“Ist die Inklusion schuld an den schlechten Schulleistungen der Viertklässler?”, so fragt der Titel einer Sendung des Deutschlandfunks.
Aussage von Frau Prien, derzeit KMK-Präsidentin
In einem Interview zum allgemeinen Absinken der Schulleistungen von Viertklässlern traf die derzeitige Präsidentin der Kultusministerkonferenz (KMK) Karin Prien folgende Aussage:
Natürlich spielen die Fluchtbewegungen, die wir erleben, eine Rolle. Unsere Gesellschaft ist inklusiver geworden, führt natürlich auch dazu, dass Lehrkräfte mit der wachsenden Heterogenität deutlich herausgefordert sind.
Karin Prien
Die Verwendung der Begrifflichkeit “inklusiver geworden” kann man freundlich oder kritisch deuten.
Freundliche Deutung
“Inklusiv” wäre hier als “integrativ” gemeint: Die Flüchtlinge bringen ihre Kinder mit, die beschult werden müssen. Das macht Klassen noch heterogener als sie es ohnehin schon sind. Das wiederum führt dazu, dass Lehrkräfte “deutlich herausgefordert” sind.
Kritische Deutung
Der Beitrag im Deutschlandfunk geht mit der Begrifflichkeit von Frau Prien kritisch um, indem er “inklusiv” als Signalwort für die Inklusion von behinderten Kindern in den allgemeinen Unterricht, also die Nicht-Sonderbeschulung versteht. Dazu wird ein Faktencheck angestellt, der Frau Prien zwischen den Zeilen liegende Annahmen unterstellt.
Dazu wird Conny Melzer, Professorin für Inklusion und Sonderpädagogik an der Uni Leipzig befragt, die sich über Frau Priens Aussage ärgert. Sie sieht diese in einem Zusammenhang mit einem Bericht in der Süddeutschen Zeitung, in dem es u.a. heißt:
Aber auch die fortschreitende Inklusion mit ihren Anforderungen an den Unterricht sowie eine veränderte Zusammensetzung der Schülerschaft durch mehr Kinder mit Migrationshintergrund spielten eine Rolle.
Karin Prien, SZ 17.10.22
Frau Melzer zerlegt Frau Priens Aussagen in zwei Aspekte, die sie damit suggeriere:
a) Die Inklusion in Deutschland würde fortschreiten.
b) Die Inklusion behinderter Kinder in allgemeinen Regelschulen würde insgesamt zu einem Leistungsabfall führen.
Beide Unterstellungen weist Prof. Melzer mit deutlichen Worten (und Belegen) zurück.
Steigende Separationsquoten
a) Nach den KMK-Statistiken ist von 2011 bis 2016 nur ein langsamer Ausbau der Inklusion ersichtlich. Ab 2017-18 ist eine Trendwende zu erkennen: Die Inklusion stagniert nicht nur, sie ist in vielen Bundesländern rückläufig mit steigenden Separationsquoten.
Professorin Melzer meint dazu, dass Frau Prien damit die Statistiken bis an die Grenzen der Redlichkeit strapaziere. Die Aussagen müssten “differenzierter” sein.
Keine schlechteren Leistungen durch inklusiven Unterricht nachweisbar
b) Die zweite Andeutung/Aussage ist wissenschaftlich nicht haltbar. Frau Melzer verweist auf eine Reihe von nationalen und internationalen Untersuchungen, die zeigen, dass gute Schüler:innen keine schlechteren Leistungen zeigen, wenn sie mit förderbedürftigen Schüler:innen zusammen unterrichtet werden – “und das nicht nur in Schulversuchen, sondern vor allem in Studien aus dem echten Schulalltag.” In einigen Studien würde auch ein positiver Einfluss aus einem inklusiven Setting nachgewiesen werden.
Als Fazit sagt sie:
Wir betrachten es als hochproblematisch, dass von politischer Seite in dieser Richtung interpretiert wurde und wird. Entgegen verfügbaren Wissens wird Eltern, die sich Sorgen um die Bildungs- und damit auch Zukunftschancen ihrer Kinder machen, suggeriert, die Inklusion von Kindern mit sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf, bzw. Behinderungen, schade dem Kompetenzerwerb ihrer Kinder. Und das ist nicht so. Es birgt die Gefahr sozialer Spaltung, der weiteren Ausgrenzung besonders vulnerabler Gruppen und der Infragestellung des zentralen Menschenrechts auf Inklusion. Prof. Conny Melzer