Auch wenn es noch so viele gute und wissenschaftlich unterfütterte Argumente dafür gibt, am selektierenden Schulsystem (nicht nur in Bayern) zu zweifeln und zu verzweifeln, hält es sich hartnäckig. Es gibt keine wissenschaftlich belegten Gründe dafür, die Kinder – alle Kinder! – im Alter von 10 Jahren auf die verschiedenen Schularten zu verteilen; aber dennoch halten gerade die entscheidenden Leute an dieser unsäglichen Praxis fest. Warum nur?
Eine gute Antwort bietet Benjamin Edelstein vom Wissenschaftszentrum Berlin. Seine Gedanken haben einen etwas sperrigen Titel, deshalb habe ich meinen Blogeintrag anders überschrieben; sie sind aber glasklar organisiert und formuliert.
Edelstein, B. (2016). Stabilität und Wandel der Schulstruktur aus neoinstitutionalistischer Perspektive. Überlegungen zur Schulpolitik unter Bedingungen der Pfadabhängigkeit. In N. Berkemeyer, B. Hermstein & V. Manitius (Hrsg.), Institutioneller Wandel im Bildungsbereich – Reform ohne Kritik? (S. 47–70). Weinheim und Basel: Beltz.
Erstaunen: Die Deutsche Schulstruktur ist seit dem Kaiserreich im Prinzip gleich geblieben
Betrachtet man die Strukturentwicklung in Deutschland, so scheint sich vielmehr ein Muster zu zeigen, […]: Trotz aller historischen Turbulenzen und tiefgreifender Veränderungen in den politischen, sozialen und ökonomischen Rahmenbedingungen des Schulsystems ist dessen institutionelle Form über lange Zeit „in der Tradition der seit dem Kaiserreich und der Weimarer Republik bestehenden Strukturen“ (Drewek, 1994, S. 236) prinzipiell erhalten geblieben. (Edelstein 2016, S. 52)
Wichtige Weichenstellung nach dem 2. Weltkrieg haben die Struktur verfestigt
Das Düsseldorfer Abkommen von 1955, in dem schließlich die dreigliedrige Schulstruktur gegen die ursprünglichen Vorstellungen der Besatzungsmächte als bundesländerübergreifender Standard der Schulorganisation festgeschrieben wurde, markiert das Ende dieser kritischen Weggabelung. Denn die damit getroffenen institutionellen Grundsatzentscheidungen schränkten den Spielraum für schulstrukturelle Innovationen in den einzelnen Bundesländern empfindlich ein. Damit definierte das Düsseldorfer Abkommen faktisch die Parameter, innerhalb derer reformorientierte Akteure künftig politische Strategien formulieren konnten und bestimmte so über lange Zeit die möglichen (und nicht möglichen) Formen und Gegenstände schulstrukturpolitischer Auseinandersetzungen. (Edelstein 2016, S. 53)
Kontraintuitve Feststellung: Institutionelle Stabilität ist ein dynamischer Prozess
Institutionen sind nicht aus sich heraus und gleichsam automatisch stabil, wenn sie einmal geschaffen worden sind. Institutionelle Stabilität ist – anders als der Begriff suggeriert – kein statischer Zustand, sondern ein dynamischer Prozess, der vom Wirken spezifischer Mechanismen abhängt. Ein institutionelles Arrangement ist nur solange stabil, wie dessen „kontinuitätssichernde Mechanismen“ (Beyer, 2005) oder „Reproduktionsmechanismen“ (Pierson, 2004; Thelen, 1999) ungestört wirken. (Edelstein 2016, S. 56)
Vier Reproduktionsmechanismen der Schulstruktur
Ich gebe das erst mal mit meinen Worten in einer Mindmap wieder, danach kommt dann Edelstein zu Wort.
Folgende Mechanismen erhalten die vielgliedrige Schulstruktur und machen es schwer, den einmal betretenen Pfad zu verlassen:
So beschreibt das Benjamin Edelstein:
In der neoinstitutionalistischen Literatur werden mittlerweile zahlreiche Mechanismen identifiziert, die pfadabhängige Entwicklungen hervorrufen können (siehe z. B. Beyer, 2010, S. 10). Mit Blick auf die institutionelle Ausgestaltung der Schulstruktur scheinen indes vier Mechanismen besonders relevant. Diese lassen sich nach Mahoney (2000) als machtbasierte, legitimationsbasierte, funktionalistische und utilitaristische Reproduktionsmechanismen bezeichnen. In der empirischen Realität sind diese Mechanismen zwar in mancher Hinsicht nicht klar voneinander abzugrenzen, da sie sich gegenseitig beeinflussen und gewisse „Schnittmengen“ aufweisen. Gleichwohl erfasst jeder dieser Mechanismen eine spezifische Dimension der schulpolitischen Wirklichkeit, sodass es aus Gründen der analytischen Klarheit sinnvoll ist, sie zu unterscheiden und sich ihre jeweilige Wirkungsweise vor Augen zu führen. (Edelstein 2016, S. 57)
1. Die Macht gesellschaftlicher Interessen und politischer Kräfteverhältnisse
Machtbasierte Reproduktion: die Schulstruktur als Gegenstand von Interessenpolitik
Die macht-distributionale Perspektive des Historischen Institutionalismus betrachtet Institutionen als Ausdruck und Gegenstand von Interessenpolitik (Thelen, 1999). Die pfadabhängige Persistenz einer Institution folgt hier aus dem Umstand, dass mit ihrer Etablierung bestimmte politische Kräfteverhältnisse zementiert und bestimmte gesellschaftliche Interessen dauerhaft privilegiert werden. Institutionen schaffen Muster der Ressourcenverteilung, welche den politischen Einfluss, die Expansion oder auch die Herausbildung bestimmter sozialer Gruppen befördern – bzw. behindern – und verteilen Rollen und Privilegien, welche die Begünstigten dazu veranlassen, sich für ihre Aufrechterhaltung und Ausweitung einzusetzen (Pierson, 1993). (Edelstein 2016, S. 57)
Für unsere Schulstruktur hat die machtbasierte Reproduktion eine erhebliche Relevanz
Es ist evident, dass diese macht-distributionale Sichtweise mit Blick auf die deutsche Schulstruktur von erheblicher Relevanz ist: Um die Schulformen des Sekundarschulsystems haben sich tatsächlich einflussreiche Interessengruppen herausgebildet, die zwar je spezifische Interessen am Erhalt des gegliederten Schulsystem haben, die aber in ihrer gemeinsamen Zielorientierung eine mächtige Koalitionsbasis für dieses institutionelle Arrangements bilden. Dazu gehören die schulformenspezifischen Lehrerverbände, welche die bildungs- und berufspolitischen Interessen ihrer Klientel vertreten. Ferner sind Wirtschaftsverbände und Betriebe aus Industrie, Handel und Handwerk zu nennen, die in der Berufsausbildung engagiert sind und ihre Lehrlinge traditionell primär aus den Haupt- und Realschulen rekrutieren. Und schließlich gehört dazu das Bildungsbürgertum, das als gymnasiale Klientel von den status-(re-)produzierenden Wirkungen der Schulstruktur am stärksten profitiert. Infolge der Bildungsexpansion ist das ursprünglich einer kleinen Elite vorbehaltene Gymnasium heute tief in der Mitte der Gesellschaft verankert. Als quantitativ bedeutsamer und politisch hochgradig mobilisierbarer Teil der Wählerschaft verfügt die gymnasiale Klientel über erhebliches politisches Einflusspotential, wie jüngst z. B. das Scheitern der Hamburger Primarschulreform verdeutlicht hat. (Edelstein 2016, S. 58, Hervorhebungen von mir)
2. Vorherrschende Bildungsvorstellungen
Legitimationsbasierte Reproduktion: die Schulstruktur als Ausdruck vorherrschender Bildungsvorstellungen
[…]
Hier sind es also die sozialen Bindungskräften von Institutionen, die Stabilität erzeugen. Durch in ihnen angelegte soziale Erwartungen, Verhaltensregeln und Handlungslogiken liefern Institutionen mentale Modelle und kognitive Skripte, die das Handeln von Akteuren in organisationalen Feldern anleiten und diesem Legitimation verleihen (March & Olsen, 1984; Scott, 1994). Nach und nach können sich diese zu umfassenden Realitätsdeutungen verdichten, die internalisiert und objektiviert werden; als kulturelle Leitvorstellungen werden sie dann von weiten Teilen der Gesellschaft als angemessen, notwendig oder moralisch gerechtfertigt angesehen und nicht mehr hinterfragt (Berger & Luckmann, 2012; March & Olsen, 1984). (Edelstein 2016, S. 59)Die Wirkung tief verwurzelter Annahmen und Ideologien
Auch diese Perspektive ist in unserem Zusammenhang offensichtlich von Bedeutung, sind doch in die Organisationsweise des gegliederten Schulsystems bildungsideologische Überzeugungen und begabungstheoretische Annahmen eingeschrieben, die kulturell tief verwurzelt sind. Ein ideeller Grundpfeiler ist dabei das Vorherrschen eines statischen Begabungskonzepts, demzufolge intellektuelle Fähigkeiten im Wesentlichen durch genetische Veranlagungen bestimmt sind, sodass sich bereits im Kindesalter ein Urteil darüber treffen lässt, welcher Bildungsweg „der richtige“ ist (Baldi, 2012). Eng damit verknüpft ist die in weiten Teilen der Gesellschaft, der pädagogischen Professionen sowie der schulpolitischen Akteure verbreitete Überzeugung, dass in leistungshomogenen Gruppen bessere Lernergebnisse erzielt werden als in heterogenen. Wie stark dieses Paradigma in Deutschland verwurzelt und moralisch kodiert ist, zeigt sich nicht zuletzt in der zum Teil bis heute vorzufindenden Wahrnehmung der Organisationsprinzipien gesamtschulartiger Schulsysteme in den Kategorien von „Zwangseinheitsschule“ und „Gleichmacherei“. Dieses Wahrnehmungsschema begleitet die Diskussion um eine Komprehensivierung des Schulwesens seit ihren Anfängen, hat jedoch durch die Entgegensetzung des gegliederten Schulsystems der Bundesrepublik mit der sozialistischen Einheitsschule der DDR eine starke ideologische Festigung erfahren, wurde doch die Frage der Schulstruktur im Kalten Krieg „zur Systemfrage zwischen ‚Freiheit und Sozialismus’“ (Fuchs & Reuter, 2000, S. 44) stilisiert. (Edelstein 2016, S. 59–60, Hervorhebungen von mir)
Die Erosion der legitimationsbasierten Reproduktionsmechanismen der Schulstruktur ist im Gange
Zu einer Erosion der legitimationsbasierten Reproduktionsmechanismen der Schulstruktur würde es folglich kommen, wenn in der Gesellschaft, in der Bildungspolitik und/oder den pädagogischen Professionen bildungs- und begabungstheoretische Vorstellungen an Bedeutung gewinnen, die in Widerspruch zu den etablierten selektiven Strukturen und Praktiken stehen. Ein solcher Prozess ist in der Tat seit geraumer Zeit zu beobachten, wobei der von Meyer und Ramirez (2005) betonten internationalen Diffusion von Ideen und Normen eine bedeutende Rolle zuzukommen scheint. So zeigt sich, dass bildungspolitische Diskurse seit der Jahrtausendwende auch in Deutschland zunehmend in den von internationalen Organisationen wie der UNESCO oder der OECD propagierten Kategorien von „Heterogenität“, „individueller Förderung“ und „sozialer Inklusion“ geführt werden, während vormals dominante Kategorien wie „Homogenität“ und „leistungsbezogenen Selektion“ erkennbar in den Hintergrund gerückt sind. Auch in Deutschland lassen sich somit deutlicher denn je die Konturen eines alternativen Bildungsparadigmas erkennen, das zunehmend zum Referenzsystem für die Bewertung bestehender schulischer Strukturen und Differenzierungspraktiken wird. (Edelstein 2016, S. 60–61, Hervorhebung von mir)
3. Die Institutionen stützen sich gegenseitig
Funktionalistische Reproduktion: die Schulstruktur als Bestandteil einer institutionellen Konfiguration
[…]
In dieser Sichtweise werden Institutionen durch ihre Einbettung in ein institutionelles Gesamtgefüge stabilisiert. Im Zuge der Ko-Evolution von Institutionen bilden sich Wechselwirkungen, funktionale Interdependenzen und Synergieeffekte heraus, die eine Veränderung einzelner Institutionen mit der Zeit zunehmend erschweren. Denn der komparative Vorteil, der mit einer historisch gewachsenen institutionellen Konfiguration verbunden sind, hängt von der Präsenz und dem Zusammenwirken der einzelnen institutionellen Komponenten ab und deren Wirken wiederum von der Präsenz und von der Interaktion mit anderen Institutionen. Unter Bedingungen der Komplementarität stabilisieren sich Institutionen folglich gegenseitig, da das Herauslösen oder Verändern einzelner Institutionen Rückwirkungen auf die Performanz der verbundenen Institutionen oder gar des institutionellen Gesamtgefüges haben kann (Crouch, 2010; Hall & Soskice, 2001). (Edelstein 2016, S. 61, Hervorhebung von mir)
Systemkonfiguration beruflicher und akademischer Zweig
Auch diese Perspektive lässt sich auf unseren Zusammenhang übertragen. Denn als Subsystem des Bildungssystems ist das Schulsystem aufs Engste mit den Institutionen der beruflichen und hochschulischen Bildung verzahnt, für die es eine Qualifikations- und Allokationsfunktion erfüllt: Über die Vergabe von Berechtigungen werden Schülerinnen und Schüler in die berufsqualifizierenden Institutionen der beruflichen und akademischen Bildung kanalisiert, wobei sie zugleich durch den Unterricht nach schulformbezogenen Curricula mit jenen spezifischen Bündeln von Wissen, Fähigkeiten und Fertigkeiten ausgestattet werden (sollen), auf denen die jeweils nachfolgend besuchte Bildungsinstitution aufbaut. So bilden Haupt- und Realschulen und das (Duale) System der Berufsausbildung traditionell ein eigenes aufeinander bezogenes und abgestimmtes System, ebenso wie Gymnasien und Universitäten ein solches System bilden. (Edelstein 2016, S. 61, Hervorhebung von mir)
Veränderungsprozesse auf diesem Teilgebiet
Im Zuge des Wandels der Wirtschaft zur Dienstleistungs- und Wissensökonomie gewinnen nun in der Erwerbsstruktur Tätigkeiten die Oberhand, die ein hohes Maß an Wissens- und Informationsverarbeitung sowie an Kommunikation aufweisen und verstärkt analytische, sozial-kommunikative und Problemlösefähigkeiten voraussetzen, die typischerweise in den Bildungsinstitutionen der höheren Allgemeinbildung angeeignet werden (Baethge, 2006, S. 16–21). Dies führt einerseits zu steigender Nachfrage nach akademisch Qualifizierten und damit einer stärkeren Frequentierung der Hochschulen und der zu ihrem Besuch berechtigenden gymnasialen Bildungsgänge. Dem entspricht eine fortschreitende quantitative Verschiebung zuungunsten des in Deutschland traditionell dominierenden beruflichen Systems, dessen Rekrutierungsbasis sich aufgrund von Creaming-Effekten zugleich zunehmend auf leistungsschwächere und sozial benachteiligte Schülerinnen und Schüler verengt. Anderseits schlagen sich die erhöhten Qualifikationsanforderungen auf dem Arbeitsmarkt unmittelbar innerhalb des Berufsbildungssystems nieder, weil sie im Allgemeinen die Kompetenzanforderungen für das Absolvieren einer Berufsausbildung ansteigen lassen. In dem Maße aber, wie ein zunehmender Teil der Ausbildungsberufe ein kognitives Upgrading durchläuft, dürften Real- und insbesondere Hauptschulen (zumal bei einer bereits negativ ausgelesenen Schülerschaft) ihre traditionelle Qualifikations- und Allokationsfunktion für das Berufsausbildungssystem immer weniger erfüllen können. Anzeichen einer Entkoppelung der traditionell eng verbundenen Haupt- und Realschulbildungsgänge mit der beruflichen Bildung zeigen sich in der Übergangsproblematik von Real- und insbesondere Hauptschulabsolventen. Bereits heute münden über 40 Prozent der Hauptschulabsolventen und immerhin 16 Prozent der Realschulabsolventen nicht in eine vollqualifizierende Ausbildung ein, sondern zur Nachqualifizierung in das Übergangssystem (Autorengruppe Bildungsberichterstattung, 2014, Abb. E1-6a). Gerade im Dienstleistungsbereich werden Ausbildungsplätze schon heute vielfach mit Abiturienten besetzt, was ebenso eine institutionelle Rekonfiguration anzeigt. (Edelstein 2016, S. 62–63, Hervorhebung von mir)
4. Neue Pfade sind kostspielig
Utilitaristische Reproduktion: die Schulstruktur als Gegenstand von increasing returns
Nicht nur ist die Schaffung von Institutionen häufig mit beträchtlichen Anlaufkosten verbunden. Ihre Etablierung zieht auch in der Regel Lerneffekte, Koordinationseffekte und adaptiven Erwartungen nach sich. Denn durch ihr Design schaffen Institutionen Anreizstrukturen, aufgrund derer sich Individuen und Organisationen auf bestimmte Tätigkeitsfelder spezialisieren und dauerhafte Kooperationsbeziehungen entwickeln. Diese Form der Anpassung an und Investition in gegebene institutionelle Strukturen lässt sich mit dem Begriff asset specificity erfassen: „[A]ctors develop investments, ‚specific assets’ in a particular arrangement – relationships, expectations, privileges, knowledge of procedures, all tied to the institution at work.“ (Gourevitch 2000: 144-45 zit. n. Pierson, 2004, S. 148). Derartige Investitionen machen Veränderungen kostspielig und organisatorisch aufwendig. Unter diesen Bedingungen können rationale Kosten-Nutzen-Kalküle die Aufrechterhaltung selbst einer als suboptimal erkannten Institution befördern, insofern der potenzielle Nutzen einer Transformation durch ihre erwartbaren Kosten aufgewogen wird (Mahoney, 2000, S. 517). (Edelstein 2016, S. 63–64)
Anwendung von Punkt 4 auf die Schulstruktur
Die von Arthur (1994) identifizierten Bedingungen pfadabhängiger Persistenz sind offenbar auch für Bildungsinstitutionen relevant. Für die strukturelle Ausgestaltung des Schulsystems sind sogar mehrere dieser Bedingungen erfüllt. Hohe Startkosten werden durch den Bedarf einer umfangreichen baulichen Infrastruktur bedingt, in der sich alternative schulische Organisationsformen nicht ohne weiteres realisieren lassen. Hinzu kommen die umfangreichen gesetzlichen Grundlagen und Verordnungen, auf deren Basis die Abläufe im Schulsystem organisiert und administriert werden. Lerneffekte manifestieren sich in langfristig eingeübten Verwaltungsroutinen sowie über Jahrzehnte gewachsenen pädagogischen Praktiken (des Unterrichtens in „homogenen“ Lerngruppen). Letztere wiederum sind eng verknüpft mit einem universitären System der Lehrerbildung, das der Struktur des Schulwesens entspricht und Lehrkräfte nach dessen pädagogischen Grundsätzen ausbildet (was Koordinationseffekten gleichkommt). All dies müsste im Zuge einer weitreichenden Strukturreform angepasst oder gar neu entwickelt werden. Die dazu erforderlichen organisatorischen und finanziellen Ressourcen stellen (zumal in Zeiten knapper Länderhaushalte) schon für sich genommen ein beträchtliches Reformhindernis dar. Doch wird der mit diesen Transformationskosten einhergehende Status quo Bias durch die typischerweise kurzen Zeithorizonte periodisch gewählter Entscheidungsträger noch verschärft (Pierson, 2000a, S. 261–262). Denn aus der Gebundenheit an Legislaturperioden ergeben sich gewichtige politisch-strategische Hindernisse für die Durchführung einer umfassenden Strukturreform: die finanziellen und organisatorischen Kosten einer solchen Reform sind beträchtlich und unmittelbar; ihr Nutzen (etwa in Form einer Steigerung der Schulleistungen und einer Minderung der sozialen Selektivität des Schulsystems) hingegen ist unsicher und wird wenn überhaupt erst langfristig – jedenfalls nicht innerhalb einer Legislaturperiode – eintreten. (Edelstein 2016, S. 64, Hervorhebungen von mir)
Ansätze zur Veränderung
Die Leistungs- und Gerechtigkeitsdefizite des Schulsystems, die im Gefolge der Empirischen Wende deutlich wurden, haben dazu beigetragen, lang gehegte Überzeugungen hinsichtlich der Vorteile und Stärken des gegliederten Schulsystems in Frage zu stellen. Auch wenn die schulstrukturellen Implikationen der Befunde in Wissenschaft und Politik teilweise umstritten sind, haben sie langfristig in vielen Bundesländern Strukturfragen zurück in den Fokus schulpolitischer Reformerwägungen gerückt. (Edelstein 2016, S. 65)
Folgenreich: Das Schulwahlverhalten der Familien
Als wesentlich folgenreicher erwies sich indes eine direktere Form des Wettbewerbs in jenen Bundesländern, die in den 1970er Jahren die Integrierte Gesamtschule als Regelschule einführten. Hier entstand über die Schulwahlfreiheit der Eltern ein marktförmiger Wettbewerb zwischen unterschiedlichen Modellen der Schulorganisation, dessen Auswirkungen sich am Beispiel Hamburgs illustrieren lassen: 1979 als Regelschule verankert, setzte die Gesamtschule als konkurrierendes Angebot zu den Schulformen des gegliederten Systems eine folgenreiche Veränderung des Schulwahlverhaltens in Gang. Stetig steigende Anmeldezahlen machten sie zur meistbesuchten Schulform neben dem Gymnasium, während Hauptund Realschulen einen unaufhaltsamen Schülerschwund verzeichneten. Schließlich war deren flächendeckendes Angebot schon aus Wirtschaftlichkeitsgründen nicht mehr zu gewährleisten und die Umstellung auf ein Zwei-Säulen-Modell zum Abitur geradezu unumgänglich (Edelstein & Nikolai, 2013). (Edelstein 2016, S. 66)
Ebenfalls spannend: die demografische Entwicklung
Als in gewisser Weise funktionales Äquivalent dieser wettbewerbsinduzierten Entwicklung ist ein weiterer Prozess zu nennen, der utilitaristische Reproduktionsmechanismen unterminieren kann: die demografische Entwicklung. Zwar wird sie in der Literatur in diesem Zusammenhang nicht diskutiert. Da jedoch auch sie die Kosten-Nutzen-Kalküle schulpolitischer Akteure tangiert, lässt sie sich dieser Analysedimension zuordnen. Von grundlegender Bedeutung ist dabei, dass schrumpfende Kohortengrößen aufgrund hoher Fixkosten für Gebäude, Sachausstattung und Lehrpersonal ein Steigen der finanziellen Aufwendungen je Bildungsteilnehmer mit sich bringen (Bartl, 2014, S. 412). In dünn besiedelten ländlichen Regionen hat dies letzthin dazu geführt, dass die tradierte Differenzierung des Schulsystems aus Gründen der Wirtschaftlichkeit nicht aufrechterhalten werden konnte. Wo indes die Bestandsfähigkeit von einzelnen Schulformen und ihren Standorten wegen geringer Schülerzahlen nicht mehr gegeben ist, sind integrierte Modelle der Schulorganisation unumgänglich, um flächendeckend ein vollständiges Schulangebot in Wohnortnähe zu erhalten. (Edelstein 2016, S. 66)
Zusammenfassung
Machtbasierte Reproduktionsmechanismen speisen sich aus den Interessen bestimmter sozialer Gruppierungen an der Aufrechterhaltung der hierarchischen Schulformengliederung.
Legitimationsbasierte Reproduktionsmechanismen beruhen auf der Internalisierung und gesellschaftlichen Verbreitung bestimmter Vorstellungen über Bildung und Begabung sowie damit verbundener präskriptiver Vorstellungen über die Art und Weise, wie ein Schulsystem organisiert sein sollte.
Funktionalistische Reproduktionsmechanismen resultieren aus Interdependenzen zwischen dem Schulsystem und anderen Institutionen des Bildungs- und Produktionssystems.
Utilitaristische Reproduktionsmechanismen sind Ausdruck der vielseitigen Investitionen in das bestehende System und der organisatorischen und finanziellen Ressourcen, die für eine Veränderung desselben aufgebracht werden müssen.
Das Wissen um die Reproduktionsmechanismen der Schulstruktur gibt indessen nicht nur Aufschluss über die Ursachen ihrer langjährigen Stabilität, sondern eröffnet zugleich Perspektiven für eine theoretisch fundierte Analyse ihres Wandels. Denn wie in den vorangehenden Ausführungen gezeigt, lassen sich für jeden dieser Mechanismen spezifische Prozesse identifizieren, die eine Erosion oder gar Außerkraftsetzung des jeweiligen Mechanismus und damit eine Destabilisierung der Schulstruktur herbeiführen können. Zur Erklärung unterschiedlicher Wandlungsverläufe und schulstruktureller Ergebnisse in den Bundesländern wird es folglich gewinnbringend sein, eben diese Erosionsprozesse als maßgeblichen Kontext schulpolitischen Handelns in den Blick zu nehmen. (Edelstein 2016, S. 67)
Dem ist nichts weiter hinzuzufügen.
Literatur
Edelstein, B. (2016). Stabilität und Wandel der Schulstruktur aus neoinstitutionalistischer Perspektive. Überlegungen zur Schulpolitik unter Bedingungen der Pfadabhängigkeit. In N. Berkemeyer, B. Hermstein & V. Manitius (Hrsg.), Institutioneller Wandel im Bildungsbereich – Reform ohne Kritik? (S. 47–70). Weinheim und Basel: Beltz.