Sichtweisen #65: Das einfache Weltbild eines Kultusministers

Diese kurze Rede hat Kultusminister Piazolo gestern im Landtagsplenum gehalten. Ich erlaube mir, sie an bestimmten Stellen zu unterbrechen und zu kommentieren.

Plenarprotokoll vom 06.02.2020

Sehr geehrter Herr Präsident, sehr verehrte Damen und Herren! Ein paar Bemerkungen zu unserem Gesetzentwurf: Wie kann man ein Schulsystem organisieren? Man kann die Idee haben, das Lernen möglichst lange oder die ganze Zeit über gemeinsam zu organisieren; Stichwort Gesamtschulen, Gemeinschaftsschulen. Andere wiederum setzen sehr stark auf Gleichheit, und man kann – wie wir es hier in Bayern tun – stärker auf Differenzierung und Individualisierung setzen. Damit setzt man stärker auf die Freiheit. …

Was sind das bitte für Gegensätze: Längeres gemeinsames Lernen gegen Differenzierung und Individualisierung? Und Gleichheit gegen Freiheit? An diesen Aussagen ist alles falsch:

  1. Auch – oder sollte ich sagen: gerade – im längeren gemeinsamen Lernen wird auf Differenzierung und Individualisierung gesetzt, weil man nicht von dem fraglichen Ideal der in drei Schularten sortierten homogenen Schülergruppen ausgeht.
  2. Eine Gliederung in drei Schularten sagt noch lange, lange, lange nicht, dass den Schüler/innen differenzierter oder individualisierter Unterricht geboten wird. Die Erfahrung zeigt häufig genau das Gegenteil.
  3. „Gleichheit“ sagt der Kultusminister und umschreibt damit höflich, was er eigentlich meint: Gleichmacherei. Dahinter steckt der alte und noch nie zutreffende Vorwurf, Gemeinschafts- oder Gesamtschulen würden alle Schüler gleich behandeln.
  4. Was hat Freiheit mit dem bayerischen Schulsystem zu tun? Es gibt die notengesteuerte Zwangssortierung in der 4. Klasse. Es gibt das unfreiwillige Sitzenbleiben oder Abgeschultwerden in späteren Klassen. Es gibt für die Lehrer den Druck, die Lehrplanvorgaben zu erfüllen, also Unterricht abzuliefern, koste es, was es wolle; also auch, wenn dabei Schüler/innen auf der Strecke bleiben.

Von einem Professor hätte ich mir eine – Achtung! – differenziertere Argumentation erwartet.

… Wenn man sich die Bildungsforschung anschaut, wird deutlich, dass der letztere Weg den größeren Erfolg hat. Das ist inzwischen wissenschaftlich erwiesen. Ich verweise nur auf die IQB-Studie….

Ich verweise auch auf die IQB-Bildungsvergleiche:

Nbg_AfB19_stick

Diese Übersicht zeigt, dass bayerische SchülerInnen regelmäßig Spitzenergebnisse erzielen. Aber das gilt auch für die SchülerInnen aus Sachsen und Thüringen. Und diese Bundesländer haben – wie die Bildunterschrift besagt – mehr SchülerInnen in Schulen mit mehreren Bildungsgängen als in Gymnasien. Der Hinweis auf die Vergleichsstudien taugt also nicht zur Abwehr des gemeinsamen Lernens. Außerdem zeigt das Oval, dass auch bayerische GrundschülerInnen Spitzenleistungen zeigen. Und die Grundschule ist nun mal auch in Bayern eine Gesamtschule reinster Prägung!

Hier zur Ergänzung noch eine Übersicht über die Verteilung von SchülerInnen in Schulen mit mehreren Bildungsgängen und in den Gymnasien der Bundesländer.

Folie40

Von einem Kultusminister hätte ich mir mehr Fachwissen erwartet. Aber nach meiner noch nicht lange zurückliegenden Begegnung mit zwei Ministerialbeamten fürchte ich, dass der KM auch nur mit Halbwahrheiten gespickt wird.

… Aber ich verweise gerade in der heutigen Zeit auch darauf, dass die Schüler immer heterogener werden, also nicht immer gleicher. Es ist also wichtig, darauf entsprechend zu reagieren. Das tun wir. Wir tun es genau mit diesem Gesetzentwurf. Von entscheidender Bedeutung ist es für uns, die Chancengerechtigkeit sicherzustellen …

Chancengerechtigkeit wird durch die in Bayern praktizierte Trennung gerade verhindert. Dazu verweise ich auf Nikolaus Frank als einen unter vielen (hier gibt es mehr dazu):

Folie12

… und jedem Schüler, jeder Schülerin die Möglichkeit zu geben, eine Bildung zu erlangen, die für ihn oder sie die bestmögliche ist. Aus diesem Grunde haben wir in Bayern eine sehr große Auswahl an unterschiedlichen Schularten und unter den Schularten ganz verschiedene Bildungswege. Unser Ziel ist es, die Übergänge möglichst gleichartig zu gestalten…

In der Videotranskription heißt es „leicht zu gestalten“ und darauf beziehe ich mich hier:

Da erlebe ich als Rektor einer Grund- und Mittelschule anders: Besonders der Übergang von der Grund- auf eine weiterführende Schule ist alles andere als „leicht“. Hier habe ich ein paar persönliche Erfahrungen beschrieben, die ich für verallgemeinerbar halte; jedenfalls sagen mir meine KollegInnen in der Schulleitung nichts anderes.

…  aber auch individuell den Einzelnen zu fördern.
Alle diese Ziele sind in unserem Schulsystem festgelegt, und wir wollen sie tagtäglich entsprechend verbessern.
Die konkreten Maßnahmen gehen genau in diese Richtung. Wir wollen die Mittelschulen stärken, das ist uns ein Anliegen seit vielen Jahren. Das haben wir jetzt im Gesetz entsprechend niedergelegt: M5/M6-Kurse. Das wollen wir ganz bewusst freiwillig festmachen; keine Schule muss es tun, aber sie kann es, wenn sie will.

Wir haben aus den Modellversuchen auch die Erfahrung gesammelt, dass das sehr positiv aufgenommen wird als Vorbereitung zu den M-Kursen. Ich denke da insbesondere an die Förderung in Deutsch, Mathematik und Englisch. Die Rückmeldungen durch viele Schulleiter sind sehr positiv, insbesondere wenn es darum geht, den mittleren Schulabschluss anzustreben. Das bedeutet mehr Freiheit für die einzelnen Mittelschulen, wie sie das Ganze ausgestalten wollen, aber es bedeutet auch mehr Chancen für die Schülerinnen und Schüler auf eine individuelle Förderung….

Erst mal zur Verdeutlichung: In größeren Mittelschulen gibt es ab Jahrgangsstufe 7 so genannte „M-Kurse“, in denen die besseren Schüler/innen zusammen lernen, die später vielleicht einen Mittleren Schulabschluss schaffen. Das sind interessante Klassen für die Lehrkräfte, die da unterrichten. Sie haben nur leider den Nachteil, dass die Schüler/innen in den Regelklassen leistungsmäßig noch ausgedünnter sind als ohnehin schon. Deren Lehrer/innen sollte man mal befragen! Über diese Klassen schreibt Hattie:

„The major finding was that many low-track classes are deadening, non-educational environments“ (2009, S. 90).

Wir Lehrer nennen diese Klassen „ausgeblutet“, und bestätigen damit das, was auch die PISA-Studie für Deutschland mehr als einmal festgestellt hat: dass wir „am unteren Ende“ viel zu viele Schüler/innen haben, die nicht einmal die Mindeststandards erreichen. Die noch weiter zugespitzte Differenzierung ist also genau der falsche Weg, wenn man eine Leistungserhöhung des Gesamtsystems will. Nicht überzeugt? Dann also noch ein Zitat:

Folie34

Weiter der Kultusminister:

… Eine ähnliche Richtung schlagen wir bei der Stärkung der beruflichen Bildung bei den Wirtschaftsschulen ein. Auch dort eröffnen wir die Möglichkeit mit dem Angebot, die Wirtschaftsschule schon in der 6. Jahrgangsstufe zu beginnen. Wir folgen da dem Weg, den die Gerichte vorgegeben haben. Manche Schulen haben ja geklagt und recht bekommen. Insofern ist es auch eine Chancengerechtigkeit für die staatlichen Wirtschaftsschulen und nicht nur für die privaten. Auch die staatlichen Schulen haben in Zukunft diese Möglichkeit. Auch wenn das nicht alle Schulen wahrnehmen, ist das in Ordnung, denn wir setzen ja auf Freiwilligkeit und Chancengerechtigkeit…

Kommentar: Für die Wirtschaftsschulen kann es ein Vorteil sein, schon ab Jahrgangsstufe 6 zu beginnen, nicht erst ab 7. Für die Mittelschulen ist es fatal, denn sie verlieren dann unter Umständen nach der 5. Klasse wieder ein paar leistungsfähige SchülerInnen an diese Schulform, was dazu führt, dass – siehe Ausbluten!

… Kurz erwähnen möchte ich noch, was ebenfalls im Gesetz erwähnt ist, nämlich die Erleichterung der Verwaltungsarbeit. Bei den staatlichen Schulen konnten wir
schon das eine oder andere voranbringen. Das ist von vielen gefordert worden,
und das macht es insbesondere den Lehrern und Lehrerinnen leichter zu handeln.
Es gibt ihnen damit die Möglichkeit, sich noch stärker auf die pädagogische Arbeit
zu konzentrieren, wenn die Verwaltungsarbeit wegfällt. Es ist ja heute unser Ziel,
insgesamt in diese Richtung Entlastung zu schaffen…

Hier kann der Schulleiter nur milde lächeln: Verwaltungsarbeit wurde erleichtert? Wir können uns mehr auf die pädagogische Arbeit konzentrieren? Ich bin jetzt seit ziemlich genau 20 Jahren Schulleiter. Die Verwaltungsarbeiten wurden aufgrund gut gemeinter Initiativen immer umfangreicher: Externe Evaluation, Orientierungs- und Vergleichsarbeiten (VERA), probearbeitsfreie Zeiten, Kooperation Eltern-Schule (KESCH), Aufteilung von Volksschulen in Grund- und Mittelschulen (ein Haus, zwei Verwaltungseinheiten!), Inklusion, Drogenprävention, Digitalisierung – diese Aufzählung ist unvollständig.

… Was mich sehr positiv gestimmt hat, ist die Reihe der Verbandsanhörungen; die
Rückmeldungen waren durchaus positiv. Dieser Weg wird unterstützt. Insofern
kann ich mir vorstellen, dass nicht nur die Regierungsfraktionen, die das bereits
angedeutet haben, den Weg mitgehen und den Gesetzentwurf unterstützen. Ich
denke, dass auch aus den Reihen der Opposition – so wie ich es mitbekommen
habe – zumindest das eine oder andere positiv aufgenommen wird. Darum würde
ich bitten. Ich freue mich auf die Diskussion im Bildungsausschuss, wo wir uns
über diese Themen austauschen werden. Sie, meine Damen und Herren, bitte ich
um die Zustimmung zum Gesetzentwurf.

vorläufiges Protokoll 18/39 vom 06.02.2020

Der Gesetzentwurf betrifft die Einführung von M5- und M6-Kursen an der Mittelschule und die Ermöglichung von Wirtschaftsschulen ab Klasse 6; Vorhaben, die von den Grünen, der CSU, den Freien Wählern befürwortet und von Margit Wild (SPD) und Matthias Fischbach (FDP) kritisiert werden.

Von mir auch.

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