Dass die Erwartung, die wir Lehrer an die Leistungen eines Kindes haben, dieses unseren Erwartungen gemäß formt, wurde immer wieder beschrieben. Jedem Lehrer und jeder Lehrerin begegnet in der Ausbildung der Pygmalion-Effekt, auf den auch John Hattie in dieser Veröffentlichung eingeht, und der in diesem Blog bereits beim Menschenbild und bei der Frage nach der Diagnosekompetenz von Lehrkräften angesprochen wurde. Hier ein Aufsatz, der die Lehrererwartungen in Verbindung bringt mit dem mathematischen Selbstkonzept von Grundschulkindern.
Heyder, A., Steinmayr, R. & Kessels, U. (2019). Do Teachers’ Beliefs About Math Aptitude and Brilliance Explain Gender Differences in Children’s Math Ability Self-Concept? Frontiers in Education 4, 385. doi:10.3389/feduc.2019.00034
Ausgangshypothese
Den Zusammenhang, der geprüft wurde, möchte ich zunächst mit einem selbst erstellten Diagramm vereinfacht vergegenwärtigen und anschließend ein paar Einzelheiten aus der Studie zitieren. Da auch in dieser Untersuchung die meisten Grundschullehrkräfte weiblichen Geschlechts waren, werde ich konsequenter Weise die weibliche Form verwenden. Dies scheint mir nämlich ein zusätzliches Schlaglicht auf die Ergebnisse zu werfen.

Ausgangsfrage zu Selbstkonzept und Lehrereinstellungen
In einer Re-Analyse der FA(IR)BULOUS-Studie stellten sich die AutorInnen folgende Leitfragen: Woher kommt es, dass Frauen aufs Ganze gesehen, in ihren Berufen weniger mit Mathe zu tun haben (wollen) als Männer? Lässt sich das durch die unterschiedlichen mathematischen Selbstkonzepte oder -erwartungen der Schülerinnen und Schüler erklären, die sich schon in der Grundschule herausbilden? Welche Rolle spielen dabei die Einstellungen und Erwartungen der Lehrerinnen?
Why do women end up pursuing less math-intensive careers than men? In this study, we aimed to explain gender differences in a powerful and early predictor of math-related achievement and career choices, that is elementary school students’ ability self-concept (e.g., Eccles, 2011; Musu-Gillette et al., 2015). We focused on the role that teachers’ beliefs play in gender differences in math ability self-concepts. More precisely, we were interested in exploring whether teachers’ ascription of higher math talent to boys compared to girls might contribute to girls’ lower ability self-concept in math. In addition, we tested whether teachers’ belief that success in math requires an innate ability might be detrimental for girls’ but not boys’ selfconcept of ability. (Heyder et al. 2019, S. 7)
Bei gleicher Leistung haben Jungs ein höheres mathematisches Selbstkonzept
Es wurden 830 Grundschüler in Deutschland mit ausgeglichener Anzahl an Jungs und Mädchen und mit einem Durschnittsalter von 9,14 Jahren untersucht und dazu 56 Grundschullehrkräfte, 94,6% davon weiblich, im Schnitt an die 45 Jahre alt. Obwohl ein standardisierter Mathetest keine signifikant unterschiedlichen Geschlechterleistungen ergab, zeigten die Jungs ein positiveres mathematisches Selbstkonzept als die Mädchen.
Our analyses were based on an elementary school sample of teachers and fourth graders from Germany. In line with prior meta-analyses (e.g., Else-Quest et al., 2010; Reilly et al., 2015), only negligible gender differences in a standardized math competence test were found. Nonetheless, boys already reported a more positive ability self-concept in math than girls, supporting Hypothesis 1. This finding is in line with findings from earlier studies with elementary students (Tiedemann, 2000b; Fredricks and Eccles, 2002; Herbert and Stipek, 2005; Ganley and Lubienski, 2016; Gentrup and Rjosk, 2018). (Heyder et al. 2019, S. 7)
Bei gleicher Leistung beschreiben Lehrerinnen die Jungs als mathematisch talentierter als die Mädchen
Obwohl es kaum wahrnehmbare Unterschiede in den Testleistungen gab, hielten die Lehrerinnen die Jungs für mathematisch talentierter.
While male and female students did not differ in their standardized test performance, teachers described their male students as more talented in math than their female students, corroborating Hypothesis 2 and validating earlier studies on teachers’ gender-bias in math (e.g., Li, 1999; Cimpian et al., 2016; Hand et al., 2017; Holder and Kessels, 2017; Gentrup and Rjosk, 2018). (Heyder et al. 2019, S. 7)
Diese Einstellung der Lehrerinnen wirkt sich stark auf das mathematische Selbstkonzept der Kinder aus
Bis zum Ende der Grundschule scheinen die Kinder den Geschlechter-Stereotyp ihrer Lehrerin in Mathe aufgenommen zu haben. Diesen Umstand finden Heyder et al. mit Recht “alarmierend”.
As expected in Hypotheses 4, these genderbiased aptitude ratings of the teachers proved to account for half of the gender gap in math ability self-concepts. Students at the end of elementary school seem to have internalized their teachers’ gender bias in talent ascription in math, with the result that girls perceive their talent for math to be lower than boys. This is an alarming finding, given the importance of math ability self-concepts for future achievement and choices in STEM subjects (e.g., Wang and Degol, 2013; Musu-Gillette et al., 2015). (Heyder et al. 2019, S. 7)
Weitergehende Fragen
Warum transportieren die Grundschullehrerinnen diesen Gender-Stereotyp? Hängt das damit zusammen, dass sie in einer Gesellschaft aufgewachsen sind, die diese Fehleinschätzung über Jahrzehnte und Jahrhunderte tradiert hat? Aber das müsste ja auch für die männlichen Lehrpersonen gelten: Würde es bei ihnen ähnlich laufen? Das wäre eine einigermaßen interessante Frage für eine Folgestudie.
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