Dass der Einfluss der Herkunftsfamilie sich schon vor Schulbeginn entscheidend auswirkt, erlebt jede Grundschullehrerin mit jedem Kind, das sie neu aufnimmt. Während ein Erstklässler schon sicher seinen Namen schreiben kann, kann ein anderer mit Buchstaben noch wenig anfangen. Hier ein paar Ergebnisse aus einer Untersuchung, in der die vorschulischen Herkunftsunterschiede mit dem verglichen wurden, was sich während der Grundschulzeit ergibt.
Passaretta, G., Skopek, J. & van Huizen, T. (2020, 06. April). To what extent is social inequality in school-age achievement determined before and during schooling? A longitudinal analysis in three European countries, https://www.researchgate.net/publication/340420006.
Wie üblich, fußt meine Übersetzung auf der Vorleistung von DeepL. Auslassungen in runden Klammern sind Literaturhinweise.
Was die Herkunftsunterschiede überhaupt bedeuten
Der Zusammenhang zwischen dem sozioökonomischen Status der Eltern (im Folgenden: SES) und dem Bildungserfolg der Schüler wurde in praktisch allen westlichen Ländern dokumentiert (…). SES-Unterschiede im Bildungserfolg erklären einen großen Teil der sozialen Unterschiede bei Bildungsübergängen, wie z.B. die Wahl des Bildungswegs oder die Fortsetzung der Schulausbildung (…). Daher ist die Leistungsungleichheit ein wichtiger Mechanismus, durch den soziale Ungleichheit im Bildungsniveau erzeugt wird. Darüber hinaus prägt die Ungleichheit im SES Unterschiede in den späteren Arbeitsmarktergebnissen mehr als formalen Bildungsabschlüsse (…). (Passaretta et al. 2020, S. 2)
Allgemeine Erkenntnis: Die Unterschiede wirken hauptsächlich schon vor Schuleintritt
Diese Erkenntnis stammt hauptsächlich auch dem englischen Sprachraum. Was fehlt, ist eine Untersuchung, die sich spezielle mit Deutschland befasst. Zum Vergleich werden Großbritannien und die Niederlande mit herangezogen.
Auf der Grundlage von Daten aus Kinderkohortenstudien untersucht eine wachsende Zahl von Längsschnittforschungen die frühen Wurzeln und die Entwicklung von SES-Lücken in der Schulleistung. Eine Reihe von Studien (zumeist über anglophone Länder) hat recht konsistent gezeigt, dass soziale Leistungsunterschiede entstehen und wachsen, bevor Kinder eingeschult werden, aber im Großen und Ganzen stabil bleiben und im Laufe der Schulzeit nur leicht zunehmen (…). Dieser übereinstimmende Befund kann die Aufmerksamkeit von Wissenschaftlern und politischen Entscheidungsträgern auf die Ungleichheit der Bildungschancen in den frühen Lebensjahren lenken (…). (Passaretta et al. 2020, S. 2)
Drei Forschungsfragen
(1) Wie groß sind die Lücken des SES bei den schulischen Leistungen vor dem Schuleintritt der Kinder und wie entwickeln sich diese Lücken während der Grundschulzeit?
(2) Inwieweit sind SES-Lücken in der Grundschulbildung auf SES-Lücken zurückzuführen, die bereits vor der Grundschulbildung ausgebildet sind?
(3) Beziehen sich die Antworten auf die Fragen (1) und (2) auf Unterschiede im institutionellen Kontext? Wir konzentrieren uns auf sprachbezogene Leistungen, die eine der kritischsten Dimensionen der kognitiven Entwicklung in den frühen Lebensjahren und entscheidend für den Bildungserfolg und die späteren Lebenschancen sind (…). (Passaretta et al. 2020, S. 3-4)
Ergebnis 1: Die wesentlichen Unterschiede bestehen schon vor dem Schuleintritt und sind in Deutschland vergleichsweise stark
In Übereinstimmung mit früheren Forschungen über die Entwicklung von Kindern stellten wir zunächst fest, dass die Ungleichheit der sprachlichen Leistungen beim SES bereits vor dem Eintritt der Kinder in die formale Schulbildung gut etabliert ist. Obwohl beim Vergleich der Testmetriken zwischen den Ländern eine gewisse Vorsicht geboten ist, deuteten unsere Daten darauf hin, dass die frühen SES-Unterschiede in Deutschland am größten waren, gefolgt von Großbritannien und zuletzt den Niederlanden, wo ein ECEC-System mit gezielten Programmen für Kinder aus bildungsfernen Schichten eingeführt wurde. (Passaretta et al. 2020, S. 21)
Ergebnis 2: Die Unterschiede bleiben im wesentlichen während der Grundschule gleich
Zweitens blieb der Grad der Ungleichheit der SES-Sprachkenntnisse im Vergleich zur Grundschulbildung im Vereinigten Königreich und in Deutschland relativ gesehen relativ stabil, während er in den Niederlanden zunahm. Am Ende der Grundschulzeit war das Niveau der SES-Ungleichheit bei den Leistungen in den einzelnen Ländern jedoch recht ähnlich. (Passaretta et al. 2020, S. 21)
Ergebnis 3: Die Unterschiede am Ende der Grundschulzeit erklären sich zu 60-80% aus dem Vorschulischen
Drittens fanden wir Belege für eine erhebliche Persistenz der SES-Ungleichheit in den Leistungsklassen über die Zeit. Unsere Analysen deuten darauf hin, dass ein großer Teil der Ungleichheiten des SES bei den Leistungen im Grundschulalter durch die bis zum Ende der Vorschulphase geprägte SES-Ungleichheit erklärt werden kann. Der “indirekte” Einfluss war für etwa 55-60 % des schulischen Altersunterschiedes im Vereinigten Königreich verantwortlich, in Deutschland und den Niederlanden sogar für bis zu 60-80 % (…). (Passaretta et al. 2020, S. 22)
Hauptaussage
Daher muss die Mehrheit der bekannten sozialen Unterschiede im Bildungserfolg von Kindern im Schulalter durch Mechanismen erklärt werden, die schon in den frühen Jahren der Kindheit und nicht erst in den Schuljahren Ungleichheiten bewirken. (Passaretta et al. 2020, S. 22)
Der Einfluss des familiären Hintergrundes wirkt auch während der GS-Jahre weiter
Unsere Ergebnisse zeigen auch, dass ein nicht zu vernachlässigender Anteil der SES-Lücken im Schulalter auf Faktoren zurückzuführen sein könnte, die mit dem sozialen Hintergrund zusammenhängen und die die schulischen Leistungen der Kinder weiterhin beeinflussen. Wir schätzten, dass der direkte Kanal für etwa 20-40% (Deutschland und die Niederlande) bis 40-45% (Großbritannien) der Verbindung zwischen SES-Leistung in der Mitte und am Ende der Grundschulzeit verantwortlich war. (Passaretta et al. 2020, S. 22)
Folgerung: Frühzeitig Eingreifen!
Unsere Ergebnisse haben auch relevante Implikationen für die Gestaltung der Sozialpolitik. Zunächst einmal scheint die Förderung von mehr Chancengleichheit vor dem Schulbesuch der effektivste Weg zu sein, um soziale Ungleichheiten bei den schulischen Leistungen zu verringern. In dieser Hinsicht knüpfen unsere Ergebnisse an eine Vielzahl von Forschungsergebnissen an, die argumentieren, dass frühe Bildungsprogramme insbesondere für benachteiligte Kinder erhebliche Vorteile bringen können (…). Unabhängig davon, ob sie auf den Ausbau der frühkindlichen Bildung und Betreuung oder die direkte Unterstützung innerhalb des familiären Umfelds ausgerichtet sind, haben frühe Interventionen daher das Potenzial, nicht nur die soziale Ungleichheit in der frühen Bildungsphase, sondern auch in späteren Bildungsphasen durch positive Lern- und Leistungsdynamiken zu verringern. (Passaretta et al. 2020, S. 22-23)
Im Auge behalten: Wie der familiäre Hintergrund sich auch während der GS-Zeit auswirkt
Diese Diskussion legt nahe, dass ein zweiter, aber weniger effektiver Weg zur Verringerung der sozialen Ungleichheiten im Schulalter darin besteht, die Mechanismen der sozialen Ungleichheit zu minimieren, die es Kindern aus besser gestellten Familien ermöglichen, während der Bildungslaufbahn weiter von ihrem sozialen Hintergrund zu profitieren. Dieses Ziel kann z.B. dadurch erreicht werden, dass die auf dem SES basierende Sortierung in Schulen oder die informelle Differenzierung zwischen und innerhalb von Grundschulen verringert wird. (Passaretta et al. 2020, S. 23)
Vorschulisches Eingreifen ist besonders für Deutschland wichtig!
Der länderübergreifende Vergleich deutet darauf hin, dass Interventionen im Vorschulalter zwar im Allgemeinen und überall wirksamer sind als Interventionen im Schulalter, dass sie aber in Deutschland besonders wirksam wären, wo die Unterschiede im Vorschulalter die große Mehrheit der sozialen Ungleichheit bei den späteren Leistungen erklären. (Passaretta et al. 2020, S. 23)
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