Faktencheck #104: Die Magie der Erwartungen (Neues von Hattie VI)

Nein, es ist nicht übertrieben, hier von „Magie“ zu sprechen: Was wir Lehrerinnen* von unseren Schülerinnen erwarten, bestimmt zu einem hohen Maße das, was sie tatsächlich schulisch leisten können – im Positiven wie im Negativen!

*Ich verwende jetzt einfach mal durchgehend die weibliche Form, um nicht dauernd gendern zu müssen.

In diesem Blog finden sich bereits mehrere Beiträge dazu: darüber, dass Erwartung Wirklichkeit erschafft (Pygmalioneffekt), über den Einfluss unseres Menschenbildes bis hinein in die Schulstrukturen, über selbsterfüllende Prophezeiungen, über Lehrerinnenglaube und Schülerinnenkönnen und über Leistungserwartungen im Mathematikunterricht.

Die Magie

Warum “Magie”? Weil die Erwartungen der Lehrerinnen durchgehend zwischen den Zeilen, indirekt und häufig unbemerkt, oft sogar unbeabsichtigt auf die Schülerinnen wirken. Sie drücken sich im Ton der Stimme, in der Zuwendung, der Körperhaltung, der Aufmerksamkeit, der Fragestellung, der Mimik, in einem Lächeln oder Stirnrunzeln, im Nicken oder Kopfschütteln, dem Anhören oder Ignorieren von Äußerungen und in vielen anderen Kleinigkeiten aus. Und Schülerinnen nehmen das auf, eben oft unbewusst, und bauen es in ihre Selbsterwartungen ein.

Gerd Mietzel beschrieb schon 1986 in seinem Buch “Psychologie in Unterricht und Erziehung” sehr detailliert, wie sich die Erwartungen äußern und was sie bewirken können (Kapitel 9.3 Erwartungseffekte im Klassenzimmer, S. 300-312). Beispiele:

“Vermeintlich schwachen Schülern wurde weniger Zeit zur Beantwortung einer Frage gegeben.”

“Lehrer hatten zu den vermeintlich schwächeren Schülern weniger Augenkontakt.”

“Für Erfolge wurden vermeintlich gute Schüler mehr gelobt als schwache.”

(Mir fällt gerade auf, dass Mietzels Ausführungen einen eigenen Blogeintrag verdienen würden…)

Auch Hatties Ausführungen könnte ich hier seitenweise zitieren. Ich beschränke mich auf die folgenden, sehr ernst zu nehmenden Aussagen.

Suchen die Lehrerinnen nach Talent um die Schülerinnen auf verschiedene Bildungswege zu sortieren oder wollen sie es in jedem Kind entwickeln?

There are differences in classrooms where teachers aim to select talent for different educational pathways (such as schools with tracking) compared with those where achievement cultures seek to develop talent in each child.

S. 220

Glauben die Lehrerinnen, dass man Leistungsfähigkeiten eh nicht ändern kann, weil angeboren?

There are differences in classes where teachers believe achievement is difficult to change because it is fixed and innate compared to teachers who believe achievement is changeable.

S. 220

Nein, deshalb müssen die Lehrerinnen damit aufhören, sich an die vermeintlichen Begabungen zu halten!

Based on this evidence, teachers must stop overemphasizing ability and start emphasizing progress (steep learning curves or acceleration are the right of all students regardless of where they start).

S. 222

Denn die Magie funktioniert leider auch in den negative Richtung.

What is more important is whether the teacher has high or low expectations. Rubie-Davies (2014, 2017; Rubie-Davies et al., 2006) found that teachers with high expectations tend to hold them for all the students in the class and successfully raise achievement, whereas those with low expectations are, sadly, also successful in the opposite direction. Further, these expectations can dramatically affect what happens in their classrooms.

S. 220

Low expectations of the students’ success are a self-fulfilling prophecy.

S. 244

Besonders bedenklich finde ich die Erkenntnis, dass Erwartungseffekte in unsere gesellschaftlichen Institutionen eingewoben sind:

“Expectancy processes do not reside solely ‘in the minds of teachers’ but instead are built into the very fabric of our institutions and our society”

S. 220, ein Zitat von Weinstein, 2009, p. 290

Die Verantwortlichen sollen damit aufhören, Schülerinnen in feste Lernpfade einzuschließen:

… stop creating schools that attempt to lock in prior achievement and experiences (e.g., via ability grouping between or within classes)

S. 222

Das mag an dieser Stelle genügen. Wenden wir uns wieder dem Verhalten der Lehrerinnen in den Klassenzimmern zu.

Lehrerinnen mit hohen und mit geringen Erwartungen

John Hattie hatte den Aspekt der Erwartungen schon in seiner ersten Metastudie Visible Learning (2009) hervorgehoben. In seiner Folgestudie The Sequel nimmt er den Faden wieder auf und arbeitet weitere Feinheiten heraus. Auf Seite 220ff fasst er die Magie der Erwartungen (expectations) zusammen und gießt sie in eine spannende Gegenüberstellung von Lehrerinnen, die geringe Erwartungen an ihre Schülerinnen haben (Effektstärke d = -0.03 bis 0.20), mit solchen, die ihnen hohe Erwartungen Erwartungen entgegenbringen (Effektstärke d = 0.50 bis 1.44).

Hier erst mal die Tabelle von Seite 221f in meiner deutschen Übersetzung, danach im englischen Original.

Geringe Erwartungen (d = -0.03 bis 0.20)Hohe Erwartungen (d = 0.50 bis 1.44)
Die eigene Rolle als Ermöglicherin, Konstruktivistin, Sozialisiererin sehenSeine eigene Rolle als Lenkerin, aktive Macherin des Wandels, akademische Ausbilderin sehen
Wenig Leistung erwarten und sehen, damit die eigene Sicht von geringer Leistung bestätigenVerbesserung erwarten, Fehler sehen und negative Evidenz suchen um Verbesserungen zu schaffen
Feste Ansichten zu Fähigkeiten/Begabungen habenSich Intelligenz in Abstufungen vorstellen
Behaupten, dass sich einige verbessern könnenBehaupten, dass sich alle verbessern können
Große Unterschiede zwischen den Schülerinnen in der Klasse sehenGeringere Unterschiede zwischen den Schülerinnen in der Klasse sehen
Schülerinnen in recht festen Leistungsgruppen platzierenVorwiegend interessen-basierte Gruppen bilden
Sehr und weniger fähigen Schülerinnen deutlich unterschiedliche Instruktionen gebenSchülerinnen an ähnlichen Aktivitäten teilnehmen lassen
Die sehr und weniger fähigen Schülerinnen an deutlich unterschiedlichen Lernaktivitäten teilnehmen lassenAlle Schülerinnen an ähnlichen Erfahrungen teilhaben lassen
Leistungsziele betonenWert darauf legen, einzelne Aufgaben zu schaffen
Den schwächeren Schülerinnen viel Wiederholungen und Aktivitäten auf niedrigem Niveau gebenAllen Schülerinnen Aufgaben auf fortgeschrittenem Niveau geben
Häufig über differenzierte Aktivitäten in der Klasse sprechenKaum über differenzierte Aktivitäten in der Klasse sprechen
Mehr mit den schwächeren Schülerinnen arbeiten und die stärkeren bitten selbstständig zu arbeitenAllen Schülerinnen gleich viel Zeit widmen
Über geringe Anstrengungsbereitschaft, Benehmen und die Klassengemeinschaft redenÜber Zuversicht, Motivation, Durchhalten und Arbeitshaltung reden
Die Schülerinnen ständig an Verfahren und Routinen erinnernVerfahren etabliert haben, nach denen die Schülerinnen selbstständig handeln
Sich auf Aktivitäten und Benehmen konzentrierenSich auf das Lernen konzentrieren
Auf Aufgabendetails hinweisen, die erledigt werden müssenHäufiger über Zielsetzungen und Erfolgskriterien reden
Meist geschlossene Fragen stellenSowohl offene als auch geschlossene Fragen stellen
Häufiger das Lernen und Benehmen negativ kommentieren und wenig Vertrauen habenMehr positive Aussagen zum Lernen machen und hohes Vertrauen erzeugen
Kleckerlweise Lob vergebenMehr kritisches Feedback geben und auf die nächsten Schritte konzentrieren
Weniger Beobachtungen machen, weniger Einschätzungen und Rückmeldungen zum Lernen gebenMehr Beobachtungen machen, mehr Einschätzungen und Rückmeldungen zum Lernen geben
Die Schülerinnen vermehrt sich wiederholenden Aktivitäten auf niedrigem Niveau aussetzenAllen Schülerinnen herausfordernde Aktivitäten vorsetzen
Die Interessen der Schülerinnen weniger beachten und ihnen minimale Wahlmöglichkeiten lassenLerngelegenheiten um die Interessen der Schülerinnen herum einrichten
Das Vorwissen der Schülerinnen wenig nutzenDas Vorwissen der Schülerinnen nutzen um Verbindungen herzustellen
Sich an das eigene Unterrichsskript haltenDas Unterrichtskonzept eher an die Bedürfnisse der Schülerinnen anpassen

Und noch ein Schritt weiter

In seinem neuen Buch spitzt Hattie das Konzept der richtigen und falschen Erwartungen zu: Es geht nicht darum, den Schülerinnen dabei zu helfen, ihr Potential zu verwirklichen, sondern ihnen dabei zu helfen, das zu übertreffen, was sie selbst für ihr Potential halten!

The purpose of education should not be to help students reach their potential, as again, this lowers the aspirations for many and defeats the purpose of schooling. The prime purpose of education is to help students exceed what they think is their potential. To see in students something they may not see in themselves and to imbue them with our passion for learning.

S. 120

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