Faktencheck #63: Leistungen erwarten!

Das Thema hatten wir schon häufiger, zuletzt hier: Die Leistungen, die Schüler:innen im Unterrichts oder in Tests zeigen, hängen in starkem Maße von den Erwartungen ab, die Lehrkräfte an sie richten. Wer wenig erwartet, wird wenig erhalten, und umgekehrt; das ist eine Frage des Menschenbildes. Es folgen Auszüge aus einer neueren Studie, die diesen Zusammenhang bestätigt.


Hollenstein, L., Affolter, B. & Brühwiler, C. (2019). Die Bedeutung der Leistungserwartung von Lehrpersonen für die Mathematikleistungen von Schülerinnen und Schülern. Zeitschrift für Erziehungswissenschaft 22 (4), 791–809.


Das Gesamtbild

In der “Kurzen Geschichte der Leistung” hatte ich die unten abgebildete Struktur vorgeschlagen, die zeigt, was alles eine Rolle spielt, wenn wir Lehrpersonen die Leistung eines/r Schüler:in beurteilen. Oder anders ausgedrückt: welche Welten zwischen der Begabung eines Kindes und dem Lehrerurteil liegen können. Der behandelte Aufsatz befasst sich mit den Erwartungen im Zweig rechts oben.

Eigene Übersicht des Verfassers; zur Vergrößerung bitte anklicken.

Forschungsüberblick: Welchen Einfluss Lehrer-Erwartungen auf Schüler-Leistungen haben

An den Beginn ihres Aufsatzes haben Hollenstein et al. einen umfangreichen Überblick über den Stand der Forschung gesetzt. Hier nur ein kurzer Ausschnitt:

Nach Wang et al. (2018) ist es wichtig, dass sich Lehrpersonen über Vorurteile und Stereotypen gegenüber ihren Schülerinnen und Schülern bewusst sind, eine angemessene und hohe Erwartung, im Sinne der proximalen Entwicklung (Vygotsky 1978), an die Schülerinnen und Schüler stellen und sie durch das Bereitstellen einer optimalen Lernumgebung darin unterstützen ihr/sein Bestes zu geben. Um dies zu erreichen ist unter anderem ein hohes Professionswissen von Bedeutung, denn dies dürfte den Lehrpersonen helfen, eine reflektierte und differenzierte Meinung über die Leistungen der Schülerinnen und Schüler zu bilden, sich weniger von Vorurteilen oder Stereotypen leiten zu lassen und hohe Leistungserwartungen bewusst einzusetzen. Folglich kann angenommen werden, dass ein höheres Professionswissen mit einer hohen Leistungserwartung und damit verbunden einem anspruchsvolleren Unterricht einhergeht. (Hollenstein et al. 2019, S. 794)

Es gibt kaum Untersuchungen über den Wirkungszusammenhang

Über den Wirkungszusammenhang zwischen der Leistungserwartung von Lehrpersonen und der Schülerinnen- und Schülerleistung besteht weitgehend Einigkeit, obwohl es kaum empirische Untersuchungen gibt, die den theoretisch postulierten Wirkungszusammenhang im Gesamten empirisch geprüft haben (West und Anderson 1976; Babad 1990; Rubie-Davies 2009;Wang et al. 2018). Es wird davon ausgegangen, dass die Leistungserwartung von Lehrpersonen ihr Verhalten im Unterricht beeinflusst und so ihre Leistungserwartung gegenüber den Schülerinnen und Schülern offenbart. Den Schülerinnen und Schülern soll dieses unterschiedliche Verhalten auffallen, sodass sie es interpretieren und in ihr eigenes Selbstkonzept integrieren, was letztlich die Schülerinnen- und Schülerleistung beeinflusst (z.B. West und Anderson 1976; Harris und Rosenthal 1985; Babad 1990; McKown und Weinstein 2008; Dubs 2009; Ludwig 2010; Kunter und Pohlmann 2015). (Hollenstein et al. 2019, S. 795)

Forschungsfrage 1

Hängt die durchschnittliche Leistungserwartung von Lehrpersonen mit ihrem Professionswissen (Mathematikwissen, mathematikdidaktisches Wissen, pädagogisch-psychologisches Wissen) zusammen? (Hollenstein et al. 2019, S. 796)

Forschungsfrage 2a

Besteht ein Zusammenhang zwischen der Leistungserwartung von Lehrpersonen und der Schülerinnen- und Schülerleistung? (Hollenstein et al. 2019, S. 796)

Forschungsfrage 2b

Gibt es unter Kontrolle des Professionswissens einen Zusammenhang zwischen der Leistungserwartung von Lehrpersonen mit der Schülerinnen- und Schülerleistung? (Hollenstein et al. 2019, S. 797)

Ergebnis zur Frage 1

Im Fokus dieser Studie stehen die Zusammenhänge der (durchschnittlichen) Leistungserwartung von Lehrpersonen mit ihrem Professionswissen (Mathematikwissen, mathematikdidaktisches Wissen und pädagogisch-psychologisches Wissen) sowie mit der Mathematikleistung von Schülerinnen und Schülern.
Forschungsfrage 1 fokussiert den Zusammenhang zwischen der durchschnittlichen Leistungserwartung von Lehrpersonen und ihrem Professionswissen. In den Daten zeigt sich wider Erwarten kein signifikanter Zusammenhang zwischen der durchschnittlichen Leistungserwartung von Lehrpersonen und den drei untersuchten Bereichen des Professionswissens.
(Hollenstein et al. 2019, S. 803)

Ergebnis zur Frage 2a

Erwartungsgemäß wird ein positiver Zusammenhang zwischen der Leistungserwartung von Lehrpersonen und der Schülerinnen- und Schülerleistung in Mathematik deutlich. Dieses Ergebnis unterstützt die Annahme, dass sich eine gewisse Überschätzung positiv auf die Schülerinnen- und Schülerleistung auswirkt (Timmermans et al. 2015). (Hollenstein et al. 2019, S. 804)

Ergebnis zur Frage 2b

Wenn das Professionswissen in das Modell mit aufgenommen wird, verliert die Leistungserwartung nicht an Bedeutung, obwohl das Mathematikwissen sowie das pädagogisch-psychologische Wissen ebenfalls positiv mit der Schülerinnen- und Schülerleistung in Zusammenhang stehen. Das mathematikdidaktische Wissen zeigt hingegen keinen signifikanten Zusammenhang mit der Schulleistung im Fach Mathematik. (Hollenstein et al. 2019, S. 804)

Hohe Leistungserwartung mindert Herkunftseffekte

Die Ergebnisse bestätigen die große Bedeutung des Vorwissens bzw. der Vortestleistung für schulisches Lernen (Hattie 2013). In den vorliegenden Daten wird durch das Vorwissen sowohl auf der Schüler- als auch auf der Klassenebene am meisten Varianz in der Mathematikleistung am Ende des Schuljahres erklärt. Erwähnenswert ist, dass die soziale Herkunft der Schülerinnen und Schüler nicht mehr statistisch signifikant mit deren Mathematikleistung zusammenhängt, wenn die Leistungserwartung von Lehrpersonen in die Modelle aufgenommen wird. Dieses Ergebnis deutet darauf hin, dass eine hohe Leistungserwartung von Lehrpersonen zu einer Reduktion des Zusammenhangs der sozialen Herkunft mit dem Lernerfolg der Schülerinnen und Schüler beitragen kann. Dies würde die Bedeutung der Leistungserwartung nicht nur für das schulische Lernen von Schülerinnen und Schülern betonen (Wang et al. 2018), sondern auch einen möglichen Ansatzpunkt liefern, um den Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Lernerfolg etwas zu entkoppeln und somit einer Verfestigung von Bildungsungleichheiten entgegenzuwirken. (Hollenstein et al. 2019, S. 804)

Folgerungen für die Lehrerausbildung

Der gefundene positive Zusammenhang zwischen der Leistungserwartung von Lehrpersonen und der Schülerinnen- und Schülerleistung ist für die Lehrerausbildung und die Berufspraxis insofern bedeutend, da sich die Frage stellt, inwiefern in der Aus- und Weiterbildung von Lehrpersonen neben dem Professionswissen auch die Leistungserwartung einer Lehrperson thematisiert werden sollte. Interventionsstudien zeigen, dass Lehrpersonen ein Verhalten erlernen können, welches jenem von Lehrpersonen mit einer hohen Leistungserwartung ähnlich ist und dieses erlernte Verhalten die Leistung von Schülerinnen und Schülern zumindest im Fach Mathematik positiv beeinflussen kann (Fischer und Rustemeyer 2007; Rubie-Davies et al. 2015). Die vorliegenden Ergebnisse liefern, wenn auch mit einigen Einschränkungen, wichtige Hinweise für die bedeutende Rolle von Lehrpersonen. (Hollenstein et al. 2019, S. 806)

Beiträge zum Thema

Faktencheck #60: Lehrerglaube beeinflusst Schülerkönnen

John Hattie hat geraten, den SchülerInnen keine Etiketten anzuhängen, weil diese sich sonst auf ihr Selbstkonzept negativ auswirken können. Das bedeutet, dass sich die Lehrererwartungen auf die Leistung auswirken.

Autin und andere haben auf folgenden Effekt hingewiesen: Die Lehrkräfte, die davon ausgehen, dass in unseren Schulen die Selektion gerecht funktioniert, die legen weniger Wert auf die Förderung schwacher Schüler.

1 comments On Faktencheck #63: Leistungen erwarten!

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