Gast #9: Sortieren nach dem Aschenputtelprinzip und die Folgen

MöllerGerd Möller, ehemaliger Leiter der Gruppe Bildungsforschung im Ministerium für Schule und Weiterbildung in NRW und Mitglied der deutschen Expertengruppe für Mathematik in PISA, dessen ausführliche Studie “Ungleiches ungleich behandeln!” in diesem Blog nachzulesen ist, nimmt in diesem Beitrag Stellung zur Übertrittsproblematik.

Alarmierende Stressbelastung beim Übergang aus der Grundschule

Der Übergang von der Grundschule in die weiterführenden Schulen ist in der Bundesrepublik unterschiedlich geregelt. In einigen Ländern gibt es Übergangsbestimmungen auf der Basis von Zeugnisnoten. In anderen Ländern gibt es lediglich Empfehlungen, denen Eltern nicht folgen müssen. Welche Gründe sprechen für oder gegen verbindliche Schulformempfehlungen?

Viele Eltern sprechen sich dagegen aus, dass Lehrer über die Schulkarriere entscheiden. Angesichts der wachsenden Anforderungen auf dem Arbeitsmarkt fürchten sie um die berufliche Zukunft ihrer Kinder, werden diese nicht zum Gymnasium zugelassen. Vor allem Akademiker wissen aus eigener beruflicher Erfahrung, wie wichtig ein hochwertiger Schulabschluss ist: Die Mehrheit von ihnen strebt an, dass ihr Kind das Abitur absolviert. Deshalb reagieren sie nervös, wenn nicht sie selbst, sondern ein Schulnotenschlüssel über den Übergang zum Gymnasium entscheiden soll.

Es gibt hingegen Bildungspolitiker, die die verbindliche Schullaufbahnempfehlung durchaus für sinnvoll halten, da sie eine Entwicklungsprognose abgäben und dadurch verhindert würde, dass ein Kind eine Schule besucht, die es womöglich überfordert. Sachsen und Bayern zählen zu jenen Ländern, die eine verbindliche Schulempfehlung aussprechen.

Der frühe Übergang von der Primar- in die Sekundarstufe wird häufig als einer der Hauptgründe für die bestehende soziale Ungleichheit der Bildungsbeteiligung in Deutschland diskutiert. Da der Übergang einen weit reichenden Einfluss für die Bildungsbiografien von Schülerinnen und Schülern hat, sollen hier die Wirkungen von Übertrittsregelungen in die Sekundarstufe I näher beleuchtet werden.

Schaut man in die wissenschaftliche Literatur so stellt man fest, dass nur sehr wenige Studien bislang den Zusammenhang zwischen rechtlichen Instrumenten, die den Übergang regeln, und dem Ausmaß der sozialen Selektivität im Schulwesen aufgegriffen haben.

Pro verbindliche Schulformempfehlung

Aus verschiedenen Untersuchungen ist bekannt (z.B.: H. Solga und J. Uhlig, 2009), dass vor allem bildungsferne Eltern häufig die falschen Entscheidungen treffen, wenn es um die Schulkarriere ihrer Kinder geht. Weniger gebildete Eltern neigen offenbar dazu, die Fähigkeiten ihrer Kinder zu unterschätzen. Das Risiko, dass Kinder aus solchen Familien eine Schulform besuchen, die unter ihren Fähigkeiten liegt, ist hier zweieinhalb Mal so groß wie in bildungsnahen Familien.

Freie Schulformwahl: größere soziale Disparitäten

C. Gresch, J. Baumert und K. Maaz (2010) zeigen, dass die freie Schulwahl auch zur Vergrößerung der sozialen Disparitäten beitragen kann. Ein zentraler Befund der Untersuchung lautet:

Sozial privilegierte Eltern weichen bei nicht verbindlichen Grundschulempfehlungen deutlich häufiger von der Schulformempfehlung nach oben ab als sozial benachteiligte Eltern. Je freier Eltern bei der Wahl der weiterführenden Schulform sind, desto mehr macht sich das soziale Gefälle bemerkbar. Eine verbindliche Schulempfehlung verhindert, dass das soziale Gefälle größer wird.

Sie geben aber relativierend zu bedenken, dass die sozialen Disparitäten in der Bildungsbeteiligung insgesamt in Bundesländern mit bindenden Empfehlungen deutlich stärker ausgeprägt sind als in Bundesländern, in denen Eltern frei entscheiden können.

Verbindliche Schulempfehlungen: unterschiedlich ernst genommen

Dollmann (2011) kommt zu vergleichbaren Ergebnissen beim Vergleich von zwei zeitlich folgenden Übergangskohorten von Kölner Drittklässlern der Schuljahre 2004/2005 und 2005/2006. Der Empfehlungsstatus in NRW wurde 2005/2006 von einer unverbindlichen auf eine verbindliche Grundschulempfehlung umgestellt. Damit lassen sich die unterschiedlichen Regelungen quasi im Sinne eines natürlichen Experiments vergleichen.

Die wesentlichen Befunde der Studie sind:

  • Abweichungen nach oben werden bei verbindlichen Empfehlungen erschwert. So sinkt für Kinder mit mittleren und schlechten Schulleistungen aus bildungsnahen Elternhäusern die Wahrscheinlichkeit deutlich, auf das Gymnasium überzugehen.
  • Kinder mit Gymnasialempfehlung aus bildungsfernen Familien weichen bei verbindlichen Empfehlungen weniger häufig nach unten ab als bei unverbindlichen Empfehlungen.
  • Kinder mit überdurchschnittlichen Leistungen aus bildungsfernen Familien wechseln bei überdurchschnittlichen Leistungen häufiger auf das Gymnasium als bei unverbindlichen Empfehlungen.

Über die Gründe für dieses regelungsabhängige Verhalten kann man nur spekulieren, da keine empirischen Erkenntnisse darüber vorliegen. Da Abweichungen nach unten sowohl bei verbindlichen als auch unverbindlichen Empfehlungen möglich sind, liegt die Vermutung nahe, dass Eltern aus bildungsfernen Schichten verbindliche Empfehlungen ernster nehmen als unverbindliche.

Die Befunde sprechen dafür, dass unverbindliche Schulformempfehlungen stärker sozial selektiv wirken als verbindliche, da das Entscheidungsverhalten der Eltern eng mit dem sozialen Status verbunden ist.  

Kontra verbindliche Schulformempfehlung

Jüngere empirische Studien haben gezeigt, dass die Schulformempfehlungen nicht nur von der Leistungsfähigkeit der Kinder bestimmt werden. Bei Kontrolle der Schulleistung  finden sich vielmehr auch Einflüsse der sozialen Herkunft der Schüler sowie der Leistungsstärke der Klassenkameraden.

So müssen Schüler aus bildungsfernen Familien für gleiche Schulformempfehlungen im Durchschnitt bessere Noten vorweisen als Schüler aus privilegierten Familien.

Grundschulempfehlungen sind grundsätzlich fehlerbehaftet, da sie Prognosen für die Zukunft darstellen. An den diagnostischen Fähigkeiten der Lehrkräfte ist aus psychologisch-diagnostischer Sicht (vgl. Ingenkamp, 1969) schon früh kritisiert worden, dass die Objektivität, Reliabilität und Validität der eingesetzten Verfahren vielfach nicht den klassischen Gütekriterien genügen würden und dass es den meisten Lehrkräften an einer systematischen Ausbildung ihrer diagnostischen Fähigkeiten fehle. Dies dürfte dazu beitragen, dass der Fehleranteil bei Übertrittsempfehlungen substanziell ausfällt.

So konnte z.B. die IGLU-Studie (2007) zeigen, dass rund 40 Prozent der Empfehlungen nicht mit den gemessenen Kompetenzen der Schüler übereinstimmen. Hier ist indes anzumerken, dass neben den schulischen Leistungen noch andere Faktoren, wie z.B. das Arbeitsverhalten und Durchhaltevermögen bei den Schulformempfehlungen berücksichtigt werden.

An den Daten der Schulleistungsstudie PISA lässt sich erkennen, dass sich die Leistungsverteilungen an den verschiedenen Schulformen der Sekundarstufe erheblich überlappen. Entsprechend kann man zu Recht argumentieren, dass ein bedeutsamer Anteil der nicht-gymnasialen Schülerschaft im Prinzip das Gymnasium hätte besuchen können und für den Besuch der gymnasialen Oberstufe ähnlich geeignet ist wie ein substanzieller Anteil der Gymnasialschülerschaft.

Zudem besteht am Ende der Grundschulzeit noch eine erhebliche Plastizität in Hinblick auf die weitere kognitive und motivationale Entwicklung, sodass im Prinzip noch keine sichere Prognose hinsichtlich des erreichbaren Leistungsvermögens möglich ist. Auch dies kann dazu beitragen, dass in mehreren Studien (z.B. Schuchart und Weishaupt 2004) ein beträchtlicher Prozentsatz von Schülerinnen und Schüler einen höheren Schulabschluss erwarb als man auf der Basis der Grundschulempfehlung erwarten konnte.

In der Hamburger KESS-Langzeitstudie (2010) wurde gezeigt, dass 70 Prozent der Schüler, die keine Empfehlung fürs Gymnasium gehabt haben, in der achten Klasse immer noch dort waren. Dies legt den Schluss nahe, dass Schüler sich in Abhängigkeit zu ihrer besuchten Schulform entwickeln. Diese Annahme wird von den mehrfach nachgewiesenen Effekten der differenziellen Entwicklungsmilieus der Schulformen unterstützt.

Auch F. Baeriswyl, Ch. Wandeler und U. Trautwein (2011) ziehen die verbindlichen Schulempfehlungen, die auf Notenbasis getroffen werden, in Zweifel. Auch ihrer Studie zufolge sind Zensuren eine subjektive Angelegenheit und spiegeln nicht zwangsläufig die Fähigkeiten der Schüler wider. Lehrkräfte orientieren sich bei der Benotung häufig an der Zusammensetzung der Klasse. Durchschnittlich begabte Kinder werden schlechter bewertet, wenn sie in einer leistungsstarken Klasse sitzen.

Die hier referierten wissenschaftlichen Befunde zeigen erneut, dass Schulformempfehlungen am Ende der Grundschulzeit mit großer Unsicherheit und Fehlern behaftet sind. Es ist daher nur schwer zu rechtfertigen, dass ein Übertrittszeugnis verbindlichen rechtlichen Status erhält. Es kann folglich, wenn überhaupt, nur als Orientierung dienen.

Da auch die unverbindlichen Empfehlungen mit diesen Unsicherheiten behaftet sind, ist es aus Gründen der Bildungsgerechtigkeit notwendig, die Problematik der sozialen Benachteiligung aufgrund der Schulformempfehlung in den Blickpunkt zu rücken. Hier sind Bildungspolitik, Schulaufsicht, Lehrerausbildung, Schulleitungen und Lehrerkonferenz gleicher Maßen gefordert, um die häufig nicht leistungsbedingten Bildungsaspirationen zwischen den Schichten zu kompensieren.

Schulformempfehlung: Stressauslöser erheblichen Ausmaßes

Neben den Studien, die Schulformempfehlungen im Kontext von Leistungsentwicklungen und sozialer Herkunft der Schüler beleuchten, ist 2015 erstmalig in Deutschland eine Studie der Universität Würzburg erschienen, die die Stressbelastung von Grundschülern am Übergang von der Primar- in die Sekundarstufe erfasst. Die schriftliche Befragung in 2014 von 1.620 Eltern in Bayern – mit verbindlicher Empfehlung – und Hessen – mit unverbindlicher Empfehlung – zeigt dabei, dass

  • die an Schulnoten gekoppelte und bindende Übertrittsregelung in Bayern zu einer höheren Stressbelastung bei Kindern führt als die hessische Form der beratenden Übertrittsempfehlung. In Hessen weisen in der dritten Klasse 29,8 und in der vierten Klasse 25,8 Prozent der Kinder Stressbelastungen auf. In Bayern hingegen sind es in der dritten Klasse 51,7 und der vierten 49,7 Prozent.
  • vor allem Kinder aus bildungsfernen Familien einer hohen Stressbelastung ausgesetzt sind, weil sie weniger über stresshemmende Schutzfaktoren verfügen als Kinder aus bildungsnahen Elternhäusern.
  • Eltern durch überzogene und unrealistische Bildungserwartungen die Stressbelastung für ihre Kinder zusätzlich erhöhen und hierdurch zur Gefährdung ihrer Kinder beitragen.
  • Kinder in Bayern, die an der Notenschwelle zwischen Mittel- und Realschulempfehlung liegen, eine erhebliche Risikogruppe darstellen. Die Schüler weisen nicht nur die höchsten Stresswerte auf, sie sind auch die einzigen, bei denen der Stress von der dritten zur vierten Klasse dramatisch ansteigt. Hier besteht akuter Handlungsbedarf.

Da die Studie im Querschnittsdesign angelegt ist, müssen die Befunde noch längsschnittlich überprüft werden. Sie legen aber bereits in der vorgelegten Form nahe, dass der Schulübergang im Alter von zehn Jahren in einer sensiblen Entwicklungsphase der Kinder Stress erzeugt, also zeitlich zu früh ansetzt und dass verbindliche Übergangsempfehlungen wie im bayerischen Modell die Stressbelastung der Kinder deutlich erhöhen.

Der Übergang in die weiterführende Schule und der damit verbundene Stress fallen in den Klassen 3 und 4 in eine sensible Phase, die in hohem Maße re­levant für das Selbstkonzept der Kinder ist. Stress und äußere Zuschreibungen an die eigene (vermeintliche oder faktische) Leistungsfähigkeit verfestigen sich bei Kindern und wirken gerade bei Kindern mit negativen Leistungsrückmeldungen deutlich lernhemmend.

Unverbindliche Empfehlungen sind daher den verbindlichen im Interesse einer förderlichen Entwicklung der Kinder vorzuziehen. Dies gilt insbesondere für Kinder aus bildungsfernen Schichten Die Befunde legen auch nahe, Eltern frühzeitig und aktiv über den weiteren Bildungsweg ihrer Kinder zu informieren, um zusätzliche Stressbelastungen zu vermeiden.

Die Autoren der Studie verhehlen nicht ihre Hoffnung, dass mit den vorgelegten Befunden eine neue Debatte über die Sinnhaftigkeit des dreigliedrigen Schulsystems in Deutschland belebt werden könnte.

[Akuter Handlungsbedarf besteht für diejenigen Schülerinnen und Schüler in Bayern, deren Bildungsübergang noch unklar ist. Besteht die Situation für bayerische Kinder, dass sie auf die Mittel- oder die Realschule kommen könnten, erzeugt dies von der dritten zur vierten Klasse einen dramatisch zunehmenden Druck. Hiervon sind immerhin 16 Prozent aller bayerischen SchülerInnen betroffen.
Vor dem Hintergrund dieser Diskussionspunkte erhält die Debatte um die Sinnhaftigkeit des dreigliedrigen Schulsystems in Deutschland eventuell neue Impulse. S.21; Zitat von mir ergänzt. RG]

Fazit

Aufgrund der bisherigen Befunde zum Für und Wider einer verbindlichen Schulformempfehlung könnte man die Antwort auf die Frage nach der besseren Regelung noch für offen halten. Mit der aktuellen Studie der Universität Würzburg dürfte die Antwort jedoch eindeutiger ausfallen: Mit verbindlichen Schulformempfehlung werden Kinder im Alter von zehn Jahren einem vermeidbaren und kaum zu verantwortenden Stress ausgesetzt, und zwar viel stärker als bei unverbindlichen Empfehlungen.

Aber auch die unverbindlichen Empfehlungen sind mit erheblichen Mängeln behaftet. An deren Beseitigung müssen die für Bildungspolitik Verantwortlichen dringend arbeiten, wenn sie ihren Anspruch auf evidenz-basierte Bildungspolitik glaubhaft umsetzen wollen.

Schließlich sei angemerkt, dass all die dargestellten Probleme in einem eingliedrigen Schulsystem nicht existieren würden.

Anmerkung:

Gerd Möller hat zu dieser Thematik auch einen kurzen Aufsatz in der Zeitschrift SchulVerwaltung NRW verfasst.

Literatur

Baeriswyl, F., Wandeler, Ch. und Trautwein, U. (2011). Auf einer anderen Schule oder bei einer anderen Lehrkraft hätte es für’s Gymnasium gereicht. Zeitschrift für Pädagogische Psychologie, 25 (1), S. 39–47

Bos, W. et al. (2007). IGLU 2006, Lesekompetenzen von Grundschulkindern in Deutschland im internationalen Vergleich, S. 281

Bos, W. et al. (2010). Kompetenzen und Einstellungen von Schülerinnen und Schülern – Jahrgangsstufe 8. Hrsg.: Freie und Hansestadt Hamburg Behörde für Schule und Berufsbildung, S 120

Dollmann, J. (2011). Verbindliche und unverbindliche Grundschulempfehlungen und soziale Ungleichheiten am ersten Bildungsübergang. Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie S. 595 ff

Gresch, C., Baumert, J. und Maaz, K. (2010). Der Übergang von der Grundschule in die weiterführende Schule, (Hrsg.: BMBF Bildungsforschung Band 34), S. 201 ff

Reinders, H., Ehmann, T., Post, I. & Niemack, J. (2015). Stressfaktoren bei Eltern und Schülern am Übergang zur Sekundarstufe. Abschlussbericht über die Elternbefragung in Hessen und Bayern 2014. Schriftenreihe Empirische Bildungsforschung, Band 33,  Universität Würzburg.

Schuchart, C., Weishaupt, H. (2004). Die prognostische Qualität der Übergangsempfehlungen der niedersächsischen Orientierungsstufe. Zeitschrift für Pädagogik, 50, S. 882–902

Solga, H. Uhlig, J. (2009). Bildungsungleichheiten und blockierte Lernpotenziale. Zeitschrift für Soziologie, Jg. 38, Heft 5, S. 418–440

 

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