Sichtweisen #86: Lehrer büßen und beten

Man kann es zum Buß- und Bettag 2021 nicht anders sagen: Lehrkräfte büßen für die verfehlte Personalpolitik des bayerischen Kultusministeriums und beten zum Himmel um Einsicht und Hilfe.

Mann betet in Kirche
Bild von Pexels auf Pixabay

Vor Ort

Nehmen wir eine Grund- und Mittelschule im Umfeld von München: Schon zum Schuljahresbeginn bekommt man nicht alle LehrerInnen, die der Zuweisungsschlüssel + die Stunden für besonderen Unterricht (Differenzierungen, Arbeitsgemeinschaften usw.) ergeben haben. Eine Lehrerin ist schwanger und kann nicht ersetzt werden.

Im Oktober und November erfahren die Schulleitungen, dass keinerlei mobile Reserven mehr zur Verfügung stehen und man Ausfälle wegen Krankheit eben mit den eigenen Bordmitteln kompensieren muss. Heißt konkret: sich aus den Rippen schneiden. Dabei muss die arme Konrektorin, die den Vertretungsplan verantwortet, ähnlich kreativ zu Werke gehen wie Gott der Herr, als er dem Adam seine Eva aus dem Gebein schnitt. Also Differenzierungen auflösen, Sprechstunden als Vertretungsstunden nutzen, Gruppen zusammenlegen, Gruppen oder Klassen früher nach Hause schicken. Ach ja – und an den Brückenangeboten sparen.

Lehrergewinnung, Methode I: Schöpfung aus dem Nichts. Bild von Andres Nassar auf Pixabay

Die Gewerkschaften

Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft GEW

Die GEW trägt am Buß- und Bettag Plakate durch die Straßen “Wir trauern um die Bildung”. Hier ein Zitat aus der Pressemeldung:

In Nürnberg, München, Würzburg, Bamberg und Fürstenfeldbruck organisierte die GEW Kundgebungen, Demonstrationen und Informationsveranstaltungen. „Die Öffentlichkeit weiß in der Regel gar nicht, unter welchen Bedingungen die Kinder derzeit an den Grund-, Mittel- und Förderschulen lernen müssen. Bereits vor Beginn des Schuljahres war klar, dass man den Bedarf an Lehrkräften nicht mit entsprechend ausgebildetem Personal decken kann. Die letzten mobilen Reserven sind bereits aufgebraucht, Quarantäne und Krankheitswellen rauschen auf die Schulen zu und bereits jetzt ist vielerorts noch nicht mal die Betreuung der Kinder gewährleistet, von Unterricht ganz zu schweigen“, schildert Martina Borgendale, Vorsitzende der GEW Bayern. 

Die Erfahrungen der KollegInnen sind wohl im ganzen Bayernland dieselben:

Um ihrer Trauer Ausdruck zu verleihen, schrieben Lehrkräfte in München und Nürnberg auf Traueranzeigen, was im Schulalltag in den letzten Jahren weggefallen oder aufgrund des personellen Notstandes schlicht nicht mehr leistbar ist. Da werden fehlende Förderstunden betrauert, die gestrichene Schulband und diverse Arbeitsgemeinschaften, das “Einstampfen” der Doppelbesetzungen, aber auch ganz einfach zu wenige Pausen und die Zunahme fehlender Motivation. „Wir haben einen hohen Anspruch an unsere eigene Arbeit und wir wollen, dass jedes Kind bestmögliche Bedingungen zum Lernen hat. In letzter Zeit komme ich mir aber mehr wie ein Lückenfüller vor. Statt Fachunterricht zu erteilen, vertrete ich immer öfter Kolleginnen und Kollegen oder betreue auch schon mal zwei Klassen gleichzeitig“, sagt ein Lehrer, der seinen Namen nicht verraten möchte.

Lehrergewinnung, Methode II: Züchtung im Labor. Bild von fernando zhiminaicela auf Pixabay

Und auch diese Forderung kehrt immer wieder:

“Das Lehramt für Grund- und Mittelschulen muss zudem attraktiver werden. Auch in Bayern muss A13/E13 als Eingangsbesoldung in allen Lehrämtern endlich umgesetzt werden. Die Hälfte der Bundesländer machte es uns doch bereits vor!”, fordert die Landesvorsitzende der GEW Martina Borgendale.

Über die völlig kontraproduktiven Maßnahmen der Mängelverwaltung durch das Kultusministerium hatte ich in diesem und in jenem Beitrag schon berichtet. Leider hat sich seither überhaupt nichts gebessert. Ach was – von wegen “seither”: Der Lehrermangel an Grund- und vor allem Mittelschulen besteht schon lange und war lange im Voraus absehbar. Wie sagte mir ein Schulamtsdirektor schon in den Nullerjahren: Die suchen jede Maus!

Die suchen jede Maus!

Ein Schulamtsdirektor

Hier, nochmal zum Nachlesen, die Forderungen der GEW Bayern.

Bayerischer Lehrerinnen- und Lehrerverband BLLV

Der BLLV hat dasselbe Problem wie die GEW: Die Mahnungen und Forderungen der Lehrergewerkschaften sind so sehr zum gewohnten Hintergrundrauschen der Schulpolitik geworden, dass sie so gut wie gar nichts bewirken. Dennoch sei hier Simone Fleischmann das Wort gegeben, der Präsidentin des BLLV, die – davon konnte ich mich in einer persönlichen Begegnung überzeugen – für die Schüler, die Schulen und die Lehrer sprichwörtlich “brennt”.

Wer wirklich die Mittelschule retten will, der darf keine Sonntagsreden halten, sagt BLLV-Präsidentin Simone Fleischmann. Sie fordert gleiche Bezahlung, Wertschätzung für die Schüler und eine bessere Ausstattung für die Schulen.

„Wer sich aktuell für die Mittelschule entscheidet, gehört zu den großen Idealisten“. Sie betonte, dass das Problem unter anderem bei den unterschiedlichen Gehältern liegt: „Wenn du scheinbar ein Lehrer zweiter Klasse bist, weil der andere besser bezahlt wird, und du gibst auch noch mehr Unterrichtsstunden, dann fühlst du dich nicht wertgeschätzt.“

Wenn du scheinbar ein Lehrer zweiter Klasse bist

Simone Fleischmann

Ihre bisher nicht erfüllten Forderungen zeigen, dass bei allem wohlfeilen Geschwätz massive Interessen einen echten Fortschritt verhindern:

„Die Kinder in der Mittelschule fühlen sich vergessen. Und auch wir Lehrerinnen und Lehrer“, sagt die BLLV-Präsidentin. Die Hierarchie der Schularten sei noch in vielen Köpfen. „Das muss sich ändern. Denn was suchen wir in Deutschland? Fachkräfte. Tolle Menschen mit ganzheitlicher Bildung. Und das können wir in der Mittelschule. Wir haben wahnsinnig viel drauf“, betont Fleischmann.

„In der Mittelschule bräuchten wir die besten Lehrerinnen und Lehrer und die kleinsten Lerngruppen, weil diese Kinder so viel mehr brauchen“, fordert Fleischmann. „Und wir brauchen die besten Arbeitsbedingungen, damit wir die Pädagogik leben können, wie wir das wollen.“

„Wer wirklich die Mittelschule retten will, der muss doppelt so viel investieren, wie bisher. Der muss alle Kraft dransetzen“, sagt die BLLV-Präsidentin. „Nicht die Sonntagsrede halten, sondern die Lehrer gleich bezahlen, die Schüler wertschätzen und die Schule so ausstatten, dass wir, die da arbeiten wollen, die beste Arbeit leisten können.“

Lehrergewinnung, Methode III: Bewährtes Personal reaktivieren. Bild von Manfred Antranias Zimmer auf Pixabay

Welche Interessen es sind, die diesen vernünftigen Erwartungen entgegenstehen? Erfahrungsgemäß hört man – wenn die Forderung nach Höherbezahlung der Lehrergruppen mit dem höchsten Stundendeputat ehoben wird – aus der Ecke der Philologen sofort ein lautes Bellen mit dem Verlangen nach permanenter Ungleichbezahlung, schließlich sei man ja in anderer Weise wissenschaftlich qualifiziert. Für diese Berufsgruppe gehört die Pädagogik offensichtlich nicht unbedingt in die Reihe ernstzunehmender Wissenschaften.

Die besser Gestellten haben offensichtlich auch das offene Ohr der Gruppe, die in Bayern über Schulpolitik entscheidet: die Landtagsfraktion der CSU. Man erkennt dies unter anderem daran, dass sie es war, die sich ewig lange ins G8 verbissen hat wie ein bayerischer Kampfdackel und einfach nicht davon lassen wollte, selbst als sich die Gymnasien schon längst für die Rückkehr zum G9 ausgesprochen hatten.

Aber die bayerische Schulpolitik und die CSU – das ist nun wirklich eine eigene Geschichte.

Vorerst bleibt es für uns Praktiker beim Büßen und Beten.

3 comments On Sichtweisen #86: Lehrer büßen und beten

  • Worauf dieser Beitrag allerdings nicht so genau eingeht bzw. eingehen kann, das sind die eigentlichen Gründe für den grassierenden Lehrermangel an Grund-, Mittel- sowie Förderschulen.
    Ich glaube nämlich nicht, dass sich keine Aushilfslehrkräfte (immerhin wäre das “etwas”) finden ließen, sondern dass solche Leute gar nicht erst gesucht werden – und zwar aus rein finanzpolitischem Kalkül. Man vertröstet also die Herren Schulleiter immerzu damit, leider keinen Ersatz finden zu können, während Dutzende Bewerber zugleich arbeitslos bleiben.

    “Wie kommt’s ? Kann das überhaupt sein?”, mag man fragen.

    1. Keine Kosten entsprechen 100 % Ersparnis. Eine sehr einfache Gleichung. Das vorhandene, teure Personal muss den Ausfall eben kompensieren. Widerworte gibt es ja dank Beamtenstatus nicht. Ausgeglichene Länderhaushalte (Stichwort: schwarze Null) wurden schon lange zur Maxime erklärt (siehe Bayern). Also verschleißt man lieber das alte Vieh, bevor man neues anschafft.
    In diesem Zusammenhang werden immer wieder von den Schulämtern die sog. Klassenteiler nach oben angepasst. An einigen Mittelschulen in Oberfranken gab es zum Schuljahr 2021/22 einen Klassenteiler von 34 Schülern (!). So versuchte man, das fehlende Personal durch Bildung (noch) größerer bzw. viel zu großer Klassen wider besseres Wissen auszugleichen. Auch passt man den Klassenteiler an, um den Anschein zu erwecken, dass doch alles passe und genügend Personal vorhanden sei.

    2. Die in Aussicht gestellte Bezahlung für die Aushilfen i.V.m. vorprogrammierter Arbeitslosigkeit pünktlich zum Sommerferienstart tut ihr Übriges, um jeden halbwegs motivierten Bewerber endgültig abzuschrecken. Das miserable Salär (E10-11), welches ein voll ausgebildeter Gymnasiallehrer bei Übernahme einer Vollzeitstelle an der Mittelschule erhält, ist eine einzige Frechheit, v.a. wenn jener die gleiche Arbeit wie seine dort verbeamteten Mittelschulkollegen erledigen soll und dafür nur ca. die Hälfte des Nettogehaltes (A12) bekommt.

    3. Man forscht seitens der zuständigen Bezirksregierungen und Schulämter viel zu spät nach potentiellen qualifizierten Arbeitnehmern. Selbst wenn das Schuljahr schon längst angelaufen ist, sich der Mangel an Lehrpersonal allmählich qualvoll manifestiert, tun die Verantwortlichen nichts oder viel zu wenig, um eine vernünftige Personalakquise durchzuführen (“Headhunting”).
    Generell fehlt es in der Regierung gänzlich an professionellen Headhunters. Stattdessen wird stümperhaft versucht, einst angestellte, dann vergraulte Lehrkräfte zurückzugewinnen. Ein aussichtsloses Unterfangen.
    Doch selbst ein Profi könnte kaum einen Lehrer hinterm Ofen hervorlocken, wenn er schlichtweg keine Argumente (gute/gerechte Bezahlung, bezahlte Sommerferien, kontinuierliche Weiterbeschäftigung) liefern kann.

    “Wo verbleiben all die potentiellen Aushilfslehrer, die keiner anstellt?”

    – Sie hatten vorher eine Stelle als was-auch-immer und bekommen ein recht hohes ALG. Diese Zeit der Arbeitslosigkeit können sie nutzen, um sich beruflich komplett umzuorientieren.

    – Sie arbeiten berufs- und branchenfremd. Manchmal werden sie dort sogar glücklich.

    – Sie arbeiten in mehreren Berufen parallel, teils in prekären Verhältnissen, dafür oft ohne Befristung.

    – Sie wandern ab ins (innerdeutsche) Ausland. Berlin lockte jahrelang mit hohen Gehältern Gymnasiallehrer in die dortigen Grundschulen.

    – Eventuell kommen einige völlig abgebrannte Gestalten doch noch zum Halbjahr in den zweifelhaften Genuss, die “Resterampe” (also die armen Schüler, die bisher niemand dauerhaft unterrichten konnte oder wollte, sondern die stets von Vertretung zu Vertretung weitergereicht wurden) übernehmen zu dürfen.

    Stark befristet. Schwach bezahlt. Mit Ausfall der Sommerferien. Ohne Zukunft.

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