“Was das Sitzenbleiben betrifft, so ist die einzig interessante Frage, warum es das angesichts der überwältigenden Faktenlage überhaupt noch gibt!”[1]
So ähnlich konnte man das schon in der ersten Hattiestudie von 2009 lesen. In der neuen und erweiterten Ausgabe wird diese Erkenntnis durch eine erweiterte Faktenlage noch stärker unterstrichen. Hier ein paar Aussagen aus diesem (traurigen) Kapitel Seite 230f.
Hattie, John (2023). Visible learning. The sequel; a synthesis of over 2,100 meta-analyses relating to achievement (First edition). Abingdon, Oxon: Routledge.
Die neue Thermometerdarstellung

Als Veranschaulichung hatte John Hattie in seinem ersten Buch auf Vorschlag seiner Frau eine Art Tachometer gewählt. In The Sequel bevorzugt er ein Thermometer, in welchem die wichtigsten Informationen auf einem Blick zusammengefasst sind. Hier erkennt man
- die Anzahl der Metastudien zum Sitzenbleiben = 10;
- die der Metastudie zugrundeliegenden 339 Einzelstudien;
- die daran beteiligten 50 694 Personen;
- die Zählung, wie oft dieser Effekt genannt wurde = 4 456 mal;
- den Standardfehler / standard error se = 0.04;
- die Effektstärke von -0.24 (der Durchschnitt über alle Effekte liegt übrigens bei d = 0.40),
- die Streuung, gekennzeichnet mit der weißen Blase um die Effektstärke herum
- und die Robustheit des Ergebnisse auf einer Skala von 1 bis 5, in diesem Fall also maximal belastbar.
Je weiter ein Effekt im blauen Bereich liegt, desto weniger oder negativ ist er wirksam. Je weiter im roten Bereich, desto besser und wirksamer für den Zuwachs in der Schulleistung.
Für das Sitzenbleiben wird damit deutlich: Es schadet mehr als es nützt!
Zusammenfassung
Das Wiederholen einer Jahrgangsstufe beruht auf der Überzeugung, dass Kinder durch das Sitzenbleiben mehr lernen. Dies ist einer der wenigen Bereiche im Bildungswesen, in dem es schwierig ist, Studien zu finden, die nicht ausschließlich null oder negative Auswirkungen zeigen. Insgesamt gibt es negative Auswirkungen für wiederholende Schüler, und es gibt langfristig mehr positive Auswirkungen für vorgerückte als für wiederholende Schüler – selbst wenn die Leistungen zum Zeitpunkt der Entscheidung über Sitzenbleiben oder Vorrücken gleich sind.[2]

Weitere Einzelergebnisse
Motivation durch Drohung mit Sitzenbleiben?
Deutlich wurde, dass die Drohung mit Sitzenbleiben für Schüler keine motivierende Kraft darstellt.[3]
Vergleichsgrößen
Es gibt zwei Vergleichsgrößen – solche, bei denen die Sitzenbleiber mit ihren neuen Klassengenossen verglichen werden, und solche, bei denen die Wiederholer mit ihren Altersgenossen, die vorrücken durften, verglichen werden. Die Auswirkungen von Klassenvergleichen sind d = 0,05 und für Altersvergleiche -0,11. Schüler, die sitzenbleiben, schneiden also genauso gut ab wie ihre neuen Mitschüler, bleiben aber hinter ihren vorgerückten Mitschülern zurück.[4]
Über alle Fächer hinweg
Es wurde festgestellt, dass sich das Sitzenbleiben in allen Fächern negativ auf die soziale und emotionale Anpassung, das Verhalten, das Selbstkonzept und die Einstellung zur Schule auswirkt. So stellte beispielsweise Jimerson (2001) auf der Grundlage von 169 Leistungseffekten einen mittleren Effekt von d = -0,39 fest, und dieser negative Effekt spiegelte sich in vielen Fächern wider: sprachlicher Ausdruck (d = -0,36), Lesen (d = -0,54) und Mathematik (d = -0,49).[5]
Beweise eindeutig negativ
Holmes (1989) kam zu dem Schluss, dass es schwierig wäre, eine andere pädagogische Praxis zu finden, für die die Beweise so eindeutig negativ sind. Die Auswirkungen auf die Leistung alleine sind schon schlimm genug, aber wenn man die negativen Auswirkungen auf die Chancengleichheit und die sozialen und emotionalen Auswirkungen hinzunimmt, sind die Argumente für das Sitzenbleiben sehr dürftig – Sitzenbleiben ist bei Jungen, rassischen/ethnischen Minderheiten oder benachteiligten Kindern am verbreitetsten.[6]
Das Problem ist die nicht gewährte Förderung
Diese negativen Auswirkungen sind zum Teil darauf zurückzuführen, dass die Schulen und Lehrkräfte den sitzenbleibenden Schülern beim ersten Mal in der Klasse keine optimalen Maßnahmen anbieten. Daher werden die Schüler in Unterrichtsformen gehalten, die ihnen schon im vorherigen Jahr keinen Nutzen gebracht haben.[7]
Stellt sich die Frage: Warum?
Warum halten Schulen und Lehrer:innen in Deutschland so am Sitzenbleiben fest, wenn sich doch die Nichtwirksamkeit dieser Maßnahme so deutlich gezeigt hat? Es gibt darauf schon ein paar Antworten. Keine davon wirft ein gutes Licht auf unser System.
Es ist halt Tradition.
Tradition greift immer dann, wenn man sich auf ein gewohntes und verbreitetes Verhalten zurückzieht, weil man nicht weiter reflektieren will. Aus welchen Gründen auch immer.
Die subjektive Erfahrung ist: “Mir hat das Sitzenbleiben ja auch nicht geschadet.”
Der Schwachpunkt dieser Argumentation liegt in der falschen Vergleichsgruppe, so wie Hattie es oben gezeigt hat: Wenn man sich mit denen vergleicht, die dann die neuen Klassenkamerad:innen sind, schneidet man (plusminus) nicht schlechter ab. Man darf sich halt nicht mit denen vergleichen, die dann ein Jahr voraus sind.
Selektionsdenken
Wer im selektiven Schulsystem aufwächst, hält es – mit all seinen Folgen – wohl für unvermeidlich, dass welche “durchs Raster fallen”, weil ja: Homogenisierung. Anders könne man ja wohl nicht unterrichten.
Mangelnde Förderhaltung
Nach wie vor haben sehr viele Lehrkräfte eigenartige Begabungskonzepte im Kopf, denen gemäß bestimmte Schüler:innen halt “beschränkt” seien, so dass ein weiteres Unterrichten auf diesem Niveau keinen Sinn habe. Dass man diese Kinder und Jugendlichen auch besser fördern könnte, dafür fehlt den einen die Perspektive, den anderen der Willen und den dritten das Personal. Finnland zeigt, wie es besser geht.
Und die Kosten?
Klaus Klemm kam im Jahr 2009 auf jährliche Gesamtausgaben für das Wiederholen einer Jahrgangsstufe von über 900 Millionen Euro. Das heißt, wir dürften inzwischen die 1 Milliarde überschritten haben, also 1 000 000 000 Euro mit wenig Sinn verpulvert.
1 000 000 000 Euro mit wenig Sinn verpulvert.
[1] The only question of interest relating to retention is why it persists in the face of this damning evidence.
[2] Retention is the practice of not promoting students up a grade level in school (that is, the student repeats the level), and it is based on the belief that children learn more academically by repeating a grade. This is one of the few areas in education where it is difficult to find any studies with other than a zero or negative effect. Overall, there are negative effects for retained students, and there are more positive effects in the long term for promoted students than for retained students – even when matched for achievement at the time of the decision to retain or promote.
[3] Clearly, the threat of nonpromotion is not a motivating force for students.
[4] There are two comparisons – grade comparisons compare those retained with their grade peers, and age comparisons compare repeaters with their age-mates who were promoted (most studies). The effects from grade comparisons are d = 0.05 and for age comparisons, −0.11. When students are retained, they do as well as peers but still fall behind their peers who were promoted (Goos et al., 2021).
[5] Retention has been found to have a negative effect across all subjects on social and emotional adjustment, and behavior, self-concept, and attitude toward school. For example, Jimerson (2001), based on 169 achievement effects, found a mean effect of d = −0.39, and this negative effect was mirrored across many subjects: language arts (d = −0.36), reading (d = −0.54), and mathematics (d = −0.49).
[6] Holmes (1989) concluded that finding another educational practice on which the evidence is so unequivocally negative would be difficult. The effects are bad enough for achievement, but when the negative equity and social and emotional effects are added, the situation is dire for retention (retention is highest among boys, racial/ethnic minorities, or less advantaged children) (Manacorda, 2012).
[7] These negative effects are partly caused by schools and teachers not providing optimal interventions for the retained students the first time they were in the grade. Therefore, the students are retained in programs that were not beneficial to them in the previous year.