Gast #52: Die soziale Ungleichheit ist in der Pandemie größer geworden

Ein kritischer Blick auf die Aufholprogramme

Die soziale Ungleichheit ist in der Corona-Pandemie deutlich größer geworden, und Schulen in sozial benachteiligter Lage stehen jetzt vor erheblich größeren Herausforderungen als andere Schulen. Dies wird deutlich in einer repräsentativen Umfrage von Forsa – im Auftrag der Robert Bosch Stiftung in Kooperation mit der ZEIT – unter Lehrkräften an allgemeinbildenden Schulen zur Situation der Schulen in der Corona-Krise im September 2021. Zunächst werden die wesentlichen Befunde der Umfrage zusammengefasst und anschließend werden  die bildungspolitischen Reaktionen auf Schulschließung und Distanzunterricht in Form von Aufholprogrammen diskutiert, ob sie die Lernlücken schließen und das Aufgehen der  sozialen Schere stoppen können.

Von Gerd Möller, ehemaliger Leiter der Gruppe Bildungsforschung im Ministerium für Schule und Weiterbildung in NRW und Mitglied der deutschen Expertengruppe für Mathematik in PISA. 

Forschungsstand zu den Folgen der Schulschließungen

Der vorhandene Forschungsstand zu den Folgen der Schulschließungen für die Kompetenzentwicklung der Kinder ist sehr unübersichtlich. Vorliegende Studien z.B. aus Baden-Württemberg, Brandenburg, Hamburg sowie Belgien, den Niederlanden und den USA sind in ihren Ergebnissen sehr unterschiedlich. Während einige zu dem Ergebnis kommen, dass die Schüler und Schülerinnen (in Mathematik und der jeweiligen Muttersprache) geringe Kompetenzrückstände aufweisen, stellen andere fest, dass die Lernlücken während des ersten Lockdowns so groß sind, als hätte es gar keinen digitalen Unterricht gegeben. In Deutschland wird es bis zum Ende des Schuljahres und darüber hinaus wohl keine bessere empirische Basis geben, um die Lernlücken beider Corona-Schuljahre zu quantifizieren. Bis zu den nächsten größer angelegten Studien (der Ländervergleich des Instituts zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen, eine neue PISA-Studie 2022 oder die nächste Erhebung des Nationalen Bildungspanels) wird die Diagnose nur über Einschätzungen von individuellen Erfahrungen möglich sein. So gibt es auch unter Bildungsexperten und -expertinnen jene, die der Meinung sind, dass es durchaus Kinder gibt, die im Distanzunterricht mit ihrer akademisch gebildeten Privatlehrkraft Mama oder Papa besser gelernt haben als im Klassenkontext mit anderen Kindern. Unstrittig ist allerdings, dass die Pandemiesituation die Ungleichheit in den Bildungschancen nach ökonomischen, kulturellen und zeitlichen Ressourcen der Familie oder den Bezug zur deutschen Sprache noch verschärft hat.

Die Unterschiede sind in der Pandemie größer geworden. Symbolbild von Cole Stivers auf Pixabay

Ergebnisse der Forsa-Umfrage zur Situation der Schulen in der Corona-Krise

Einen guten Überblick über die Situation in den Schulen ermöglicht die Einschätzung der Lehrkräfte in der Forsa-Umfrage:

Ein Vergleich von Schulen mit einem hohen (mehr als 50 Prozent) und einem geringen Anteil (weniger als 25 Prozent) von Transferleistungen belegt, dass die soziale Ungleichheit in der Pandemie deutlich größer geworden ist:

Bereits der Blick auf die konkreten Auswirkungen der psychosozialen Belastungen macht das sehr deutlich. So beobachten insgesamt 23 Prozent der befragten Lehrkräfte eine deutliche Zunahme aggressiven Verhaltens bei ihren Schülerinnen und Schülern. An Schulstandorten mit einem geringen Anteil von armen Familien bestätigen 14 Prozent der Befragten einen solchen Anstieg; an Schulen in sozial benachteiligter Lage aber sagen 44 Prozent der Lehrkräfte, das aggressive Verhalten habe zugenommen.

Lehrkräfte beobachteten an Schulen mit einem niedrigen Anteil von armen Familien bei 65 Prozent der Schülerinnen und Schüler Motivationsprobleme und bei 67 Prozent Konzentrationsschwierigkeiten. An Schulen mit einem hohen Anteil an Transferleistungen sind es hingegen 74 bzw. 77 Prozent der Schülerinnen und Schüler.

Auch bei den Lernrückständen zeigt sich eine Verschärfung der sozialen Ungleichheit. Insgesamt gaben die Lehrkräfte in der Befragung an, dass etwa jede dritte Schülerin und jeder dritte Schüler zu Beginn des Schuljahres 2021/22 deutliche Lernrückstände aufweist. In Schulen mit einem geringen Anteil von armen Familien hat ein Viertel der Schülerinnen und Schüler deutliche Lernlücken. In Schulen mit einem hohen Anteil von armen Familien lassen sich nach Einschätzung der Lehrkräfte dagegen bei knapp der Hälfte aller Schülerinnen und Schüler deutliche Lernrückstände feststellen.

Lernrückstände bei knapp der Hälfte aller ärmeren SchülerInnen

Von den Schularten sind besonders Haupt-, Real- und Gesamtschulen (39 Prozent) sowie Förderschulen (42 Prozent) betroffen, an Grundschulen (28 Prozent) und Gymnasien (29 Prozent) beobachten Lehrerinnen und Lehrer zum Schuljahresbeginn etwas seltener deutliche Lernrückstände.

Auf die Frage, wie groß der Anteil der Schülerinnen und Schüler ist, die die Lernziele im Schuljahr 2020/21 im Vergleich zu den beiden Vorjahren erreicht haben, zeigen sich die Auswirkungen der pandemiebedingten Maßnahmen an allen Schulen. Insgesamt stellt ein Viertel der Lehrkräfte fest, dass deutlich weniger Schülerinnen und Schüler die Lernziele im vergangenen Schuljahr erreicht haben. In Schulen in sozial benachteiligter Lage, an denen die Herausforderungen schon vor der Pandemie größer waren als an anderen Schulstandorten, bestätigen dies sogar 35 Prozent der Lehrkräfte.

Papa lernt mit Tochter
Nicht immer können die Eltern mithelfen. Symbolbild von Daniela Dimitrova auf Pixabay

Um Lernrückstände auszugleichen, wird nur an rund der Hälfte der Schulen auf zusätzliches Personal zurückgegriffen. Meist sind es Lehramtsstudierende und pensionierte Lehrkräfte, die dann zum Einsatz kommen. Die Schulen kompensieren diese Lücken in erster Linie durch Differenzierung im regulären Unterricht. Darüber hinausgehende Unterstützung wie Angebote in der lernfreien Zeit gibt es immerhin an 47 Prozent der Schulen, zusätzliche Lernangebote für einzelne Schülerinnen und Schüler mit großen Lernrückständen nur an 40 Prozent der Schulen. Eine temporäre Anpassung der Stundentafel zugunsten von Mathematik und Deutsch – wie es die Ständige wissenschaftliche Kommission im Juni geraten hat – wird in knapp jeder fünften Schule umgesetzt.

Deutlich wird, dass wir es nicht nur mit individuellen Lernrückständen einzelner Schüler und Schülerinnen zu tun haben, sondern mit der strukturellen Benachteiligung verschiedener Gruppen (vgl. M. Helbig: Als hätte es Corona nicht gegeben. Bildungspolitische Reaktionen auf Schulschließung und Distanzunterricht):

  • niedrige ökonomische, kulturelle und zeitliche Ressourcen in der Familie
  • kein Deutsch in der Familie
  • niedrige Breitbandabdeckung oder unzureichende IT-Struktur in den Familien
  • Schüler in Schulen mit vielen Schließungen wegen lokaler Inzidenz
  • unstrukturierter Videounterricht bei Lehrkräften mit wenig Feedback und ohne Videochat

Bildungspolitische Maßnahmen: Aufholprogramme

Fragt man, wo mittel- und langfristige Lösungen der Bildungspolitik zur Schließung von Lernrückständen ansetzen können, dann sind M. Helbig folgend theoretisch drei Wege vorstellbar:

  • Die Schüler und Schülerinnen mit kleinen Lernlücken sind Maßstab für alle anderen hinsichtlich dessen, was gekonnt und gewusst werden muss. Der erwartete Lernstoff wird also daran bemessen, welcher Lernstoff in einem normalen Schuljahr hätte geschafft werden sollen. Das heißt, Kinder mit großen Lernlücken müssen an diese Wissensstände anschließen.
  • Die Schüler und Schülerinnen mit großen Lernlücken sind der Maßstab. Allen Schülern und Schülerinnen wird mehr Zeit eingeräumt, um bestehende Lernlücken zu schließen, auch wenn dies bedeutet, dass Kinder mit kleinen Lernlücken vermehrt Schulstoff wiederholen müssen, was für diese kein Nachteil sein muss.
  • Für alle setzt der Lernstoff dort an, wo sie jeweils nach den Corona-Schuljahren stehen. Dies setzt eine ausgefeilte Diagnostik, eine darauf basierende individuelle Förderung aller Schüler und Schülerinnen sowie ggf. eine flexible jahrgangsübergreifende Schulorganisation und flexible Prüfungszeiten voraus.

Aktuell werden mehrere Hauptstrategien diskutiert und in Ländern und Schulen bereits praktiziert, um den verpassten Lernstoff aufzuholen. Die Vorschläge unterscheiden sich vor allem darin, welche Gruppen von Schülern und Schülerinnen sie zum Maßstab nehmen.

Hoffnung, dass die Aufholprogramme nützen. Quelle: Pixabay

Schülerinnen und Schüler erhalten zusätzlichen Unterricht an Samstagen, nach der normalen Schulzeit oder in den Ferien

M. Helbig bewertet diesen Vorschlag wie folgt: „Dieser Ansatz setzt Schülerinnen und Schüler als Maßstab, die gut durch die Corona-Schuljahre gekommen sind, und zielt darauf ab, dass jene mit großen Lernlücken diese schließen. Zielgruppen dieser Maßnahmen sind jene Schüler und Schülerinnen, die – zumindest gemessen am Lernstand – durch die Schulschließungen besonders benachteiligt waren. Für genau diese Kinder allerdings wäre ein Ausgleich, aber auch eine Erholung besonders wichtig. Verstärkter Unterricht am Wochenende und in den Ferien kann jedoch gerade bei diesen Kindern zu einer Schulentfremdung führen oder diese weiter verstärken. Zudem wird bei diesen Maßnahmen auf Freiwilligkeit gesetzt. Ob damit allerdings genau jene Schüler und Schülerinnen erreicht werden, die die größten Lernlücken aufweisen, ist fraglich. Abgesehen davon erscheint es sinnvoll, Zusatzunterricht durch die regulären Lehrkräfte der jeweiligen Kinder zu erteilen. Es ist aber nicht realistisch, die regulären Lehrkräfte für Nachhilfeangebote einzusetzen. Derartige Zusatzangebote sollen eher durch private Anbieter von Nachhilfe, pensionierte Lehrkräfte, Lehramtsstudierende, Stiftungen etc. bereitgestellt werden. Dadurch können die Zusatzangebote allerdings nicht oder nur mäßig systematisch mit dem fortlaufenden regulären Unterricht abgestimmt werden. Zudem mag der Einsatz von Lehramtsstudierenden in Großstädten funktionieren, in kleineren Städten, die fernab von Universitäten mit einer Lehramtsausbildung liegen, abzusichern, dürfte hingegen schwer sein.“

Schüler und Schülerinnen können freiwillig ein Schuljahr wiederholen

Diesen Vorschlag haben mittlerweile einige Bundesländer umgesetzt. „Damit wird allerdings“, so M.Helbig, „die Lösung eines kollektiven Problems der individuellen Entscheidung von Eltern und Kindern überlassen – und wir wissen aus der Bildungsforschung, dass derartige Freiwilligkeiten und Entscheidungsfreiheiten der Eltern (soziale) Ungleichheiten eher vergrößern als verringern. Zudem sind die Folgen der freiwilligen Wiederholung kaum absehbar. Zwei Folgen sind denkbar: Die Klassenwiederholung könnte aus guten Gründen nur von sehr wenigen Schülern und Schülerinnen wahrgenommen werden. Im Folgeschuljahr orientiert sich der Lernstoff, ohne Klassenwiederholung, dann wieder an den Kindern, die gut durch die Corona-Schuljahre gekommen sind, bzw. am Lehrplan. Schüler und Schülerinnen mit großen Lernlücken können dort nicht mehr anknüpfen. Als Konsequenz nehmen in den Folgejahren unfreiwillige Klassenwiederholungen zu, und der Anteil von Schülern und Schülerinnen ohne Schulabschluss steigt. Derartige Entwicklungen wären individuell, gesellschaftlich und ökonomisch die ungünstigsten Folgen, die sich aus den Corona-Schuljahren ergeben können. Auf der anderen Seite könnten sich vor allem an Schulen mit einem hohen Anteil armer Kinder, in Kreisen mit längeren Lockdowns und Quarantänezeiten und in Schulen und Klassen, in denen digitaler Unterricht nicht gut umgesetzt wurde, viel mehr Eltern und Kinder für ein freiwilliges Zusatzjahr entscheiden. Es käme so zu massiven Verschiebungen, auf die die jeweilige Einzelschule gar nicht reagieren kann.“

Viele Ideen, aber welche ist die beste? Bild von Gerd Altmann auf Pixabay

Vermeintlich überflüssiger Lernstoff wird weggelassen, damit verpasster Lernstoff in den sogenannten zentralen Fächern nachgeholt werden kann (siehe Vorschlag der Ständigen wissenschaftliche Kommission)

Dieser Vorschlag setzt Schüler und Schülerinnen mit großen Lernlücken als Norm und orientiert sich an ihren Wissensständen. „Ob das Weglassen von Lernstoff gelingen kann“, so M. Helbig, „ist sehr schwer einzuschätzen. Letztlich wird sich die Umsetzbarkeit von Klassenstufe zu Klassenstufe und von Fach zu Fach unterscheiden.“ Ob diese Entscheidungen aber in die Hand der Einzelschule gelegt werden können, ist sehr fraglich. Hier sollte es zumindest zentrale Leitlinien der Bildungsadministration geben. Eine Entscheidung für diesen Weg darf aber auf keinen Fall auf Kosten von Lerninhalten in Fächern wie Kunst, Musik, Ethik oder politische Bildung gehen – genau jenen Fächern, die auch während der Corona-Schuljahre eher weniger Aufmerksamkeit erfahren haben.

Kolleck und Hurrelmann kommentieren dies so: „Kernfächer sind zwar wichtig, dürfen aber nicht zulasten des gesellschaftlichen Auftrags der Schulen ausgelegt werden, junge Menschen zu mündigen Bürgerinnen und Bürgern zu bilden und zu einer selbstständigen Urteilskraft und politischer Handlungsfähigkeit zu befähigen. Globale Krisen wie der Klimawandel oder die Covid-19-Pandemie fordern eine aktive Auseinandersetzung mit Themen des Klimawandels und der Demokratie im schulischen Unterricht heraus.“

Lernzeit kann im bestehenden Zeitrahmen nicht beliebig erweitert werden

Eine pragmatische Lösung könnte es sein, den Schulstoff der letzten Monate in allen Schulklassen in das nächste Schuljahr zu verschieben. Die verbleibenden Monate in diesem Schuljahr könnten zuallererst genutzt werden, um für alle Schüler und Schülerinnen ein vergleichbares Lernniveau herzustellen. Der Schulstoff, der dieses Schuljahr dann nicht geschafft wird, wird im nächsten behandelt. Damit ist die Hoffnung verbunden, dass Lehrkräfte pragmatisch Wichtiges von Unwichtigem trennen. Dies müsste jedes Schuljahr wiederholt werden, bis der verlorene Stoff über einen längeren Zeitraum aufgeholt worden ist. Gerade durch die vielerorts erfolgte Umstellung von klar vorgegebenen Stundentafeln hin zu Kontingentstundentafeln bestehen hier Chancen. Schwieriger umzusetzen dürfte dieser Ansatz beim Übergang auf die weiterführenden Schulen sein sowie für Jahrgänge, die kurz vor ihrem Schulabschluss stehen.

Wie kann die Lernzeit am besten genutzt werden? Bild von Nile auf Pixabay

Beispiel NRW: Das Programm „Ankommen und Aufholen“

Auf eine Anfrage im Oktober 2021 im Schulministerium in NRW, ob Lehrplan- oder Schulzeitverkürzung geplant sind und wie das Aufholprogramm konkret konzipiert ist, hieß es aus dem Schulministerium:

 „Die Coronavirus-Pandemie hat den Schulbetrieb grundlegend und langanhaltend verändert. Nordrhein-Westfalen plant deshalb aber keine Lehrplanverkürzungen. Auch die Lehrpläne werden nicht vorübergehend geändert werden, um die Vergleichbarkeit von Schulabschlüssen nicht zu gefährden und Chancengerechtigkeit zu gewährleisten. Sie orientieren sich an nationalen Bildungsstandards und weiteren Vorgaben der KMK, bspw. den einheitlichen Prüfungsanforderungen für die Abiturprüfung. Allerdings bieten (Kern-)Lehrpläne Spielraum zur Unterrichtsgestaltung. Sie geben als Richtwert Vorgaben in einem Umfang von etwa 75 Prozent der vorgesehenen Zeit der Stundentafeln vor. Die Fachkonferenzen entscheiden in Form von schulinternen Lehrplänen über die Verteilung und didaktisch-/methodische Vermittlung von Unterrichtsinhalten. In diesem Rahmen können Schulen die Lehrplanvorgaben in konkretisierte schulinterne Lehrpläne überführen und dabei die jeweiligen standortbezogenen Voraussetzungen, u.a. auch des Pandemiegeschehens, berücksichtigen. Dabei sind wir uns bewusst, dass der häufige und oftmals sehr kurzfristige Wechsel von Präsenz-, Distanz- und Wechselunterricht je nach Entwicklung des Infektionsgeschehens für alle am Schulleben Beteiligten anstrengend und mit großen Herausforderungen verbunden war. Insbesondere die Kinder und Jugendlichen mussten große Entbehrungen und Einschränkungen auf sich nehmen. Dadurch haben sie nicht nur Unterrichtsinhalte versäumt, auch soziale Kontakte und sportliche Aktivitäten kamen zu kurz, Klassenfahrten und Abschlussfeiern mussten abgesagt werden.

Auf dem Verordnungsweg hat das Bildungsministerium im letzten Schuljahr deshalb das freiwillige Wiederholen einer Klasse ermöglicht, ohne Anrechnung auf die Höchstverweildauer an einer Schule. Eine Schulzeitverlängerung kann daher aufgrund einer individuellen Entscheidung getroffen werden, eine generelle Verlängerung der Schulzeit ist nicht geplant. Um Schülerinnen und Schülern das gezielte Aufholen pandemiebedingter Lernrückstände zu ermöglichen, stellen Bund und Land bis 2022 insgesamt 430 Millionen Euro zur Verfügung. Durch diese zusätzlichen finanziellen Mittel sollen mit dem Programm „Ankommen und Aufholen“ vor Ort individuelle Förderangebote ermöglicht, weiteres Personal eingestellt und Kooperationen mit außerschulischen Partnern organisiert werden. Nordrhein-Westfalen setzt bei „Ankommen und Aufholen“ auf ein Konzept mit zusätzlichem Personal („Extra-Personal“) und zusätzlichen finanziellen Mitteln für die Schulen („Extra-Geld“). Alle Maßnahmen werden vorrangig so angelegt sein, dass sie bei den Schulen oder direkt bei den Schülerinnen und Schülern ansetzen.“

Nach Verlautbarungen aus anderen Ländern planen sie ähnliche Maßnahmen wie NRW.

Wer Schule als Wettrennen versteht, produziert Verlierer – auch ohne Pandemie. Bild von e_stamm auf Pixabay

Fazit

Mit Blick auf die von den Lehrkräften beobachteten Folgen der Pandemie zeigen sich dramatische Verwerfungen zwischen den Schulen mit mehr und solchen mit weniger armen Kindern. Gleichzeitig sind die Voraussetzungen, diese Folgen abzumildern und zu einem geregelten Lernen zurückzukehren, für Schulen in sozial benachteiligter Lage sehr viel schlechter. Die Gefahr ist groß, dass die Pandemie einen neuen Schub für soziale Ungleichheit bewirkt.

Ob die Maßnahmen der Aufholprogramme zielführend sind, die Lernlücken insbesondere bei  Schülerinnen und Schüler in Schulen mit schwieriger sozialen Lage zu schließen, muss mit einem großen Fragezeichen versehen werden. Gerade diese Schülerinnen und Schüler, die bereits vor Corona große Schwierigkeiten hatten, den  angebotenen Lernstoff zu bewältigen, sind nun gefordert, sowohl den versäumten Lernstoff nachzuholen als auch den neuen Lernstoff zu bewältigen. Es besteht die Gefahr, dass sie diesem Druck nicht standhalten können. Um die Ziele der Aufholprogramme nachhaltig zu erreichen, erscheint es daher notwendig zu sein, entweder die Lehrpläne zu kürzen oder die Schulzeit zu verlängern. Letzteres dürfte allerdings schon allein aufgrund fehlender Räumlichkeiten und fehlenden Lehrpersonals kaum zu realisieren sein.

Wie in anderen gesellschaftlichen Bereichen haben die Einschränkungen durch die Corona-Pandemie auch im Schulbereich bereits bestehende Missstände noch deutlicher gemacht und den Handlungsbedarf erhöht. „Die Pandemie entblößt unsere Schwächen im Bildungssystem“, so der Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier bei der Preisverleihung zum Deutschen Schulpreis 20/21. Einerseits haben wir privilegierte Lernsettings an Schulen mit wenigen sozial benachteiligten Kindern und einem guten Unterstützungsnetzwerk aus engagierten Eltern, pensionierten Lehrkräften und Schulfördervereinen. Andererseits haben wir Schulen, denen es an allem mangelt: an grundständig ausgebildeten Lehrkräften, an einem stabilen Unterstützungsnetzwerk.

Gerade die Schulen in sozial benachteiligter Lage haben hier großen Bedarf, um entstandene Lücken schließen zu können und individuell stärker differenzieren zu können. Wir müssen endlich dahin kommen, Ungleiches ungleich zu behandeln. Hier sind Politik und die ganze Gesellschaft gefordert.

Dieser Beitrag wird im Januar in der Schulverwaltung NRW erscheinen. Vorab mit freundlicher Genehmigung des Verfassers.

Literatur

Deutsches Schulbarometer: Lehrer-Umfrage offenbart enorme Probleme infolge der Pandemie

Helbig, Marcel: Als hätte es Corona nicht gegeben. Bildungspolitische Reaktionen auf Schulschließung und Distanzunterricht

Hurrelmann, Klaus/ Kolleck, Nina: Wie lässt sich das politische Interesse von Jugendlichen beeinflussen? Neue Herausforderungen für die Politische Bildung an Schulen (eingereicht)

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