Faktencheck #51: Herkunft ist entscheidender als Leistung

Wir hatten das in diesem Blog schon öfter: Für den Bildungserfolg eines Kindes und Jugendlichen ist die familiäre Herkunft wesentlich entscheidender als seine eigentliche Leistungsfähigkeit. Blossfeld, Blossfeld & Blossfeld (!) von der Uni Bamberg stellen in einem aktuellen Überblicksartikel die wesentlichen Herkunftseffekte in erfreulicher Klarheit dar und kommen zu einem bezeichnenden Fazit.


Blossfeld, H.-P., Blossfeld, G. J. & Blossfeld, P. N. (2019). Soziale Ungleichheiten und Bildungsentscheidungen im Lebensverlauf. Die Perspektive der Bildungssoziologie. Journal for educational research online 11 (1), 16–30.


Zustandsbeschreibung

In Deutschland ist der Einfluss der sozialen Herkunft auf die Bildungschancen von Kindern ebenso hartnäckig wie erklärungsbedürftig

In Deutschland gehört die soziale Herkunft zu den wichtigsten Faktoren, die die Bildungschancen von Schülern beeinflussen. So haben die großangelegten internationalen Schulleistungsstudien wie die Progress in International Reading Literacy Study (PIRLS/IGLU), die Trends in International Mathematics and Science Study (TIMSS) und das Programme for International Student Assessment (PISA) immer wieder gezeigt, dass die Kompetenzen der deutschen Schüler im internationalen Vergleich stark von der sozialen Herkunft abhängen (Bos, 2008; Bos, Wendt, Köller & Selter, 2012; Bos, Eickelmann & Gerick, 2014; Hußmann et al., 2017; Reiss, Sälzer, Schiepe-Tiska, Klieme & Köller, 2016).

Darüber hinaus haben langfristig angelegte soziologische Studien nachgewiesen, dass trotz massiver Bildungsexpansion und vielfältiger Reformen im Bildungssystem in den letzten Jahrzehnten die herkunftsspezifischen Bildungschancen relativ unverändert geblieben sind (Becker, 2003; Blossfeld, 1984; Blossfeld, 1989; Hadjar & Becker, 2017; Müller & Haun, 1994; Shavit & Blossfeld, 1993). Damit wird die Hartnäckigkeit des Einflusses der sozialen Herkunft auf die Bildungsentscheidungen der Kinder, Jugendlichen und jungen Erwachsenen in Deutschland erklärungsbedürftig. (Blossfeld et al. 2019, S. 17)

Blossfeld Abb1
Wechselwirkungen (Blossfeld et al. 2019, S. 18)

Die Bildungsprozesse verlaufen kumulativ, also nach Maßgabe des Matthäusprinzips: “Wer hat, dem wird gegeben”

Die Lebensverlaufsforschung zeigt, dass heute die Bildungsprozesse vom Baby bis zum Greis meist kumulativ verlaufen (Blossfeld, Kilpi-Jakonen & Vono de Vilhena, 2014; Blossfeld, Kulic, Skopek & Triventi, 2017; Blossfeld, Buchholz, Skopek & Triventi, 2016). Das heißt, sie vollziehen sich nach dem Matthäus-Prinzip: Wer in einem bestimmten Lebensalter bereits ein höheres Bildungs- oder Kompetenzniveau erreicht hat, der hat auch im nächsten Schritt die jeweils bessere Chance, diese Vorteile noch weiter auszubauen. Kompetenzunterschiede zwischen verschiedenen sozialen Gruppen verschärfen sich deswegen tendenziell über den Bildungs- und Lebensverlauf.

Abbildung 1 stellt diesen dynamischen Zusammenhang schematisch dar. Durch herkunftsspezifische Unterschiede in den Bildungsentscheidungen werden die Lernenden in verschiedene Lernumwelten kanalisiert, wo sie jeweils unterschiedliche Lernerfahrungen machen und Kompetenzfortschritte erzielen, die dann im weiteren Bildungsverlauf die Grundlage für die Entscheidungen der Familien und ihrer Kinder darstellen. (Blossfeld et al. 2019, S. 18)

Primäre, sekundäre und tertiäre Herkunftseffekte

Die Effekte habe ich bisher noch nie so erfreulich deutlich beschrieben gefunden. Hier zunächst die Überblicksgrafik (S. 20), anschließend die Erläuterungen.

Blossfeld Abb2

[Die Originalgrafik wird möglicherweise unscharf wiedergegeben, deshalb hier der linke Teil in Vergößerung:]

Blossfeld Abb2b

Soziale Herkunft: Die Bildung der Eltern

Dabei repräsentiert die Bildung der Eltern die Unterstützung der Kinder bei den Hausaufgaben und das Beraten über die Wege im Bildungssystem (Bukodi & Goldthorpe, 2013). Höher gebildete Eltern können ihren Kindern in der Schule helfen, wenn diese Probleme haben.

Außerdem haben sie selber Erfahrung mit dem akademischen Bildungsweg und wissen, dass man vielleicht auch nur mit durchschnittlichen Schulleistungen das Gymnasium und ein Universitätsstudium erfolgreich absolvieren kann (Blossfeld, 2018). (Blossfeld et al. 2019, S. 19)

Soziale Herkunft: Die Klassenposition der Eltern

Die Klassenposition der Eltern steht für die ökonomischen Ressourcen, die Familien zur Verfügung stehen um ihren Kindern in der Schule zu helfen (Bukodi & Goldthorpe, 2013). Familien in höheren Klassenpositionen verfügen meistens über mehr finanzielle Ressourcen, die es Ihnen erlauben bei schulischen Problemen ihrer Kinder eine Nachhilfe zu bezahlen und sie können ihren Kindern ein förderliches Lernumfeld schaff en in dem zum Beispiel jedes Kind ein eigenes Zimmer bekommt (Blossfeld, 2018).

Des Weiteren gibt die Klassenposition der Eltern darüber Auskunft wie weitsichtig Familien die Bildungskarrieren ihrer Kinder planen können (siehe Zeithorizonttheorie; Blossfeld, 2018; Hillmert & Jacob, 2003). Eltern in höheren Klassenpositionen haben meistens sicherere Arbeitsplätze und bessere Karrieremöglichkeiten, die es ihren Kindern erlauben von Anfang an eine kostspieligere und langwierigere akademische Ausbildung in Betracht zu ziehen (Blossfeld, 2018). (Blossfeld et al. 2019, S. 19)

Soziale Herkunft: Die Statusposition der Eltern

Die Statusposition der Eltern (im Sinne von Weber, 1976) repräsentiert das soziale Netzwerk das einer Familie zur Verfügung steht um ihren Kindern in der Schule zu helfen und deren Bildungsaspirationen beeinfl usst (Bukodi & Goldthorpe, 2013; Erikson, 2016). So sollten Freunde, Verwandte und Bekannte von Familien mit einem hohen Status eher hohe Bildungsaspirationen haben.

Diese hohen Erwartungen werden auf die Familien und ihre Kinder projiziert, so dass diese Kinder eine nichtakademische Bildung nicht mehr als Option wahrnehmen (Blossfeld, 2018). Außerdem steht der Status der Eltern nach Bukodi und Goldthorpe (2013) auch für die kulturellen Ressourcen die Kinder in Familien erlernen und die mit den Mittelschichtstandards, die im akademischen Bildungsweg von Lehrern und Schulen erwartet werden, besser harmonieren (Blossfeld, 2018). (Blossfeld et al. 2019, S. 19–20)

Primäre Herkunftseffekte (I): kognitive Fähigkeiten

Ungleichheiten in den kognitiven Fähigkeiten, welche in der frühen Kindheit durch Unterschiede im Familienhintergrund geprägt werden, werden häufi g als primäre Eff ekte der sozialen Herkunft auf den Bildungserfolg bezeichnet (vgl. Boudon, 1974). Die Bedeutung der kognitiven Fähigkeiten in der Vorhersage von Bildungserfolg in der Schule und Erfolg im späteren Erwachsenenalter ist in der Literatur gut dokumentiert (Almlund, Duckworth, Heckmann & Kautz, 2011).

Dieser Effekt ist stark durch die Bildungsressourcen der Eltern bestimmt, da die Eltern die bedeutendsten Agenten sind, die die primären und weitestgehend auch sekundären Sozialisationsprozesse gestalten. Es wird dabei angenommen, dass ihre Bildung einen starken Einfluss auf die alltägliche Interaktion mit den Kindern und das Niveau der kognitiven Stimulation in der häuslichen (Lern-)Umwelt hat (Blossfeld, Blossfeld & Blossfeld, 2015). (Blossfeld et al. 2019, S. 20–21)

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Die Bildung der Eltern ist maßgeblich für den Schulerfolg der Kinder. Quelle: Pixabay

Primäre Herkunftseffekte (II): nicht-kognitive Fähigkeiten

Der Erfolg an den verschiedenen Bildungsübergängen wird auch durch nichtkognitive Fähigkeiten bestimmt (vgl. primärer Effekt II in Abbildung 2). In der Psychologie versteht man unter nicht-kognitiven Fähigkeiten Persönlichkeitsvariablen wie zum Beispiel Metakompetenzen, Selbstkonzept, Selbstregulation und soziale Kompetenzen (Weinert et al., 2011). Elterliche Bildung spielt dabei eine absolut zentrale Rolle für die Entwicklung der nicht-kognitiven Kompetenzen von Kindern (Almlund, Duckworth, Heckman & Kantz, 2011; Carneiro & Heckman, 2005; Kohn & Slomczynski, 1990).

Eltern können dabei die Ziele und die Wahrnehmung sowie das Selbstkonzept und Wahlmöglichkeiten der Kinder durch das Informations- und Erfahrungsangebot beeinflussen. Kinder aus höhergebildeten Familien profitieren dabei auch von einem stärkeren akademischen Klima zu Hause. Über den Lebensverlauf hinweg sind Schüler immer häufiger dazu gezwungen eigene Bildungsentscheidungen zu treffen, sodass nicht-kognitive Fähigkeiten mit steigendem Alter immer mehr an Bedeutung gewinnen. (Blossfeld et al. 2019, S. 21)

Sekundärer Herkunftseffekt: Bildungslaufbahnentscheidungen

Der sekundäre Effekt beschreibt die unterschiedlichen Bildungsentscheidungen verschiedener Herkunftsfamilien bei vergleichbaren kognitiven Fähigkeiten ihrer Kinder. Dabei spielen Kosten-Nutzen-Überlegungen von Familien und ihren Kindern die entscheidende Rolle. Die (subjektiv) erwarteten Kosten höherer Bildungsabschlüsse sind dabei für Familien mit geringen Herkunftsressourcen in der Regel höher. Gleichzeitig wird der subjektive Nutzen und die Erfolgswahrscheinlichkeit von diesen Familien als geringer eingeschätzt (Boudon, 1974).

Deswegen schätzen Familien mit geringen Herkunftsressourcen typischerweise den Wert eines zukünftigen höheren Bildungsniveaus niedriger ein (höhere Zeitpräferenzen) und entscheiden sich daher seltener für akademisch anspruchsvollere und wirtschaftlich lohnenswertere Laufbahnen (hohe Risikoaversion) (Breen, van de Werfhorst & Jaeger, 2014; Erikson & Jonsson, 1996a).

Aus einer soziologischen Perspektive hat der Mechanismus des Statuserhalts eine besondere Bedeutung (Breen & Goldthorpe, 1997, S. 283). Danach streben Eltern für ihre Kinder mindestens einen Bildungsabschluss an der mit ihrem vergleichbar ist. Das heißt, dass unterschiedliche Herkunftsfamilien verschiedene Bildungsziele für ihre Kinder haben. Zum Beispiel bedeutet ein mittlerer Bildungsabschluss für die eine Familie einen Aufstieg, während er für eine akademische Familie ein Abstieg ist. (Blossfeld et al. 2019, S. 21)

Der herkunftsspezifische sekundäre Effekt ist im mittleren Kompetenz- und Notenbereich am größten

Bei ein und derselben mittleren Kompetenz, entscheiden sich privilegierte Familien häufiger dafür ihr Kind auf ein Gymnasium zu schicken als Familien mit geringeren Herkunftsressourcen. Mit anderen Worten, der herkunftsspezifische sekundäre Effekt ist im mittleren Kompetenz- und Notenbereich am größten. (Blossfeld et al. 2019, S. 23)

Tertiärer Herkunftseffekt: Bildungsempfehlungen der LehrerInnen

Es gibt zahlreiche empirische Belege dafür, dass Kinder höherer sozialer Herkunft, bei gleichen schulischen Leistungen und Schulnoten wie Kinder niedrigerer sozialer Herkunft, einfacher eine Lehrerempfehlung für den akademischen Bildungszweig erhalten und häufiger an der nächsthöheren Bildungsinstitution aufgenommen werden. Für diese Bevorzugung von Kindern aus Familien mit höheren Herkunftsressourcen gibt es mindestens drei Gründe (Ditton, 2010):

(a) Generell bescheinigen Lehrer Kindern aus Familien mit besseren Herkunftsressourcen höhere schuladäquate nicht-kognitive Fähigkeiten (Erikson & Jonsson, 1996b). Es scheint also so zu sein (wie von Bourdieu (1973) beschrieben), dass höhergebildete Eltern ihre Kinder mit einem kulturellen Kapital ausstatten welches sie im Schulkontext erfolgreicher sein lässt.

(b) Grundschullehrer unterstellen bessergebildeten Eltern, dass sie eher in der Lage sind ihre Kinder bei Problemen auf der höheren Schule zu unterstützen. Folglich schreiben sie diesen Kindern höhere Erfolgswahrscheinlichkeiten im Hinblick auf deren Bildungskarriere zu.

Und (c) üben besser gebildete Eltern generell mehr Druck auf Lehrer und Bildungsinstitutionen aus, falls dies aus ihrer Sicht nötig sein sollte. (Blossfeld et al. 2019, S. 23)

Was hier nicht zur Sprache kommt, ist die Kritik an den diagnostischen Fähigkeiten der LehrerInnen und an der Notengebung. Siehe dazu die Hinweise ganz unten.

Übergangsentscheidung: den Eltern überlassen oder auf Noten gründen?

Auch bundeslandspezifische institutionelle Rahmenbedingungen haben einen erheblichen Einfluss auf die Bildungsentscheidungen und somit auf die Reproduktion sozialer Ungleichheit. Größere elterliche Entscheidungsspielräume beim Übergang zu den weiterführenden Schulen (wie zum Beispiel in Hessen), bieten insbesondere für Kinder aus Familien mit besseren Ressourcen höhere Chancen höhere Bildung zu erlangen.

In Schulsystemen, in denen die Übergangsempfehlungen stärker auf Noten basieren (wie beispielsweise in Bayern), ist in letzter Instanz die Lehrerempfehlung ausschlaggebend und die Bildungsaspirationen privilegierter Familien werden dadurch etwas gebremst. Zum Beispiel zeigt Dollmann (2016) in einer Untersuchung, dass Kinder aus benachteiligten Familien dann eine größere Chance haben, auf das Gymnasium zu gehen, wenn die Übergangsentscheidungen stärker auf die tatsächlichen Schulnoten bezogen sind. Dadurch werden die überschießenden Bildungsaspirationen von Mittelschichteltern mit Kindern mit mittlerer Kompetenz beschränkt. (Blossfeld et al. 2019, S. 23)

Durchlässigkeit und Bildungsmöbilität

Mehr Akademisierung bei unveränderten herkunftsspezifischen Ungleichheiten

Blossfeld (2018) zeigt auf der Grundlage von Längsschnittdaten des Nationalen Bildungspanels (NEPS), dass über die Kohorten der Anteil der Kinder die nach der Grundschule den Übergang zum akademischen Bildungszweig machen, angestiegen ist. Entsprechend haben die Übergangsraten der Kinder nach der Grundschule zum nichtakademischen Bildungszweig über die Kohorten abgenommen. Obwohl damit alle Kinder verschiedener Herkunftsgruppen von dieser Öffnung profitiert haben, bleiben die relativen herkunftsspezifischen Bildungsungleichheiten bestehen. (Blossfeld et al. 2019, S. 24)

Geringe Durchlässigkeit in der Sekundarstufe I; diese ist meist abwärts gerichtet

Trotz der Bildungsreformen, die das Ziel hatten die Durchlässigkeit zwischen den Schulen in der Sekundarstufe I zu erhöhen, ist die Mobilität zwischen den verschiedenen Bildungszweigen im Kohortenvergleich erstaunlich gering. Falls es Mobilität von Schülern gibt, ist Abwärtsmobilität häufiger als Aufwärtsmobilität. Kinder von niedrig gebildeten Eltern haben dabei eine höhere Abwärtsmobilität und Kinder von hoch gebildeten Eltern sowie einem hohen Status sind eher aufwärts mobil. (Blossfeld et al. 2019, S. 24)

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Bayern: Für ein Kind, das in Sek I aufs Gymnasium wechselt, fallen 19 heraus. Quelle: eigene Montage

Nach Sekundarstufe I erhöhte Aufwärtsmobilität

Im Vergleich zur Sekundarstufe I, hat die Aufwärtsmobilität nach einem ersten Bildungsabschluss auf dem nichtakademischen Bildungsweg über die Kohorten hinweg deutlich zugenommen. Jugendliche mit einem Haupt- oder Realschulabschluss entscheiden sich von Kohorte zu Kohorte immer häufiger dafür, eine Hochschulzugangsberechtigung nachzuholen. Vor allem Kinder aus privilegierten Familien nutzen diesen zweiten Bildungsweg mit einer höheren Wahrscheinlichkeit (Blossfeld, 2018). (Blossfeld et al. 2019, S. 24)

Nach Sekundarstufe II werden wieder herkunftsspezifisch unterschiedliche Wege beschritten

Gleichzeitig hat der Anteil der Schüler mit einer Hochschulzugangsberechtigung, die sich dann für eine berufliche Ausbildung entscheiden, über die Kohorten deutlich zugenommen. Hierbei handelt es sich vor allem um junge Erwachsene aus Familien mit geringen Herkunftsressourcen. Kinder mit einer Hochschulzugangsberechtigung, die aus Familien mit hohen Herkunftsressourcen stammen, entscheiden sich hingegen häufiger für einen tertiären Bildungsabschluss. (Blossfeld et al. 2019, S. 24)

Abmilderung der Herkunftseffekte durch Modernisierung? Die Modernisierungstheorie hat sich nicht bestätigt

Nach dieser Theorie expandiert das Bildungssystem als Reaktion auf die funktionalen Anforderungen in modernen Gesellschaften. In diesem Modernisierungsprozess werden alle Eltern zunehmend besser durch die Massenmedien über die Bildungschancen und -möglichkeiten ihrer Kinder informiert, sodass der sekundäre Effekt der sozialen Herkunft abnehmen sollte.

Darüber hinaus sollten nach dieser Theorie Auswahlverfahren im Bildungssystem rationaler und meritokratischer werden, was dann auch zu einem Sinken des tertiären Effekts der sozialen Herkunft führen sollte. Bildungschancen sollten somit zunehmend nur noch von den Schülerleistungen abhängen (die primären Effekte I und II der sozialen Herkunft). Die große Mehrzahl der empirischen Ergebnisse zeigt, dass die Vorhersagen der Modernisierungstheorie im Grunde nicht eingetroffen sind. Weiterhin sind die Bildungsentscheidungen verschiedener Herkunftsgruppen von großer Bedeutung. (Blossfeld et al. 2019, S. 25)

Die Theorie der kulturellen Reproduktion lässt sich bestätigen

Ein angemesseneres Modell scheint vielmehr die Theorie der kulturellen Reproduktion zu sein (Bourdieu, 1973; Bowles & Gintis, 1976; Collins, 1979). Sie behauptet, dass Bildungszertifikate die soziale Ungleichheit auf dem Arbeitsmarkt legitimieren. Vertreter dieser Theorie erkennen jedoch einen inhärenten Konflikt zwischen der Auswahl- und Sozialisationsfunktion von Bildung. Eine wesentliche Rolle von Bildungsinstitutionen ist die Integration von Kindern mit niedriger sozialer Herkunft in das vorherrschende Wertesystem der Gesellschaft (Meyer, Ramirez, Rubinson & Boli-Bennett, 1977).

Die Bildungsexpansion der Sekundarstufe II steht im Einklang mit der steigenden Nachfrage benachteiligter Gruppen nach mehr Bildung. Mit anderen Worten, im Zuge der Bildungsexpansion von unten wird nicht nur das Erreichen der Grundschulbildung, sondern auch die Sekundarstufe I und II universal und zunehmend unabhängig von der sozialen Herkunft (Shavit & Blossfeld, 1993). In diesem Prozess sind über die Kohorten hinweg Familien mit besseren Herkunftsressourcen in der Regel die Vorreiter in den Bildungsentscheidungen, während Familien mit niedrigen Herkunftsressourcen häufig die Nachzügler sind (Blossfeld, Blossfeld & Blossfeld, 2015).

Gleichzeitig wollen sich die privilegierten Gruppen ihre Vorteile im oberen Teil des Ungleichheitssystems erhalten. Sie bewahren ihre Privilegien durch den Erwerb eines Hochschulabschlusses. Dies ist aufgrund der Persistenz von primären, sekundären und tertiären Effekten der sozialen Herkunft möglich (siehe Abbildung 2). Das bedeutet, dass im Zuge des Ausbaus der tertiären Bildung der Anstieg der Bildungsnachfrage von Kindern höherer sozialer Herkunft immer größer sein sollte als der Anstieg der Bildungsnachfrage von Kindern niedriger sozialer Herkunft. (Blossfeld et al. 2019, S. 25)

Theorie der Maximally Maintained Inequality

Raftery und Hout (1993) schlagen eine spezielle Version der Reproduktionstheorie für Bildungsübergänge vor. Ihre Maximally Maintained Inequality (MMI) Hypothese besagt, dass der Effekt der Bildungsherkunft auf den Bildungsübergang über die Kohorten hinweg nur dann abnimmt, wenn die privilegierten Gruppen am jeweiligen Bildungsübergang mehr oder minder bereits saturiert sind. Somit führt die Bildungsexpansion vor allem dann zu einem Anstieg der Bildungschancen von Kindern aus Familien mit niedrigen Herkunftsressourcen, wenn im Grunde alle Kinder aus Familien mit besseren Herkunftsressourcen diesen Bildungsübergang bereits erfolgreich absolvieren (Lucas, 2001). […]

Wenn jedoch privilegierte Kinder bei höheren Bildungsübergängen noch nicht saturiert sind, ist es unwahrscheinlich, dass die Bildungsexpansion zu verbesserten Chancen benachteiligter Kinder führt. Vielmehr bleiben ihre Chancen im Zeitverlauf relativ konstant oder reduzieren sich sogar (Blossfeld et al., 2015). Dies ist wiederum auf die primären, sekundären und tertiären Effekte der sozialen Herkunft zurückzuführen (vgl. Abbildung 2). Solange privilegierte Herkunftsfamilien an den verschiedenen Bildungsübergängen nicht saturiert sind, wird die Übergangswahrscheinlichkeit von Kindern aus Familien mit niedrigem Bildungsniveau eingeschränkt sein. (Blossfeld et al. 2019, S. 26)

Theorie der Effectively Maintained Inequality

Eine weitere Theorie ist die Effectively Maintained Inequality (EMI) Theorie von Lucas (2001). Auch diese Theorie postuliert an höheren Bildungsübergängen eine starke Konkurrenz zwischen Familien unterschiedlicher sozialer Herkunft, konzentriert sich jedoch auf die qualitativen Bildungsunterschiede bei gleichem Bildungsniveau. Wenn neue Distinktionen auf der tertiären Ebene eingeführt werden, z. B. durch eine zunehmende Differenzierung zwischen Bachelor- und Masterstudiengängen oder zwischen Fachhochschulen und traditionellen Universitäten in Deutschland, prognostiziert diese Theorie, dass soziale Herkunft eine große Rolle dabei spielt, welcher tertiäre Abschluss gewählt wird (Lucas, 2009). (Blossfeld et al. 2019, S. 26)

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Die soziale Schere öffnet sich auch zwischen Bachelor und Master. Quelle: Pixabay

Fazit und Empfehlungen

Die VerfasserInnen empfehlen

  • das Bildungssystem insgesamt möglichst lange offen zu halten [was ich als längeres gemeinsames Lernen interpretiere];
  • die Anschlussfähigkeit von Bildungsabschlüssen zu gewährleisten;
  • den dritten Bildungsweg auszubauen [“Meisterstudium”];
  • mehr Frühförderung und Ganztagsschulen;
  • einen umfassenderen Ansatz, der insbesondere die Familien der benachteiligten Herkunftsgruppen stärker in die Bildungsförderung einbezieht (Familienbildung).

Durch herkunftsspezifische Unterschiede in den Bildungsentscheidungen werden die Lernenden in verschiedene Lernumwelten kanalisiert, wo sie jeweils unterschiedliche Lernerfahrungen machen und Kompetenzfortschritte erzielen, die dann im weiteren Bildungsverlauf die Grundlage für die Entscheidungen der Familien und ihrer Kinder darstellen.
Die Organisation des Bildungssystems mit seinen Übergängen bestimmt deswegen, wann im Lebensverlauf Bildungsentscheidungen mit welcher Konsequenz von den Familien (und Lehrern) getroffen werden müssen und in welchem Umfang diese später korrigiert werden können. Auf dieser Grundlage ist zu empfehlen, das Bildungssystem insgesamt möglichst lange offen zu halten und die Anschlussfähigkeit von Bildungsabschlüssen zu gewährleisten (Vermeidung von Bildungssackgassen).

Der zweite und der kürzlich eröffnete dritte Bildungsweg (offene Hochschule) stellen hier einen großen Schritt in die richtige Richtung dar, weil hier auch berufliche Qualifikationen zunehmend anerkannt werden.

Aus einer Längsschnittstudie von Fend, Berger und Grob (2009) gibt es allerdings auch empirische Hinweise darauf, dass durch organisatorische Reformen des Bildungssystems (wie etwa durch die Einführung der Förderstufe oder der Gesamtschule) zwar kurzfristig die herkunftsspezifischen Effekte vermindert werden können, dass sich die Herkunftsfamilien dann aber mit ihren Wünschen langfristig doch wieder durchsetzen. Insbesondere bei späteren risikobehafteten Bildungsentscheidungen scheint sich der schulische Einfluss im Lebensverlauf zu verlieren und die familiären Ressourcen treten zunehmend wieder in den Vordergrund.

Das heißt, dass sich die Herkunftsfamilien der Mittelschichten, die jeweils versuchen optimal mit ihren Strategien und Ressourcen für ihre Kinder zu sorgen, in unterschiedlichen Schulformen letztendlich immer wieder durchsetzen (Blossfeld, Buchholz, Skopek & Triventi, 2016). Vieles spricht deswegen dafür, dass man nicht nur mehr Frühförderung und Ganztagsschulen braucht, sondern einen umfassenderen Ansatz benötigt, der insbesondere die Familien der benachteiligten Herkunftsgruppen stärker in die Bildungsförderung einbezieht (Familienbildung). (Blossfeld et al. 2019, S. 27; Hervorhebung von mir)

Literatur

Die von Blossfeld, Blossfeld & Blossfeld zitierten Arbeiten können im PDF nachgelesen werden.

Blossfeld, H.-P., Blossfeld, G. J. & Blossfeld, P. N. (2019). Soziale Ungleichheiten und Bildungsentscheidungen im Lebensverlauf. Die Perspektive der Bildungssoziologie. Journal for educational research online 11 (1), 16–30.

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zu den Herkunftseffekten

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7 comments On Faktencheck #51: Herkunft ist entscheidender als Leistung

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