Faktencheck #97: Jugendliche ohne Hauptschulabschluss – wo liegt das Problem wirklich?

Hier ist eine rasche Antwort gefragt, ehe sich eine ideologische Fehlinterpretation zu rasch verselbstständigt (kursive Stellen von mir).

„Die Zerstörung der differenzierten Schularten hat nichts gebracht – klare Bildungsgänge hin zu Schulabschlüssen sind erforderlich.“

VDR am 6.3.23

So plärrt es der Realschullehrerverband in die Öffentlichkeit hinaus. Und weiter:

„Die aktuellen gestiegenen Zahlen der jungen Menschen ohne Schulabschluss in unserem Land sind ein Schlag ins Gesicht eines jeden Pädagogen und spiegeln vor allem eine verfehlte Schulstrukturpolitik der vergangenen Jahre wieder. Wer differenzierte Schulformen auflöst oder zusammenlegt, wer Förderschulen abschafft, wer abschlussbezogene Bildungsgänge einebnet, der muss sich nicht wundern, wenn man am Ende vor dem Scherbenhaufen steht. Leidtragende sind die jungen Menschen, die spezifisch gefördert und begleitet werden müssen“, macht Jürgen Böhm, Bundesvorsitzender des Deutschen Realschullehrerverbands (VDR) deutlich…

Es war der größte Fehler in einigen Bundesländern, diese Differenzierung auf dem Altar einer falsch verstandenen „Gleichheitsphilosophie“ zu opfern.

Es ist an der Zeit diese verheerenden Zahlen entsprechend zu interpretieren und endlich die richtigen schulstrukturpolitischen Schritte einzuleiten.

Auf was bezieht sich dieser Ausruf?

Auf ein neues Gutachten (oder vielleicht auch nur auf die Schlagzeilen dazu) von Klaus Klemm im Auftrag der Bertelsmann Stiftung – kann man hier selber runterladen.

Und hier ein paar Zitate aus dem Gutachten, die den Schaum etwas bremsen können, den der VDR vor dem Mund hat:

Kaum Veränderung

„Die aktuelle bildungsstatistische Analyse von Prof. Dr. Klaus Klemm zeigt, dass sich die Quote der Schüler:innen ohne Hauptschulabschluss deutschlandweit in den letzten zehn Jahren kaum verändert hat.“ (Klemm 2023, S. 6)

Falls das jemand überlesen hat, kommt es weiter hinten nochmal etwas genauer:

Quote stabil

„Der Anteil der Jugendlichen ohne Schulabschluss (2021: 6,2 Prozent) ist im Vergleich zum Vorjahr 2020 (5,9 Prozent) leicht gestiegen.

In den letzten 10 Jahren war die Quote der Jugendlichen ohne Schulabschluss deutschlandweit jedoch recht stabil.

Klemm S. 8

Hauptschulabschluss bezieht sich auf mehrere Schularten

„Das Verfehlen eines Hauptschulabschlusses ist – anders als es die Bezeichnung „ohne Hauptschulabschluss“ vermuten lässt – nur am Rande mit der Hauptschule verbunden: Lediglich 13 Prozent der Jugendlichen ohne Hauptschulabschluss haben 2020 in Hauptschulen gelernt. Mit etwa 49 Prozent stammen die Schülerinnen und Schüler, die den Hauptschulabschluss verfehlen, aus den Förderschulen. Von Gesamtschulen stammten nahezu 20 Prozent und aus Schulen mit mehreren Bildungsgängen 12 Prozent. Aus Realschulen, Gymnasien und Waldorfschulen waren es zusammen nicht einmal 6 Prozent.“ (Klemm 2023, S. 9)

Erschreckend ist der Anteil, der sich aus den Förderschulen rekrutiert. Das ist allerdings keine neue Einsicht. Hier noch ein Detail dazu:

„Im Durchschnitt dieser acht Bundesländer verfehlen 66,7 Prozent der Schülerinnen und Schüler mit diagnostiziertem Förder-bedarf den Hauptschulabschluss: am Lernort Förderschule sind es 72,7 Prozent, am Lernort allgemeine Schule dagegen „nur“ 45,5 Prozent. Demnach gelingt es besonders den allgemeinbildenden Schulen, Jugendliche erfolgreich zum Hauptschulabschluss zu führen.“ (Klemm 2023, S. 16)

Und Klaus Klemm lässt an Deutlichkeit nichts vermissen, indem er darauf hinweist:

„Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf in inklusiven Lernsettings sind im Vergleich seltener dem Risiko ausgesetzt, ihre Schulzeit ohne Schulabschluss zu beenden als gleichaltrige Schülerinnen und Schüler an Förderschulen.

Vor diesem Hintergrund gilt es einmal mehr, die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention konsequent voranzutreiben, um möglichst vielen Schülerinnen und Schülern die Möglichkeit eines qualifizierten Schulabschlusses zu eröffnen

Klemm S. 16

Verwundern muss auch nicht, dass es von Real-, und Waldorfschulen und Gymnasien kaum Jugendliche ohne Hauptschulabschluss gibt, da dieser ja in der Regel mit dem Vorrücken in die 10. Klasse automatisch verliehen wird. Die weniger leistungsfähigen Schüler:innen werden – sagte auch die Bertelsmann Stiftung – vorher abgeschult, also aus der Schulart entfernt.

Es gibt noch weitere Erkenntnisse, aber fürs erste sollen diese Hinweise genügen, die Klaus Klemm allen ins Stammbuch schreibt, die vorschnell Rückschlüsse auf Qualität und Struktur ziehen:

Keine voreiligen Schlüsse auf die Qualität der Schulen!

Vor diesem Hintergrund muss somit davor gewarnt werden, allein aus der Quote der Schülerinnen und Schüler ohne Hauptschulabschluss Rückschlüsse auf die Qualität der Arbeit der jeweils verglichenen Schulen einzelner Bundesländer oder einzelner Regionen zu ziehen.

Klemm S.14

Warum sind eigentlich manche Verfechter des fälschlicherweise so genannten „differenzierten“ Schulsystems so wenig in der Lage differenziert zu lesen? Hören wir lieber auf das – von keinerlei falschen Strukturkritik angekränkelte – Fazit, das uns noch einmal den springenden Punkt der Inklusion einschärft:

„Im Mittelpunkt aller Anstrengungen müssen die Jungen sowie die Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund (von denen Ausländer nur ein Teil sind) stehen. Darüber hinaus sollten Regionen mit besonders hohen Quoten und insbesondere auch die Kinder und Jugendlichen mit einem diagnostizierten sonderpädagogischen Förderbedarf (insbesondere in Förderschulen) gesondert in den Blick genommen werden.

Hier gilt es den Ausbau des gemeinsamen Unterrichts in einem inklusiven Schulsystem weiter voranzutreiben, der zugleich eine bessere Ressourcenausstattung für allgemeinbildende Schulen erforderlich macht.

(Klemm 2023, S. 21)

Literatur

Klemm, K. (März 2023). Jugendliche ohne Hauptschulabschluss. Demographische Verknappung und qualifikatorische Vergeudung. Gütersloh: Bertelsmann Stiftung. DOI: 10.11586/2023005.

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