Rund um Bildung und Schule sind viele Behauptungen im Umlauf, die zwar von langer Tradition gestützt werden, aber nicht von wissenschaftlichen Erkenntnissen. Hier ein paar Strategien, wie man diese Mythen bei sich selbst und anderen erkennt.
Asberger, J., Futterleib, H., Thomm, E. & Bauer, J. (2022). Wie erkennt man Bildungsmythen? In Steins, G., Spinath, B., Dutke, S., Roth, M., Limbourg, M. (Hrsg.), Mythen, Fehlvorstellungen, Fehlkonzepte und Irrtümer in Schule und Unterricht. Psychologie in Bildung und Erziehung: Vom Wissen zum Handeln. (S. 3–26). Wiesbaden: Springer.
(Im Folgenden sind die kursiven Stellen redaktionell, die anderen Zitate.)
Die ersten drei Heuristiken: Vorsicht vor Vereinfachungen!
Die ersten drei Heuristiken fordern zur Berücksichtigung der oftmals vernachlässigten natürlichen Komplexität von Lehr- und Lernprozessen auf:
1 Hüten Sie sich vor Übervereinfachungen komplexer Sachverhalte!
Beispiel Klassengröße
Betrachten wir Übervereinfachungen an einem klassischen Bildungsmythos und Dauerbrenner der bildungspolitischen Diskussion, der Rolle der Größe von Schulklassen als Einflussfaktor auf Unterrichtsqualität und Lernerfolg. Große Klassen werden im öffentlichen Diskurs häufig mit Problemen schulischen Lehrens und Lernens in Verbindung gebracht. Auf den ersten Blick erscheinen die Vorteile kleinerer Klassen für den Unterricht unmittelbar einleuchtend, vor allem, wenn man sie aus Perspektive von Lehrkräften betrachtet. Zur Rolle der Klassengröße existiert jedoch ein umfangreicher Forschungsstand, der insgesamt besagt: Unterschiede in Klassengrößen, wie sie im Schulsystern natürlicherweise auftreten, haben allenfalls sehr geringe Effekte auf Schulleistung und auch dies nur für spezifische Gruppen (Bowne et al., 2017; Hattie, 2009). (Asberger et al. 2022, S. 6)
Typische Begründungslinie diese Mythos´
In kleineren Klassen können Lehrkräfte aufgrund der günstigeren Betreuungsrelation Schüler/-innen besser individuell fördern — damit steigt die Unterrichtsqualität — damit steigen Lerngewinne. Diese Argumentation wirkt zunächst sehr plausibel, vermutlich ein wichtiger Grund für die Stabilität des Mythos. (Asberger et al. 2022, S. 7)
Die Autor:innen sehen als Grundlage dieses Mythos eine Übervereinfachung: Es gibt viele Einflussfaktoren, die zum Unterrichtserfolg beitragen oder ihn verhindern. Sie zitieren dazu folgendes “Angebots-Nutzen-Modell”:

Übervereinfachungen komplexer Sachverhalte sind ein wesentliches Merkmal, an dem man Fehlkonzepte (nicht nur) zu Bildungsthemen erkennen kann (Mandl et al., 1993; Sinatra & Jacobson, 2019). Sie können in vielerlei Gewändern auftreten, deshalb gibt es Querverbindungen zu anderen in diesem Kapitel behandelten Heuristiken. Pyramidenartige Lernhierarchien (2. Heuristik) oder deterministische Vorstellungen von Ursache-Wirkungs-Zusammenhängen (3. Heuristik) sind letztlich spezifische Formen von Übervereinfachungen.
Seien Sie also insbesondere vorsichtig, wenn…
- die Relevanz eines einzelnen Einflussfaktors auf Lehr-Lernprozesse thematisiert wird, ohne konkurrierende Einflüsse mit zu bedenken und sie damit ins Verhältnis zu setzen.
- direkte und große Einflüsse struktureller Merkmale oder Ressourcen (zZ. B. technische Ausstattung) von Bildungsinstitutionen auf Unterrichtsqualität und Lerngewinne postuliert werden. (Asberger et al. 2022, S. 7–9)
2 Vorsicht bei einfachen, schematischen Darstellungen!
Bildungsmythen finden sich oft in pyramidenartigen Darstellungen von Lernhierarchien, denen Sie grundsätzlich misstrauen sollten. Häufig werden darin unterschiedliche Lehr- oder Lernformate nach ihrer Effektivität hierarchisiert, wobei bestimmte Formate als besonders effektiv und andere als ineffektiv deklariert werden. Oftmals hübsch grafisch dargestellt, suggerieren sie, wie leicht man erfolgreich lernen könne, berücksichtigte man nur das enthaltene Stufenprinzip.
Gibt man das Stichwort Lernpyramide in eine Suchmaschine ein, findet man unzählige Varianten solcher Pyramiden. Ein prominentes Beispiel beschreiben De Bruyckere et al. (2015) in ihrem Buch Urban Myths about Learning and Education. Demnach lerne man 70 % aus Erfahrungen, 20 % aus der Interaktion mit anderen Menschen und (nur) 10 % in formellen Bildungseinrichtungen, wie der Schule oder der Universität. Diese unangemessen vereinfachte Darstellung suggeriert, man lerne fast alles in informellen Kontexten und formelle Bildung sei quasi nutzlos. (Asberger et al. 2022, S. 9)
Hier von mir [PS] ein häufig auffindbares Exemplar einer solchen Lernpyramide:

Genaue Prozentwerte?
Vielleicht hat Sie an der beispielhaften Lernpyramide von oben bereits überrascht, dass man genau 70 % (wovon eigentlich?) aus Erfahrung lernt, genau 20 % aus Interaktionen etc. Für diese Prozentwerte wird meistens keine Evidenz angeführt, sodass unklar ist, woher sie kommen. Und selbst wenn sie empirisch belegt wären, wäre aus wissenschaftlicher Sicht eine Information über die damit verbundene Unsicherheit angebracht. (Asberger et al. 2022, S. 10)
Seien Sie also kritisch, wenn…
- Lehr-Lernformate hierarchisiert und als sich gegenseitig ausschließend dargestellt werden.
- schlichte Prozentangaben hinsichtlich der generellen Wirksamkeit von Lehr- oder Lernformaten angegeben werden, ohne die Grundlage dieser Zahlen zu benennen und die damit verbundene Unsicherheit zu deklarieren. (Asberger et al. 2022, S. 10)
3 Meiden Sie einfache Ursache-Wirkungs-Beziehungen!
“Ist denn jetzt problemorientiertes Lernen besser als die direkte Instruktion?” Solche Fragen sind irreführend, weil die Wirkung solcher Maßnahmen immer nur individuell zu denken ist. Das heißt, wenn man eine Klasse und eine Vergleichsklasse untersucht, erhält man immer gestreute Ergebnisse – was bei dem einen Kind in der 4a wirkt, muss bei dem anderen Kind nicht den identischen Effekt haben. Oder wie die Verfasser sich ausdrücken:
Der zentrale Punkt ist dabei, dass dies nicht für alle Schüler/-innen in gleichen Maße gelten muss. Wenn es um die Effekte von Maßnahmen geht, sollte man also in Verteilungen denken. Dies bedeutet, die Streuung von Ergebnissen um ihren Durchschnittswert bei der Interpretation zu berücksichtigen.
Mit dieser Grafik werden in dem Aufsatz die Streuung von Versuchsergebnissen und mögliche Überlappungen bei den beiden Gruppen illustriert:

Zudem muss man häufig Randbedingungen mitberücksichtigen, die mit dem Effekt in Wechselwirkung treten (sog. Interaktionseffekte). Beispielsweise ist die Effektivität von Lehrmethoden häufig abhängig von Randbedingungen (1)
des Lehrinhalts und der Lernziele, (2) der Qualität ihrer Umsetzung und (3) Merkmalen der Lernenden. So zeigt sich, dass komplexe Methoden, wie problemorientiertes Lernen, besser für Lernende mit hohem Vorwissen im Gegenstandsbereich geeignet sind; Anfänger/-innen profitieren hingegen meist mehr von direkter Instruktion, die eine systematische Einführung bietet (Lipowsky, 2020; Renkl, 2020).
Wenn Sie sich zu Bildungsthemen informieren, sollten Sie also versuchen, sich kausale Effekte als Verteilungen vorzustellen und überlegen, wie sich dieses Bild unter bestimmten Randbedingungen verändern kann. Achten Sie zudem auf typische Formen deterministischen Denkens und seien Sie vorsichtig, wenn:
- (implizit) unterstellt wird, dass alle Personen von einer bestimmten Lehrmethode profitieren und besser abschneiden als alle Personen einer Vergleichsgruppe.
- eine Lehrmethode oder Intervention als besonders effektiv gepriesen wird, ohne Randbedingungen des Lerninhalts und Lernendenmerkmale zu thematisieren. (Asberger et al. 2022, S. 13)
Zwei weitere Heuristiken: Achten Sie auf Ihre Begründungen!
Zwei weitere Heuristiken helfen, Begründungszusammenhänge kritisch zu prüfen, die als vermeintlicher Beleg für eine Behauptung angeführt werden:
4 Hinterfragen Sie Ihre Intuition bei Bildungsthemen!
Bildungsmythen beruhen oftmals auf Annahmen, die uns intuitiv sinnvoll erscheinen. Intuition ist ein Denkprozess, der auf persönliche Erfahrungen und implizites Wissen zurückgreift und automatisch ohne bewusste Überlegungen erfolgt. (Asberger et al. 2022, S. 13)
Intuitionen können uns ein unmittelbares Gefühl der Plausibilität darüber liefern, ob eine Behauptung (zum Beispiel zu einem Bildungsthema) zutreffend ist. Entsprechende Begründungen oder Erklärungen werden als eingängig erlebt und können teils anhand eigener Erfahrungen und Beobachtungen nachvollzogen oder bestätigt werden (Pajares, 1992; Richardson, 1996).
Gesunder Menschenverstand und Bauchgefühl
Entsprechend werden Aussagen zu Bildungsthemen oft mit „gesundem Menschenverstand“ oder „Bauchgefühl“ begründet (Pieschl et al., 2021). Eine zusätzliche Bewertung oder Überprüfung, beispielsweise durch den Abgleich mit wissenschaftlichen Erkenntnissen, wird dabei oft als nicht notwendig erachtet und daher nicht in Betracht gezogen (Thomm et al., 2021). (Asberger et al. 2022, S. 13)
Die Forschung konnte eine ganze Reihe typischer kognitiver Fehler identifizieren, die darauf beruhen, dass unsere persönlichen Vorannahmen die Suche nach und Verarbeitung von Informationen beeinträchtigen können (Britt et al., 2019; Weber & Knorr, 2020). So tendieren Menschen dazu,
- eher Informationen auszuwählen und zu berücksichtigen, die ihre bestehenden Überzeugungen stützen, auch wenn diese objektiv nicht zutreffen (confirmation bias; Nickerson, 1998).
- Dagegen neigen wir dazu, widerlegende Informationen umzudeuten, abzuwerten oder gar zu ignorieren, um unsere Vorannahmen aufrechtzuerhalten, anstatt sie zu korrigieren (Chinn & Brewer, 1998).
Diese und weitere Effekte kognitiver Verzerrungen führen dazu, dass intuitive Urteile nur bedingt verlässlich sind. (Asberger et al. 2022, S. 14)
Mythos Lernstile – weit verbreitet, trotzdem falsch
Ein Beispiel für einen auf den ersten Blick intuitiv plausibel erscheinenden, aber dennoch falschen Bildungsmythos ist die Annahme, Menschen ließen sich in sogenannte Lernstile (oder Lerntypen) einordnen. Meist werden auditive, visuelle oder kinästhetische Lernstile unterschieden.
Personen lernen diesem Mythos zufolge besser, wenn ihnen Informationen auf dem „Kanal“ ihres Lernstils dargeboten werden. Personen, die eher dem auditiven Lernstil entsprechen, lernen demnach insbesondere durch Hören und gesprochene Sprache, während Personen, die eher dem visuellen Lernstil entsprechen, sich Wissen besonders gut durch Bilder und Beobachtung aneignen.

Wissenschaftlich gilt die Existenz solcher Lernstile als klar widerlegt: Zwar geben Personen in Befragungen durchaus unterschiedliche Präferenzen an, wie sie Instruktionen erhalten, diese sind allerdings völlig unabhängig vom Lernerfolg (De Bruyckere et al., 2015).
Dennoch ist dieser Bildungsmythos auch unter Lehrkräften nach wie vor weit verbreitet (Dekker et al., 2012). Warum erscheint er für viele auf den ersten Blick intuitiv plausibel? Der Mythos liefert eine einfache Erklärung, warum wir mal besser und mal weniger gut lernen können – etwas, das wir vermutlich alle erlebt haben und an uns selbst beobachten können. Aufgrund seiner hohen augenscheinlichen Plausibilität, die wortwörtlich unsere Sinne anspricht, erscheint er intuitiv als schlüssig. (Asberger et al. 2022, S. 14)
Achten Sie also insbesondere darauf …
- vorsichtig mit intuitiven Urteilen über die Stichhaltigkeit von Aussagen zu Bildungsthemen zu sein und die Beurteilungsgrundlage kritisch zu hinterfragen.
- weitere Belege zu haben, um Ihr Bauchgefühl mit externen Informationsquellen kritisch abzugleichen, insbesondere mit wissenschaftlich überprüften Informationen.
- offen für neue Informationen zu sein, (insbesondere) auch dann, wenn diese möglicherweise Ihrer Intuition und Ihren Überzeugungen widersprechen. (Asberger et al. 2022, S. 15)
5 Akzeptieren Sie Einzelfälle nicht als einzige Belege!
Eine Aussage ist allgemeingültig, wenn sie über einen Einzelfall hinausgeht, also – zumindest im Durchschnitt- auch für andere Personen einer Population gültig ist. (Asberger et al. 2022, S. 15)
Beispiel Sitzenbleiben
Klassenwiederholungen sind in Deutschland gängige Praxis und werden sowohl in der Öffentlichkeit als auch unter Lehrkräften mehrheitlich befürwortet (König et al., 2012). Ob Klassenwiederholungen Leistungsdefizite von betroffenen Schüler/-innen langfristig ausgleichen können, ist nach dem bisherigen wissenschaftlichen Erkenntnisstand allerdings stark zu bezweifeln (Jimerson & Brown, 2013). Nun kann es durchaus sein, dass Sie eine Schülerin kannten, der es guttat, eine Jahrgangsstufe zu wiederholen. Doch können Sie daraus schließen, dass Klassenwiederholung generell eine effektive Maßnahme zur Kompensation von Leistungsdefiziten ist? Nein! Auch wenn Ihre anekdotische Evidenz subjektiv überzeugend wirken mag, ist sie für die Beurteilung der Wirksamkeit von Klassenwiederholungen völlig irrelevant. (Asberger et al. 2022, S. 16)
Achten Sie deshalb darauf, mit welcher Art von Belegen Sie umgehen
und seien Sie skeptisch, wenn:
- ausschließlich persönliche Beobachtungen und Erfahrungen dazu dienen, Aussagen über Bildungsthemen zu begründen.
- einzelne Fallbeispiele genutzt werden, um die Wirksamkeit einer Maßnahme oder Methode zu be- oder widerlegen („Bei meinen Kindern hat das ganz toll/überhaupt nicht gewirkt“). (Asberger et al. 2022, S. 17)
Die beiden letzten Heuristiken
Die beiden letzten Heuristiken zielen auf Bildungsmythen ab, die problematische Charakteristika sowohl hinsichtlich der Behauptung als auch ihrer Begründung aufweisen. Sie helfen Ihnen im Umgang mit zwei spezifischen, aber weit verbreiteten Gruppen von Bildungsmythen.
6 Seien Sie skeptisch bei der Anwendung neurowissenschaftlicher Forschungsbefunde auf Bildungsfragen!
Unter dem Stichwort Neurodidaktik ist daraus ein florierender und einträglicher Markt an Ratgebern, Weiterbildungen und Vortragsreihen entstanden. Damit soll Lehrkräften und der Öffentlichkeit auf vermeintlich solider naturwissenschaftlicher Grundlage gezeigt werden, wie Lehren und Lernen „gehirngerecht“ funktioniere. Entsprechend sind Neuromythen teils sehr weit verbreitet (Dekker et al., 2012). (Asberger et al. 2022, S. 17–18)
Beispiel Hemisphärendominanz: “linkshirnige” oder “rechtshirnige” Menschen?
Ein Beispiel hierfür ist die sogenannte Hemisphärendominanz: Bei bestimmten kognitiven oder emotionalen Prozessen zeigt eine Hirnhälfte mehr Aktivität als die andere. So ist beispielsweise die linke Hirnhälfte stärker daran beteiligt, Wörter zu identifizieren und zu verarbeiten, die rechte stärker an der Verarbeitung negativer emotionaler Reize. Aus solchen Befunden entsteht ein Neuromythos, wenn fälschlicherweise geschlossen wird, es gäbe „linkshirnige“ (eher analytisch-denkende) und „rechtshirnige“ (eher kreativ-denkende) Menschen, die sich in der Art des Lernens und der Verarbeitung neuer Inhalte unterscheiden (Nielsen et al., 2013).
Warum ist diese Klassifizierung falsch? Zwar versucht die Neuroforschung durchaus, kognitive Funktionen im Gehirn zu lokalisieren und die Beteiligung verschiedener Areale abzubilden. Die Prozesse menschlichen Denkens und Lernens sind jedoch äußerst vielschichtig. Sie basieren auf der Vernetzung beider Gehirnhälften und der gleichzeitigen Involviertheit vieler Gehirnareale. (Asberger et al. 2022, S. 18)
Hier eine Illustration für die Arbeitsteilung der Hirnhälften:
Vermischung mit Bildungsmythen
Dieses Beispiel zeigt, wie sich in Neuromythen die bislang diskutierten Merkmale von Bildungsmythen mischen:
- Erstens basieren sie auf theoretisch- inhaltlichen Fehlinterpretationen neurowissenschaftlicher Befunde.
- Häufig spielt dabei die Übersimplifizierung komplexer Sachverhalte eine wichtige Rolle.
Im Beispiel wird aus der graduellen Dominanz der Aktivierung von Hirnarealen bei unterschiedlichen Informationsverarbeitungsprozessen eine simple, statische Typologie. Gleichzeitig wirken Neuromythen leicht verständlich und liefern vermeintlich intuitiv plausible Erklärungen für komplexe Probleme des Lehrens und Lernens.
Zweitens werden solche Befunde in unzulässiger Weise als argumentative Begründung für Behauptungen über Bildungsthemen verwendet. Geflissentlich ignoriert werden dabei die Bedingungen, unter denen Forschungsbefunde in den Neurowissenschaften entstehen und die für ihre Anwendung auf Lehr-Lern-Situationen berücksichtigt werden müssten. (Asberger et al. 2022, S. 18)
Leider scheinen Neuromythen per se sehr überzeugend
Laut Umfragen sind sie bei Lehrkräften weit verbreitet (Dekker et al., 2012). Zudem werden Erklärungen, die neurowissenschaftliche Inhalte benennen, häufig als besonders stichhaltig empfunden, auch wenn sie für den Fragekontext irrelevant sind (Weisberg et al., 2008). Beides mag am naturwissenschaftlichen Nimbus der Neurowissenschaften liegen, der ihre Befunde als vertrauenswürdiger erscheinen lassen mag als die gängiger pädagogisch-psychologischer Lehr-Lern-Forschung.
In Bezug auf das professionelle Handeln und Entscheiden von Lehrkräften ist es jedoch hoch problematisch, Neuromythen anzuhängen. Dies gilt insbesondere, wenn die betreffenden Merkmale zusätzlich als unveränderlich erachtet und mit (z. B. geschlechtsbezogenen) Stereotypen verbunden werden.
Wie können Sie also Neuromythen aufdecken? Machen Sie sich bewusst, dass sowohl der Gegenstand der Hirnforschung als auch Ihre Befunde komplex und für Lai/-innen ohne vertieftes Fachwissen nur sehr begrenzt interpretierbar sind. Bleiben Sie also skeptisch, wenn Befunde aus den Neurowissenschaften herangezogen werden, um vielschichtige Phänomene des Lehrens und Lernens scheinbar einfach zu erklären. (Asberger et al. 2022, S. 19)
7 Hinterfragen Sie Rückschlüsse aus gesellschaftlichen Prognosen auf das Bildungssystem!
Prognosen und 21st-Century-Skills
Dazu gehört zum Beispiel die Annahme, dass 65 % der zukünftig verfügbaren Jobs heute noch nicht existieren und das Bildungssystem Schüler/-innen folglich auf diese veränderten Anforderungen vorbereiten müsse (De Bruyckere et al., 2020). Die Grundlage dieser 65 %-Schätzung ist leider völlig unklar.
Ein ähnlicher und stark verbreiteter Mythos betrifft die sogenannten 2/st-Century Skills, angeblich in Zukunft hochgradig gefragte Kompetenzen, auf die Schüler/-innen heute besonders gut vorbereitet werden sollten. Je nach Quelle unterscheidet sich die Zusammenstellung von 21st-Century Skills, häufig umfassen sie aber fächerübergreifende Kompetenzen wie Problemlösen, Umgang mit Informationen, kritisches Denken, Kreativität, Kollaboration oder Kommunikation.
Auch diese Prognose sollte man mit Vorsicht genießen. Zum einen waren viele dieser Kompetenzen auch in der Vergangenheit schon wichtig. Zum anderen sind 21st-Century Skills zwar meistens generisch formuliert, allerdings sehr abhängig von domänenspezifischem Fachwissen (De Bruyckere et al., 2020). Für beide Beispiele gilt außerdem, dass es identische Prognosen bereits früher gab (vgl. die Debatte um Schlüsselqualifikationen ab den 1970er Jahren) und es sich deshalb eigentlich um alte Prognosen mit neuen Labels handelt. (Asberger et al. 2022, S. 20)
Seien Sie also kritisch, wenn…
- aus gesellschaftlichen Entwicklungen auf die Zukunft der Bildung geschlossen wird.
- radikale, deterministische und schnelle Veränderungen mit einer hohen Sicherheit für die Zukunft des Bildungssystems vorhergesagt werden. (Asberger et al. 2022, S. 21)
Alltagswissen vs wissenschaftliches Wissen
Dabei war es uns auch ein Anliegen, die Stärken (und auch Einschränkungen) wissenschaftlichen Wissens darzustellen. Dies erscheint uns besonders wichtig, denn nicht selten sieht sich wissenschaftliches Wissen im Bildungsbereich mit Akzeptanzproblemen und Vorwürfen konfrontiert:
Es gilt als trivial, wenn es Alltagswissen bestätigt; als fehlerhaft, wenn es im Widerspruch zu Alltagswissen steht; oder als nutzlos, wenn es nicht unmittelbar nachvollziehbar und anwendbar ist. Um Fehlannahmen auszuräumen, ist es wichtig, solche zwar einfachen, aber dysfunktionalen Urteilsmuster zu durchbrechen und wissenschaftlichen Befunden offen zu begegnen. (Asberger et al. 2022, S. 22)
Qualitätsvoller Unterrichten!
Natürlich kann eine Lehrkraft nicht bei jeder einzelnen Handlung im Unterricht darüber nachdenken, auf Grundlage welcher Evidenz sie soeben agiert. Wissenschaftliches Wissen liefert zudem selten konkrete Handlungsrezepte. Ein Mindestanspruch an Professionalität ist jedoch, nicht entgegen oder in völliger Ignoranz des verfügbaren wissenschaftlichen Wissens zu handeln und zu entscheiden (Bauer et al., 2015).
Tatsächlich zeigen Befunde, dass Lehrkräfte mit besserem pädagogischen und fachdidaktischen Wissen qualitätsvoller unterrichten (Voss et al., 2015). Fehlkonzepte beeinträchtigen den Aufbau eines solchen soliden Fachwissens und können sich auch im Unterricht negativ auswirken (Fives & Buehl, 2012). Beispielsweise scheinen Lehrkräfte, die von der Effektivität von Klassenwiederholungen überzeugt sind, weniger individuelle Unterstützung im Unterricht anzubieten (König et al., 2012). (Asberger et al. 2022, S. 22)
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