Wissen angehende Lehrer/innen, dass sie häufig mit Neuromythen umgehen? Können sie unterscheiden zwischen Mythen und Fakten, was das so genannte “gehirngerechte Lernen” angeht? Hier ein paar Ergebnisse einer aktuellen Studie aus Österreich.
Grabner, R. H. (2019). Neuromythen sind zu Beginn des Lehramtsstudiums prävalent und unabhängig vom Wissen über das menschliche Gehirn. Zeitschrift für Bildungsforschung 116 (3), 410. doi:10.1007/s35834-019-00238-2
Genese der Problematik und eine OECD-Definition
Die Hirnforschung versucht beispielsweise in Person des Psychiaters Manfred Spitzer und des Neurobiologen Gerald Hüthers die Erkenntnisse über den Aufbau und die Funktionsweise des menschlichen Gehirns auf das Lernen zu übertragen. Dabei wird manches zu überstürzt in die Methodik aufgenommen, vor allem angesichts der Problematik, dass die Erkenntnisse teilweise noch vorläufig und – wo im Großen und Ganzen doch gesichert – nicht immer richtig verstanden sind.
Mit der zunehmenden Zahl an neurowissenschaftlichen Studien in der empirischen Lehr- und Lernforschung gewinnen Befunde aus der Hirnforschung zunehmend an Bedeutung für Lehrpersonen. Insbesondere sind Lehrkräfte häufig mit einer Vielzahl von Aussagen darüber konfrontiert, wie das menschliche Gehirn lerne und welche Implikationen dies für „gehirngerechten“ Unterricht habe. Viele dieser Aussagen sind allerdings wissenschaftlich nicht haltbar und werden als Neuromythen bezeichnet. Im Kontext von Lehren und Lernen wurde der Begriff Neuromythos erstmalig von der OECD erwähnt und definiert als „Fehlkonzept entstanden aus einem Missverstehen, Missinterpretieren oder Fehlzitieren von wissenschaftlich fundierten Fakten (aus der HIrnforschung), um die Anwendung von Hirnforschung in Bildung und anderen Kontexten zu rechtfertigen“ (OECD 2002). (Krammer et al. 2019, S. 1–2)
Studienteilnehmer
Die Datenerhebung lief über zwei Studienjahre. In jedem der beiden Studienjahre wurden Lehramtsstudierende direkt zu Beginn ihres Studiums befragt. […] Die finale Stichprobe umfasste somit 582 Lehramtsstudierende des Sekundarstufen-Lehramts im ersten Semester. Die 582 Lehramtsstudierenden waren im Durchschnitt 19,95 (SD= 2,84) Jahre alt. Unter ihnen waren 368 (~63,2%) Frauen und 214 (~36,8%) Männer. (Krammer et al. 2019, S. 8)
Vorgehensweise und Auswahl der Mythen und Fakten
Den Lehramtsstudierenden wurden in einem Fragebogen 20 Neuromythen und 20 Neurofakten in einer zufälligen Reihenfolge vorgegeben. Sie konnten zwischen drei Antwortmöglichkeiten wählen: richtig, falsch oder weiß nicht. Der überwiegende Teil dieser Fragen wurde direkt aus der Forschungsarbeit von Dekker et al. (2012) übernommen, ins Deutsche übersetzt und an die spezifischen Sprachkonventionen angepasst. Zusätzlich wurde diese Liste um weitere Mythen und Fakten erweitert. Diese wurden vorwiegend aus einer gemeinsamen Stellungnahme der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina, der Union der deutschen Akademien der Wissenschaften und der Deutschen Akademien der Technikwissenschaften acatech zur „Frühkindlichen Sozialisation“ (2014) entnommen. (Krammer et al. 2019, S. 8–9)
Ergebnisse Neuromythen global
Ein erster Eindruck von den Ergebnissen zeigt wieder einmal, wie weit verbreitet und fest verankert der Lerntypenmythos ist; dicht gefolgt von dem, was häufig unter dem Stichwort “Brain-Gym” vermarktet wird.

Die Zustimmungsrate zu Neuromythen lag zwischen 1 und 97%. Für Neurofakten lag die Zustimmungsrate zwischen 18 und 92%. Die prävalentesten Neuromythen waren, dass
1) Schülerinnen und Schüler besser lernen, wenn ihnen Informationen entsprechend ihres jeweiligen Lerntyps vermittelt werden (Lerntypen-Mythos; Zustimmungsrate= 97%),
2) kurzzeitige Koordinationsübungen die Integration zwischen den Gehirnhälften verbessern können (Koordinationsübungs-Mythos; Zustimmungsrate= 88%) und
3) Unterricht so gestaltet werden sollte, dass beide Gehirnhälften beansprucht werden (Zustimmungsrate= 86%).
Andere Neuromythen hingegen wurden fast einstimmig als falsch erkannt, wie z. B. dass das Gehirn im Schlaf nicht aktiv ist (Ablehnungsrate=95%). (Krammer et al. 2019, S. 10)
Ergebnisse Neurofakten global
Bezüglich der Neurofakten zeigte sich, dass manche bereits zu Beginn des Lehramtsstudiums bekannt sind und andere nicht. Der Großteil der Lehramtsstudierenden wusste bereits zu Beginn des Studiums, dass es in der Kindheit sensible Phasen gibt, in denen es einfacher ist Dinge zu lernen (Zustimmungsrate= 92%). Dahingegen wurden andere Neurofakten von der Mehrheit abgelehnt, wie z. B. dass Jungen größere Gehirne haben als Mädchen (Ablehnungsrate= 63%). (Krammer et al. 2019, S. 10)
Tabellen mit den Ergebnissen
Hier zunächst die häufigsten Neuromythen:

Am Ende der Tabelle finden sich die Neuromythen, die weniger im Umlauf sind:

Wenig verbreitete Neurofakten
Wenn ich ehrlich bin, waren mir Nr. 15 und 18 nicht als so gewiss bewusst wie sie hier stehen. Und bei Nr. 16 war ich der Auffassung, dass Lernen nicht nur die Festigung aktiver neuronaler Synapsen und die Bildung neuer Verbindungen bedeutet, sondern auch die Entstehung neuer Zellen. So kann man sich täuschen…

Noch mal: Die am meisten verbreiteten Neuromythen
Die Ergebnisse der Studie zeigen, dass Neuromythen auch im österreichischen Bildungssystem weit verbreitet sind. Die prävalentesten Neuromythen unter Lehramtsstudierenden zu Beginn ihrer Ausbildung beziehen sich auf 1) Lerntypen, 2) Koordinationsübungen zur Integration zwischen den Gehirnhälften, 3) Berücksichtigung beider Gehirnhälften bei Unterrichtsgestaltung und 4) Gehirndominanz als individueller Unterschied zwischen Lernenden. Mit der Ausnahme des 3. Mythos sind dies auch jene Neuromythen, die im internationalen Vergleich am weitesten verbreitet sind (s. Tab. 1 bzw. Howard-Jones 2014). (Krammer et al. 2019, S. 14)
Es scheint, als würden mehrere Lernmythen durch eine grundlegende Fehlannahme verursacht werden, nämlich die, dass in beiden Gehirnhälften deutlich getrennte neuronale Prozesse abliefen:
Gleich wie in anderen Ländern, scheint unter österreichischen Lehramtsstudierenden der Glauben an eine getrennte neuronale Verarbeitung in den Gehirnhälften den prävalentesten Neuromythen zugrunde zu liegen. Diese grundlegende Fehlkonzeption wird dadurch bestärkt, dass der Neurofakt, dass beide Gehirnhälften immer zusammenarbeiten, nur von knapp einem Drittel der Lehramtsstudierenden als korrekt angenommen wurde. (Krammer et al. 2019, S. 15)
Ein Neuromythos muss nicht schädlich sein
Eine falsche Annahme kann dennoch ein pädagogisch richtiges Verhalten zur Folge haben, wie der Glaube an die Lerntypentheorie deutlich macht:
Während der Glaube an Lerntypen eindeutig der weiteste verbreitete Neuromythos war, sollten unserer Ansicht nach andere Neuromythen zuerst aufgelöst werden. Diese Priorisierung ist dadurch zu begründen, dass die praktische Umsetzung mancher Neuromythen vermutlich schädlicher ist als die Umsetzung anderer Neuromythen. Der Mythos von Lerntypen könnte dazu führen, dass Lehrkräfte Lernmaterial multimodal (für verschiedene Sinneskanäle) aufbereiten. Diese multimodale Aufbereitung dürfte lernförderlich sein (z. B. Van Someren et al. 1998), selbst wenn sie aus den falschen Gründen gemacht wird. Andere Studien zeigen auf, dass Lehrende Lerntypen umsetzen, weil sie Methodenvielfalt anstreben (Newton und Miah 2017). (Krammer et al. 2019, S. 15)
Schädliche Neuromythen
Die Umsetzung anderer Neuromythen in der schulischen Praxis kann aus unserer Sicht allerdings zu schädlichen Praktiken führen. Zum Beispiel zeigte sich in der vorliegenden Studie eine verhältnismäßig hohe Zustimmungsrate (51%) zum Mythos, dass nach kritischen Phasen in der Kindheit bestimmte Dinge nicht mehr gelernt werden können. Wenn Lehrkräfte diesen Neuromythos vertreten, kann es dazu führen, dass Kindern und Jugendlichen die Bildbarkeit in bestimmten Bereichen fälschlicherweise abgesprochen wird. Ebenso vertrat ein hoher Anteil der Lehramtsstudierenden (Zustimmungsrate 35%) die Annahme, dass die Muttersprache vor allen anderen Sprachen erworben werden müsse, um Sprachen vollständig erlenen zu können. Eine Folge davon wäre, dass Lehrkräfte sich gegen das frühzeitige Erlernen von mehreren Sprachen aussprechen. Diese und andere Haltungen könnten sich fundamental auf den Lernprozess und die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen auswirken. Studien zeigen auch auf, dass es diese Neuromythen sind, die zwischen guten und weniger guten Lehrkräften differenzieren (Horvath et al. 2018). Eine kritische Auseinandersetzung, wie man diesem Trend begegnet, ist daher von zunehmender gesellschaftlicher Relevanz. (Krammer et al. 2019, S. 15–16)

Nicht nur aus diesem Grund werden uns die Neuromythen auch weiterhin beschäftigen.
Literatur
Krammer, G., Vogel, S. E., Yardimci, T. & Grabner, R. H. (2019). Neuromythen sind zu Beginn des Lehramtsstudiums prävalent und unabhängig vom Wissen über das menschliche Gehirn. Zeitschrift für Bildungsforschung 116 (3), 410. doi:10.1007/s35834-019-00238-2
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