Dass die Montessoripädagogik in der Lage ist, gleichzeitig Leistung und Chancengleichheit zu erhöhen, das ergab eine wissenschaftliche Untersuchung vor etwa zwei Jahren. Eine aktuelle Studie erlaubt uns weitere interessante Einsichten.
Denervaud, S., Knebel, J.-F., Hagmann, P. & Gentaz, E. (2019). Beyond executive functions, creativity skills benefit academic outcomes: Insights from Montessori education. PloS one 14 (11), e0225319. doi:10.1371/journal.pone.0225319
Die Studie geht der Frage nach, woher eigentlich der nachgewiesene Schulerfolg der Montessorikinder kommt: aus einem allgemeinen Wohlbefinden (häufig als “Kuschelpädagogik” verschrieen), aus der erhöhten Förderung von Kreativität und Selbstständigkeit oder aus einer möglicherweise besseren Herausbildung der so genannten “exekutiven Funktionen” in der Arbeitsweise des Gehirns?

Hier zunächst die Zusammenfassung der wichtigsten Ergebnisse in meiner Übertragung:
Abstrakt
Studien haben gezeigt, dass die Montessori-Pädagogik schulische, kreative und soziale Vorteile mit sich bringt, weil die so genannten “exekutiven Funktionen” bei den auf diese Weise gebildeten Menschen besser ausgeprägt seien. Da die früheren Studien aber keine konsistenten Ergebnisse geliefert haben, um diese Begründung zu untermauern, haben wir daher die schulische Entwicklung in einer Querschnittsstudie mit Kindergarten- und Grundschulkindern evaluiert, wobei der Schwerpunkt auf den drei zentralen exekutiven Funktionen kognitive Flexibilität, Aktualisierung des Arbeitsgedächtnisses und selektive Aufmerksamkeit (Inhibition) lag.
Der Lernerfolg von 201 Kinder wurde vollständig evaluiert. Die Hälfte der Teilnehmer kam aus dem Montessori-Szenario, die andere Hälfte aus traditionellen Schulen; sie bildete die Kontrollgruppe.
Die Ergebnisse bestätigten, dass die Montessori-Kinder Gleichaltrige aus traditionellen Schulen übertrafen, und zwar sowohl bei den Lernergebnissen als auch bei den kreativen Fähigkeiten und beim subjektiven Wohlbefinden.
In den exekutiven Funktionen wurden keine Unterschiede festgestellt, außer im Arbeitsgedächtnis. Darüber hinaus zeigte sich ein signifikanter Einfluss kreativer Fähigkeiten auf die Leistungen. Diese Ergebnisse werfen ein Licht auf den möglicherweise überschätzten Beitrag von Exekutivfunktionen als Hauptfaktor für den schulischen Erfolg der Montessorischüler und erfordern weitere Untersuchungen.
Wir schlagen eine Sichtweise vor, nach der Montessori-Schüler stattdessen von einer ausgewogeneren Entwicklung profitieren, die sich aus den Möglichkeiten einer selbstgesteuerten Kreativität ergibt. (Denervaud et al. 2019, S. 1)
Einwand
Nun muss man sich bei Bildungsvergleichen immer fragen, ob die Vergleichsgrundlagen auch wirklich stimmen. In diesem Fall hier: Kommen die Montessorikinder nicht aus einem anderen sozio-ökonomischen Hintergrund, so dass sie von vorneherein bessere Chancen haben und mehr Wissen oder Kultur mitbringen?
Und was ist mit den Lehrkräften: Ist es nicht so, dass die LehrerInnen an Montessorischulen gezielter ausgebildet sind und vielleicht auch mehr Engagement mitbringen, so dass die Kinder insgesamt mehr profitieren?
Die Verfasser der Studie versichern uns, dass sie solche Effekte im Blick hatten und für die Vergleichsgruppe sowohl Kinder aus Familien mit dem gleichen sozio-ökonomischen Status und Lehrer mit zumindest quantitativ gleicher Berufserfahrung ausgewählt haben.
Die Verfasser der Studie sind aber trotzdem vorsichtig:
We chose public schools in areas of similar wealth to that of Montessori school candidates and controlled for their SES. This may constitute, despite all precautions, a selection bias. (Denervaud et al. 2019, S. 6)
Ergebnisse
Es wurden drei Möglichkeiten verglichen, warum die Montessorikinder besser als ihre Altersgenossen an Regelschulen waren: die kreativen Fähigkeiten, der Wohlfühleffekt und die exekutiven Funktionen. Einzig bei dem ersten Punkt wurde die Signifikanzschwelle erreicht.
Multiple mediation model for the indirect effect of children’s school system (Montessori vs. traditional) via multiple mediators (executive functions, well-being at school, and creativity skills) on academic outcomes.
The only significant (z > 2) indirect mediation effect on academic outcomes was creativity skills in Montessori schoolchildren (green path). The standardized solution coefficients (ß) and significant p-values < 0.05 (depicted with a star) are reported next to related path. (Denervaud et al. 2019, S. 5)
Eine interessante grafische Veranschaulichung bietet das folgende Diagramm, bei dem die beiden Schülergruppen auf vier Dimensionen aufgespannt werden. Man erkennt die gleichen Werte bei den exekutiven Funktionen und beim Wohlfühleffekt, aber größere Unterschiede bei den creativity skills und bei den gezeigten Leistungen. Von daher erscheint es berechtigt, die unterschiedlichen Leistungen auch mit den kreativen Fähigkeiten zu begründen.
Fig 2. Radial qualitative representation of the four different cognitive measures: executive functions, creativity skills, well-being at school, and academic outcomes, each located at a summit.
The scales depend on the measured cognitive skill; however, all run from the minimum at the center to the maximum at the border of the square. Individual results are represented with a thin line (Montessori schoolchildren on top left 2B, and control on the top right 2C), and mean for each group is reported with a bold line in the central square 2A, where the dotted red line marks the 0 of each cognitive measure’s z-score scale. Montessori (M) depicted in green, traditional (T) in blue. Group differences (M vs. T) are observed for creativity skills and academic outcomes. (Denervaud et al. 2019, S. 5)
Diskussion
Was Kreativität zum Lernerfolg beitragen kann
Unsere Daten zeigen, dass über die exekutiven Funktionen hinaus kreative Kompetenzen spezifische Auswirkungen auf den Lernerfolg von Montessori-Schülern haben, was auf eine gute Umsetzung von selbst generierten Ideen hindeutet. Dieser Aspekt der exekutiven Funktionen wird bislang im Rahmen der Lernergebnisse während der Schulzeit zu wenig untersucht.
Our data shows that beyond EFs, creative competencies specifically modulate academic success in Montessori schoolchildren, suggesting good execution of self-generated ideas. This aspect of EFs is currently understudied in the framework of academic outcomes in school years. (Denervaud et al. 2019, S. 6)
Wo sollen die Schwerpunkte liegen?
Schließlich wurde den Schülern, die eine Montessori-Schule besuchten, eine ausgewogenere allgemeine Entwicklung attestiert. Dies kann eine Schlüsselrolle bei der Förderung der akademischen Leistung spielen. Dieses Ergebnis wirft die Frage auf, ob es sinnvoll ist, einen einzelnen Aspekt der schulischen Entwicklung, wie beispielsweise die exekutiven Funktionen, hervorzuheben. […]
Die Konzentration auf kognitive Leistung kann auf Kosten des qualitativen und nachhaltigen Lernens gehen. Dementsprechend kann es kontraproduktiv sein, von Schülern ein hohes Maß an selektiver Aufmerksamkeit zu erwarten oder zu viel Gewicht auf andere exekutive Kernfunktionen zu legen und gerade dadurch die angeborene Lernfähigkeit und kreative Umsetzungsfähigkeit des Einzelnen zu beeinträchtigen.
Finally, pupils attending a Montessori school were shown to have a more balanced global development. This may play a key role in promoting academic performance. This finding raises the question of the limit of emphasizing a unique aspect of scholastic development, such as EFs. […] Seeking for cognitive performance may be at the cost of qualitative and long-term learning[38]. Accordingly, expecting schoolchildren to maintain a high level of selective attention, or placing too much emphasis on other core EFs, may well be counterproductive and impair the individual’s innate capacity for learning and creative execution abilities. (Denervaud et al. 2019, S. 6)
Was genau macht die Kreativität aus?
Wir vermuten, dass es aus einer Kombination von mehreren Merkmalen resultiert – wie z.B. mehr naturbezogenen Aktivitäten, die vom Ansatz her interdisziplinär sind; der Interaktion mit Kollegen aus verschiedenen Altersgruppen; der Wahl zwischen verschiedenen Aktivitäten; der eigenständigen Leitung von Projekten oder der Suche nach Antworten und Lösungen für sich allein.
We suspect that it results from a combination of features more than one; such as using more naturalistic activities that are inherently inter-disciplinary, interacting with peers from different ages, making a choice amongst different activities, taking the lead over projects, or seeking for answers and solutions on their own. (Denervaud et al. 2019, S. 6)

Zusammenfassung im englischen Original
Abstract
Studies have shown scholastic, creative, and social benefits of Montessori education, benefits that were hypothesized to result from better executive functioning on the part of those so educated. As these previous studies have not reported consistent outcomes supporting this idea, we therefore evaluated scholastic development in a cross-sectional study of kindergarten and elementary school-age students, with an emphasis on the three core executive measures of cognitive flexibility, working memory update, and selective attention (inhibition). Two hundred and one (201) children underwent a complete assessment: half of the participants were from Montessori settings, while the other half were controls from traditional schools. The results confirmed that Montessori participants outperformed peers from traditional schools both in academic outcomes and in creativity skills across age groups and in self-reported well-being at school at kindergarten age. No differences were found in global executive functions, except working memory. Moreover, a multiple mediations model revealed a significant impact of creative skills on academic outcomes influenced by the school experience. These results shed light on the possibly overestimated contribution of executive functions as the main contributor to scholastic success of Montessori students and call for further investigation. Here, we propose that Montessori schoolage children benefit instead from a more balanced development stemming from self-directed creative execution. (Denervaud et al. 2019, S. 1)
Literatur
Denervaud, S., Knebel, J.-F., Hagmann, P. & Gentaz, E. (2019). Beyond executive functions, creativity skills benefit academic outcomes: Insights from Montessori education. PloS one 14 (11), e0225319. doi:10.1371/journal.pone.0225319
Lillard, A. S., Heise, M. J., Richey, E. M., Tong, X., Hart, A. & Bray, P. M. (2017). Montessori Preschool Elevates and Equalizes Child Outcomes: A Longitudinal Study. Frontiers in Psychology 8, 1783. doi:10.3389/fpsyg.2017.01783