Sichtweisen #71: Systemstreit nach 1945

Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges haben die Siegermächte Weichen für ein gemeinsames Schulsystem gestellt, das die Kinder nicht schon im Alter von 10 Jahren in ungleichwertige Schubladen sortiert. Benjamin Edelstein, der in diesem Blog bereits mit einer Betrachtung über die Schwierigkeiten bei Reformbemühungen zu Wort kam, zeichnet die Dynamik der ersten Jahre nach. Der Artikel erschien in der Zeit und kann dort nachgelesen werden (falls nicht, ganz unten eine PDF-Datei). Ein paar Zitate sollen zeigen, woher und wohin der Wind wehte und zum Lesen des Originals anregen.

Wohin mit den Schulen nach 1945? (c) Pixabay

Auch die Amerikaner sahen in den tradierten Strukturen des deutschen Schulwesens ein ernst zu nehmendes Hindernis für die Demokratisierung des Landes. Dabei gingen sie so weit, dem deutschen Schulsystem eine Mitverantwortung für das Aufkommen des Nationalsozialismus zuzuschreiben.

“Dieses System hat bei einer kleinen Gruppe eine überlegene Haltung und bei der Mehrzahl der Deutschen ein Minderwertigkeitsgefühl entwickelt, das jene Unterwürfigkeit und jenen Mangel an Selbstbestimmung möglich machte, auf denen das autoritäre Führerprinzip gedieh.”

“Schon im Alter von 10 Jahren oder früher” sehe sich “ein Kind gruppiert oder klassifiziert durch Faktoren, auf die es keinen Einfluss hat, wobei diese Einstufung fast unvermeidlich seine Stellung für das ganze Leben” bestimme.

Es sei augenscheinlich, so die Kommission, dass “das Erziehungssystem eines Landes die Grundlagen des ‘Klassengeistes’ verstärken, oder auch eine kulturelle Gemeinschaft aller Bürger aufbauen kann”. Für eine demokratische Gesellschaft komme nur die zweite Möglichkeit infrage. Entsprechend wurde nachdrücklich eine Integration des Schulwesens empfohlen: Elementare und höhere Bildung sollten “nicht als zwei verschiedene Arten oder Qualitäten des Unterrichts” verstanden werden, sondern “als zwei aufeinander folgende Schulabschnitte, wobei die Elementarschule die Klassen eins bis sechs, die höhere Schule die Klasse sieben bis zwölf” umfassen sollte.

Nach und nach formierte sich eine breite gesellschaftliche Gegenbewegung, die lautstark für den Erhalt des historisch gewachsenen Schulwesens und vor allem des traditionsreichen Gymnasiums eintrat, in dem man einen unverzichtbaren Grundpfeiler der deutschen Bildungstradition sah. Teil dieses “konservativen Blocks” waren die konservativen Parteien, die katholische und in Teilen die evangelische Kirche, Direktorenvereinigungen sowie Eltern- und Lehrerverbände der weiterführenden Schulen, weiterhin die meisten Universitäten und diverse Akademikervereinigungen und schließlich weite Teile der deutschen Wirtschaft, vertreten etwa durch Industrie-, Handels-, und Handwerkskammern und andere Unternehmerverbände – kurzum: ein Großteil der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Elite des Landes.

Gebe man die bewährte Aufteilung der Schülerschaft auf, werde dies einen allgemeinen Leistungsverfall zur Folge haben, denn ein gemeinsamer Unterricht müsse unweigerlich die Leistungsstarken unter- und die Leistungsschwachen überfordern. Größere Teilhabechancen an der höheren Bildung, so ein weiterer verbreiteter Einwand, könnten nur zum Preis einer Absenkung der Leistungsanforderungen der Schule verwirklicht werden.

Angesehene Wissenschaftler wie der Sozialanthropologe Karl Valentin Müller, der in der Nachkriegszeit von zahlreichen Kultusministerien Forschungsaufträge erhielt, verteidigten die bestehende Schulorganisation unter Verweis auf eine biologisch gegebene Begabungsverteilung in der Bevölkerung. In seinen methodisch fragwürdigen Untersuchungen machte Müller ein Begabungsgefälle zwischen den Schülern der verschiedenen Sozialschichten aus und sah darin eine “allgemeine Gesetzmäßigkeit” und einen Beweis dafür, dass der sozialen Schichtung letztlich eine “biologische Begabungspyramide” zugrunde liege.

Zwei Gehirnhälften
Begabung korreliert mit Sozialschicht? (c) Pixabay

In der schulpolitischen interessierten Öffentlichkeit hatten solche Thesen große Resonanz. So gab etwa der Bayerische Kultusminister Alois Hundthammer, einer der schärfsten Kritiker der Reformpläne der Alliierten, eine durchaus verbreitete Auffassung wieder, als er 1947 in einer ablehnenden Stellungnahme an die Militärregierung darauf verwies, dass “die Begabung für höhere Bildungsziele nun einmal nur einem begrenzten Personenkreis vorbehalten” sei und bei der Forderung nach gleichen Bildungschancen nicht übersehen werden dürfe, dass diese Begabung in den einzelnen Schichten nicht gleichmäßig verteilt sei. Diese “biologische Ungleichheit”, so Hundthammer, könne “durch keine zivilisatorische Maßnahmen beseitigt werden”, auch nicht durch die Einführung eines Einheitsschulsystems.  

Im nun heraufziehenden Kalten Krieg wurde die Schulstrukturfrage unter Verweis auf die “sozialistische” Einheitsschule zur Systemfrage zwischen Freiheit und Sozialismus hochstilisiert. 


Von Benjamin Edelstein:

Argumente #23: Warum die Reformer auf Granit beißen

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