Nein, es ist nicht übertrieben, hier von „Magie“ zu sprechen: Was wir Lehrerinnen* von unseren Schülerinnen erwarten, bestimmt zu einem hohen Maße das, was sie tatsächlich schulisch leisten können – im Positiven wie im Negativen!
*Ich verwende jetzt einfach mal durchgehend die weibliche Form, um nicht dauernd gendern zu müssen.
In diesem Blog finden sich bereits mehrere Beiträge dazu: darüber, dass Erwartung Wirklichkeit erschafft (Pygmalioneffekt), über den Einfluss unseres Menschenbildes bis hinein in die Schulstrukturen, über selbsterfüllende Prophezeiungen, über Lehrerinnenglaube und Schülerinnenkönnen und über Leistungserwartungen im Mathematikunterricht.
Die Magie
Warum “Magie”? Weil die Erwartungen der Lehrerinnen durchgehend zwischen den Zeilen, indirekt und häufig unbemerkt, oft sogar unbeabsichtigt auf die Schülerinnen wirken. Sie drücken sich im Ton der Stimme, in der Zuwendung, der Körperhaltung, der Aufmerksamkeit, der Fragestellung, der Mimik, in einem Lächeln oder Stirnrunzeln, im Nicken oder Kopfschütteln, dem Anhören oder Ignorieren von Äußerungen und in vielen anderen Kleinigkeiten aus. Und Schülerinnen nehmen das auf, eben oft unbewusst, und bauen es in ihre Selbsterwartungen ein.
Gerd Mietzel beschrieb schon 1986 in seinem Buch “Psychologie in Unterricht und Erziehung” sehr detailliert, wie sich die Erwartungen äußern und was sie bewirken können (Kapitel 9.3 Erwartungseffekte im Klassenzimmer, S. 300-312). Beispiele:
“Vermeintlich schwachen Schülern wurde weniger Zeit zur Beantwortung einer Frage gegeben.”
“Lehrer hatten zu den vermeintlich schwächeren Schülern weniger Augenkontakt.”
“Für Erfolge wurden vermeintlich gute Schüler mehr gelobt als schwache.”
(Mir fällt gerade auf, dass Mietzels Ausführungen einen eigenen Blogeintrag verdienen würden…)
Auch Hatties Ausführungen könnte ich hier seitenweise zitieren. Ich beschränke mich auf die folgenden, sehr ernst zu nehmenden Aussagen.
Suchen die Lehrerinnen nach Talent um die Schülerinnen auf verschiedene Bildungswege zu sortieren oder wollen sie es in jedem Kind entwickeln?
There are differences in classrooms where teachers aim to select talent for different educational pathways (such as schools with tracking) compared with those where achievement cultures seek to develop talent in each child.
S. 220
Glauben die Lehrerinnen, dass man Leistungsfähigkeiten eh nicht ändern kann, weil angeboren?
There are differences in classes where teachers believe achievement is difficult to change because it is fixed and innate compared to teachers who believe achievement is changeable.
S. 220
Nein, deshalb müssen die Lehrerinnen damit aufhören, sich an die vermeintlichen Begabungen zu halten!
Based on this evidence, teachers must stop overemphasizing ability and start emphasizing progress (steep learning curves or acceleration are the right of all students regardless of where they start).
S. 222
Denn die Magie funktioniert leider auch in den negative Richtung.
What is more important is whether the teacher has high or low expectations. Rubie-Davies (2014, 2017; Rubie-Davies et al., 2006) found that teachers with high expectations tend to hold them for all the students in the class and successfully raise achievement, whereas those with low expectations are, sadly, also successful in the opposite direction. Further, these expectations can dramatically affect what happens in their classrooms.
S. 220
Low expectations of the students’ success are a self-fulfilling prophecy.
S. 244
Besonders bedenklich finde ich die Erkenntnis, dass Erwartungseffekte in unsere gesellschaftlichen Institutionen eingewoben sind:
“Expectancy processes do not reside solely ‘in the minds of teachers’ but instead are built into the very fabric of our institutions and our society”
S. 220, ein Zitat von Weinstein, 2009, p. 290
Die Verantwortlichen sollen damit aufhören, Schülerinnen in feste Lernpfade einzuschließen:
… stop creating schools that attempt to lock in prior achievement and experiences (e.g., via ability grouping between or within classes)
S. 222
Das mag an dieser Stelle genügen. Wenden wir uns wieder dem Verhalten der Lehrerinnen in den Klassenzimmern zu.
Lehrerinnen mit hohen und mit geringen Erwartungen
John Hattie hatte den Aspekt der Erwartungen schon in seiner ersten Metastudie Visible Learning (2009) hervorgehoben. In seiner Folgestudie The Sequel nimmt er den Faden wieder auf und arbeitet weitere Feinheiten heraus. Auf Seite 220ff fasst er die Magie der Erwartungen (expectations) zusammen und gießt sie in eine spannende Gegenüberstellung von Lehrerinnen, die geringe Erwartungen an ihre Schülerinnen haben (Effektstärke d = -0.03 bis 0.20), mit solchen, die ihnen hohe Erwartungen Erwartungen entgegenbringen (Effektstärke d = 0.50 bis 1.44).
Hier erst mal die Tabelle von Seite 221f in meiner deutschen Übersetzung, danach im englischen Original.
Geringe Erwartungen (d = -0.03 bis 0.20) | Hohe Erwartungen (d = 0.50 bis 1.44) |
Die eigene Rolle als Ermöglicherin, Konstruktivistin, Sozialisiererin sehen | Seine eigene Rolle als Lenkerin, aktive Macherin des Wandels, akademische Ausbilderin sehen |
Wenig Leistung erwarten und sehen, damit die eigene Sicht von geringer Leistung bestätigen | Verbesserung erwarten, Fehler sehen und negative Evidenz suchen um Verbesserungen zu schaffen |
Feste Ansichten zu Fähigkeiten/Begabungen haben | Sich Intelligenz in Abstufungen vorstellen |
Behaupten, dass sich einige verbessern können | Behaupten, dass sich alle verbessern können |
Große Unterschiede zwischen den Schülerinnen in der Klasse sehen | Geringere Unterschiede zwischen den Schülerinnen in der Klasse sehen |
Schülerinnen in recht festen Leistungsgruppen platzieren | Vorwiegend interessen-basierte Gruppen bilden |
Sehr und weniger fähigen Schülerinnen deutlich unterschiedliche Instruktionen geben | Schülerinnen an ähnlichen Aktivitäten teilnehmen lassen |
Die sehr und weniger fähigen Schülerinnen an deutlich unterschiedlichen Lernaktivitäten teilnehmen lassen | Alle Schülerinnen an ähnlichen Erfahrungen teilhaben lassen |
Leistungsziele betonen | Wert darauf legen, einzelne Aufgaben zu schaffen |
Den schwächeren Schülerinnen viel Wiederholungen und Aktivitäten auf niedrigem Niveau geben | Allen Schülerinnen Aufgaben auf fortgeschrittenem Niveau geben |
Häufig über differenzierte Aktivitäten in der Klasse sprechen | Kaum über differenzierte Aktivitäten in der Klasse sprechen |
Mehr mit den schwächeren Schülerinnen arbeiten und die stärkeren bitten selbstständig zu arbeiten | Allen Schülerinnen gleich viel Zeit widmen |
Über geringe Anstrengungsbereitschaft, Benehmen und die Klassengemeinschaft reden | Über Zuversicht, Motivation, Durchhalten und Arbeitshaltung reden |
Die Schülerinnen ständig an Verfahren und Routinen erinnern | Verfahren etabliert haben, nach denen die Schülerinnen selbstständig handeln |
Sich auf Aktivitäten und Benehmen konzentrieren | Sich auf das Lernen konzentrieren |
Auf Aufgabendetails hinweisen, die erledigt werden müssen | Häufiger über Zielsetzungen und Erfolgskriterien reden |
Meist geschlossene Fragen stellen | Sowohl offene als auch geschlossene Fragen stellen |
Häufiger das Lernen und Benehmen negativ kommentieren und wenig Vertrauen haben | Mehr positive Aussagen zum Lernen machen und hohes Vertrauen erzeugen |
Kleckerlweise Lob vergeben | Mehr kritisches Feedback geben und auf die nächsten Schritte konzentrieren |
Weniger Beobachtungen machen, weniger Einschätzungen und Rückmeldungen zum Lernen geben | Mehr Beobachtungen machen, mehr Einschätzungen und Rückmeldungen zum Lernen geben |
Die Schülerinnen vermehrt sich wiederholenden Aktivitäten auf niedrigem Niveau aussetzen | Allen Schülerinnen herausfordernde Aktivitäten vorsetzen |
Die Interessen der Schülerinnen weniger beachten und ihnen minimale Wahlmöglichkeiten lassen | Lerngelegenheiten um die Interessen der Schülerinnen herum einrichten |
Das Vorwissen der Schülerinnen wenig nutzen | Das Vorwissen der Schülerinnen nutzen um Verbindungen herzustellen |
Sich an das eigene Unterrichsskript halten | Das Unterrichtskonzept eher an die Bedürfnisse der Schülerinnen anpassen |



Und noch ein Schritt weiter
In seinem neuen Buch spitzt Hattie das Konzept der richtigen und falschen Erwartungen zu: Es geht nicht darum, den Schülerinnen dabei zu helfen, ihr Potential zu verwirklichen, sondern ihnen dabei zu helfen, das zu übertreffen, was sie selbst für ihr Potential halten!
The purpose of education should not be to help students reach their potential, as again, this lowers the aspirations for many and defeats the purpose of schooling. The prime purpose of education is to help students exceed what they think is their potential. To see in students something they may not see in themselves and to imbue them with our passion for learning.
S. 120