sich um den Wechsel an eine andere inklusive Grundschule. Die Entscheidung steht aus. (Interview mit Frau A., Mai 2022) (Deutsches Institut für Menschenrechte 2022, S. 36–37)
Argumente für die inklusive Beschulung
Im Anschluss an diese Fallbeispiele führt das DIM etliche Argumente an, die weitestgehend wissenschaftlich gesichert sind und für eine schulische Inklusion von Kindern und Jugendlichen sprechen.
Die Mehrzahl der Studien spricht für inklusive Beschulung
Aktuelle deutsche Vergleichsstudien sowie eine Vielzahl internationaler empirischer Studien im Leistungsbereich belegen mehr Vorteile des inklusiven Unterrichtens gegenüber dem segregierenden. Das heißt, dass Schülerinnen mit sonderpädagogischem Förderbedarf an allgemeinbildenden Schulen messbar mehr lernen und in ihrer Lese- beziehungsweise Rechtschreibkompetenz erfolgreicher als Schülerinnen an Förderschulen sind. Eine anspruchsvolle und fordernde Lernatmosphäre bietet die Chance auf individuelle Leistungsentwicklungen und unterstützt Schülerinnen, einen Schulabschluss zu erreichen (siehe Abschnitt 1.3.4). Unabhängig davon, ob Kinder oder Jugendliche mit Behinderungen in der Klasse sind, entspricht der Umgang mit Vielfalt beziehungsweise binnendifferenziertes Lernen wissenschaftlich dem neuesten Stand des Unterrichtens. (Deutsches Institut für Menschenrechte 2022, S. 37)
Keine Benachteiligung nichtbehinderter Kinder
Darüber hinaus können keine Benachteiligungen für den Lernfortschritt von Schülerinnen ohne sonderpädagogischen Förderbedarf nachgewiesen werden, die gemeinsam mit Schülerinnen mit einem solchen Bedarf unterrichtet werden, im Vergleich zu der Gruppe, die nicht gemeinsam mit Schülerinnen mit sonderpädagogischen Förderbedarf lernt. Vielmehr können auch Schülerinnen ohne sonderpädagogischen Förderbedarf von der Expertise eines interdisziplinären Fachkräfteteams profitieren. (Deutsches Institut für Menschenrechte 2022, S. 37–38)
Förderschulen und ihre fraglichen Lernerfolge
Förderschulen lassen sich auch nicht über ihre Lernerfolge rechtfertigen. Es gibt bisher keine Studien, die eine wirksame „Förderung“ von Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen durch die Förderschule belegen. Ganz im Gegenteil: Ein Großteil der Schülerinnen an Förderschulen verlässt diese ohne Abschluss und findet keine Anstellung auf dem ersten Arbeitsmarkt. (Deutsches Institut für Menschenrechte 2022, S. 38)
Bildungsökonomische Argumentation: Kostenersparnis
Bildungsökonomisch betrachtet, bedeutet eine inklusive Beschulung auf lange Sicht nicht zuletzt auch eine Kostenersparnis: Auch wenn klar ist, dass die Start-/Transformationskosten für den Aufbau eines inklusiven Schulsystems zunächst hoch sind (Mehrausgaben für zusätzliche Lehrkräfte und für eine steigende Zahl von Integrationshelferinnen, für die Sicherung von Barrierefreiheit und oftmals für die Bereitstellung zusätzlicher Unterrichtsräume etwa für die Arbeit mit Kleingruppen), ist eine Doppelstruktur aus inklusivem Unterricht in allgemeinbildenden Schulen und Förderschulen das kostenintensivere Modell. (Deutsches Institut für Menschenrechte 2022, S. 38)
Weitere positive ökonomische Folgen für die Gesellschaft
Wenn nicht mehr benötigte Förderschulen geschlossen werden, gewinnen die Kommunen finanzielle Spielräume, um sukzessive weitere Schulen auf Inklusion umzustellen. Minderausgaben können auch dadurch entstehen, dass mehr Schüler*innen in wohnortnahen allgemeinbildenden Schulen unterrichtet werden und daher weniger Aufwand für den Schülertransport erforderlich ist. Hinzu kommt, dass es Entlastungseffekte für Folgekosten in den Bereichen Gesundheit, Einkommenssicherung, Kinderfürsorge und im Bereich der Sozialversicherungssysteme gibt, da ein höherer Bildungsgrad häufig zu höherem Einkommen, besserer Gesundheit, vermehrter politischer Partizipation und einer höheren Lebenserwartung führt. (Deutsches Institut für Menschenrechte 2022, S. 38)
Eine Prognose ist dramatisch
Eine Prognose ist dramatisch: In Deutschland ist bis 2030/2031 mit keiner Trendwende zu rechnen. Nach einer Vorausberechnung der Kultusministerkonferenz ist bundesweit von einer Stagnation der Exklusionsquote bei einem Wert von 4,2 Prozent bis zum Schuljahr 2030/2031 auszugehen. Auch werden sich die einzelnen Länder den Vorausberechnungen zufolge (weiter) auseinanderentwickeln:
Zum einen ist laut Vorausberechnung in Ländern wie Bayern, Hessen oder auch Mecklenburg-Vorpommern mit steigenden Exklusionsquoten zu rechnen, zum anderen werden für die drei Stadtstaaten, Niedersachsen oder Schleswig-Holstein sinkende Exklusionsquoten prognostiziert. (Deutsches Institut für Menschenrechte 2022, S. 41)
Auswirkungen dieser Entwicklung auf die betroffenen Kinder
Diese schleppenden und ungleichen Entwicklungen verletzen Kinder mit Behinderungen massiv in ihren Rechten und haben fatale Folgen für ihre Bildungs- und Teilhabechancen. In der Verwirklichung des Rechts auf inklusive Bildung liegt zudem ein Schlüssel dafür, dass Kinder mit Behinderungen ihr Selbstwertgefühl und das Bewusstsein entwickeln können, dass sie die gleiche Würde besitzen wie andere Kinder auch. Der Zwang, eine Förderschule zu besuchen, die sich oftmals nicht in unmittelbarer Wohnortnähe befindet, hat gravierende Auswirkungen auf die soziale Teilhabe der Kinder: Dem Kind fehlen am Wohnort Kontakte zur gleichaltrigen Bezugsgruppe, in der es soziale Orientierung sucht. Durch lange Fahrtwege von und zur Förderschule oder fehlende Anschlüsse wird zudem die Teilnahme an Freizeitmöglichkeiten oder anderen Angeboten im persönlichen Lebensumfeld erschwert. (Deutsches Institut für Menschenrechte 2022, S. 41)
Beginn von lebenslangen Exklusionsketten
Besonders besorgniserregend ist: Eine Förderschule ist nur der Beginn von lebenslangen Exklusionsketten, in denen Kinder mit Behinderungen auch als Erwachsene oft verhaftet bleiben. Abgängerinnen von Förderschulen wechseln mehrheitlich in berufsvorbereitende Maßnahmen und nur selten in eine Ausbildung oder ein Studium. Jugendliche mit Behinderungen beginnen jedoch auch nach Ende einer berufsvorbereitenden Maßnahme nur selten eine reguläre Ausbildung in einem anerkannten Beruf, ein Großteil beginnt eine theoriereduzierte Ausbildung oder besucht den Ausbildungsbereich von Werkstätten für behinderte Menschen. Es handelt sich somit um Ausgrenzungsspiralen, die nur einzudämmen sind, indem ein Kind von Anfang an inklusiv lebt und lernt. Problematisch ist in diesem Zusammenhang auch die geringe Durchlässigkeit des Förderschulsystems in das allgemeine Bildungssystem: Bundesweit betrachtet wechselten im Schuljahr 2016/2017 gut dreimal so viele Schülerinnen zwischen den Jahrgangsstufen 6 und 10 von einer allgemeinen Schule zu einer Förderschule als umgekehrt (8.088 zu 2.627). (Deutsches Institut für Menschenrechte 2022, S. 41)
Stigma Förderschule
Hinzu kommt, dass in Deutschland – trotz intensiver Personalressourcen und Fachlichkeit, die in dieser Schulart stecken – derzeit 72,7 Prozent (Stand: 2020) der Schülerinnen die Förderschule ohne einen Hauptschulabschluss verlassen. Selbst wenn sie den Abschluss schaffen, haben sie mit dem Stigma „Förderschule“ oft nur sehr eingeschränkte Chancen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt, sogar wenn die verglichenen Gruppen in Bezug auf die familiären Ressourcen, kognitiven Grundfertigkeiten und sozialstrukturellen Merkmale vergleichbar sind. Schülerinnen von Förderschulen geben an, oft jahrelang unter dem Stigma der Anomalität zu leiden. Das gilt besonders bei dem Besuch einer Förderschule für „Lernbehinderte“.Kinder und deren Eltern „schämen“ sich für einen Förderschulbesuch. (Deutsches Institut für Menschenrechte 2022, S. 42)
Im Übergangssystem
Das Erreichen eines Schulabschlusses stellt jedoch eine wichtige Voraussetzung für den Zugang zu einer Ausbildung in einem anerkannten Beruf dar. Nach Schätzungen auf der Grundlage verfügbarer Daten führt der Weg der Mehrheit der Jugendlichen mit Behinderungen jedoch in Sonderformen (der Ausbildung). Nach der Schule wechselt der Großteil der Abgängerinnen mit sonderpädagogischer Förderung zunächst für mindestens ein Jahr in das sogenannte Übergangssystem berufsvorbereitender Maßnahmen. Im Anschluss an berufsvorbereitende Maßnahmen gelingt es den wenigsten, eine Vollausbildung in anerkannten Berufen zu absolvieren. Über die Hälfte der Schulabgängerinnen mit Förderbedarf erlernt keinen anerkannten Ausbildungs-beruf. Das differenzierte Übergangssystem mit seinen vielfältigen Fördermaßnahmen kann es nicht leisten, der Benachteiligung im Hinblick auf mangelnde Ausbildungszugänge ausreichend entgegenzuwirken, vielmehr trägt es teilweise zu einer Verfestigung und Fortschreibung bereits bestehender Ungleichheiten bei. (Deutsches Institut für Menschenrechte 2022, S. 42)
Fazit
Die Förderschule ist in den meisten Bundesländern nach wie vor eine fest im Schulsystem verankerte Schulform – obwohl bildungswissenschaftliche empirische Befunde gegen sie sprechen und die menschenrechtliche Verpflichtung, ein inklusives Schulsystem zu schaffen, besteht. Das Festhalten an dieser Doppelstruktur wird in erster Linie mit dem in den Schulgesetzen verankerten Elternwahlrecht gerechtfertigt,90 das aber – wie oben dargestellt – im Widerspruch zu den Vorgaben der UN-BRK und damit dem Recht von Kindern auf inklusive Bildung steht.
Die Auswertung der Datenlage zeigt, dass im Durchschnitt aller Bundesländer kaum Fortschritte erzielt wurden und mit einem nicht hinnehmbaren Stillstand bei der Etablierung eines inklusiven Schulsystems zu rechnen ist. Stagnation und teilweise sogar Rückwärtsbewegungen verstoßen klar gegen die Verpflichtungen aus der UN-BRK, die eine „progressive Entwicklung“ vorschreibt, und müssen dringend beseitigt werden. Es steht außer Frage, dass ohne weiteres Zutun die menschenrechtlich gebotenen gleichen Bildungschancen für Kinder mit und ohne Behinderungen nicht erreicht werden können. (Deutsches Institut für Menschenrechte 2022, S. 43)
Forderung: Kooperation zwischen Bund und Ländern!
Ganz im Sinne der Ankündigungen des Koalitionsvertrags, eine „engere, zielgenauere und verbindliche Kooperation“ zwischen Bund und Ländern in der Bildung anzustreben, könnte die Umsetzung dieses Gesamtpakets, insbesondere die genaue Ausgestaltung einer Grundgesetzergänzung und eines interföderalen Staatsvertrags, ein wesentlicher Beitrag sein, dies für den Bereich der inklusiven Bildung zu erreichen. (Deutsches Institut für Menschenrechte 2022, S. 51)
Hans guck in die Luft
Um den Kreis zu meiner Einleitung zu schließen: Die Bayerische Staatsregierung erinnert mich an den Hans guck in die Luft. Sie sucht ihre Zukunft im weiß-blauen Himmel und darüber hinaus. Dagegen werden die Probleme, die sprichwörtlich auf der Straße liegen, gern übersehen, bzw. mit sprachlichen Kunststückchen wegdefiniert. Von der Staatsregierung ist also wenig zu erwarten; hoffen wir auf wirksame Initiativen von BürgerInnen aus unserer Mitte!