Die offiziellen Stellungnahmen zu den Schülerstreiks decken beide Extreme ab: von der kompletten und mit der Schulpflicht begründeten Ablehnung bis hin zur “Begrüßung” oder einer ebenso freundlichen wie erstickenden Umarmung. Hier drei Äußerungen, eine von der Kanzlerin, eine aus Bayern und eine aus dem Saarland.
Ein fragwürdiges Lob
Dass Frau Merkel sich jüngst positiv zu den Schülerstreiks geäußert hat, ist in diesen Tagen allgemein zur Kenntnis genommen worden. Sie, die maßgeblich dafür verantwortlich ist, dass Deutschland die international vereinbarten Klimaziele nicht erreicht, setzt sich damit in einen beträchtlichen Selbstwiderspruch, was satirische Portale wie der Postillon genüsslich – aber auch der Sache nach zutreffend – aufspießen.
Eine geschickte Initiative
Thorsten Glauber, der neue bayerische Umweltminister, dessen Behörde seit Söder auch offiziell als “Lebensministerium” bezeichnet wird, hat in der vergangenen Woche eine/n Schüler/in pro weiterführender Schule zu zwei Jugend-Klimakonferenzen eingeladen. Eine soll im März in Nordbayern stattfinden, eine am 5. April in Südbayern. In dem Einladungsschreiben ist zu lesen:
Dieses hohe Engagement beeindruckt mich. Viele bringen dies auch durch ihre Teilnahme an den unter dem Motto „Fridays for Future“ veranstalteten Demonstrationen zum Ausdruck, obwohl eine Pflicht zum Unterrichtsbesuch besteht. Ich möchte Schülerinnen und Schüler gerne zum Dialog einladen, ihnen zuhören und im direkten Gespräch über ihre Wünsche, Ziele und Ideen diskutieren.
Geschickt ist diese Initiative, weil der Minister gemerkt hat, dass die Streikbewegung immer stärker wird und ein berechtigtes Interesse zum Ausdruck bringt. So etwas kriegt man nicht durch staatlichen Widerstand von der Straße. Man kann höchstens versuchen, die Energieströme von der Spitze her zu lenken.
Was wird dabei wohl herauskommen? Ich stelle mir unterschiedliche Szenarien mit den Schüler/innen aus etwa 1850 Mittel-, Wirtschafts-, Realschulen und Gymnasien vor:
“Gut, dass wir miteinander geredet haben.” Von den Hunderten von Schüler/innen – wenn sich denn so viele zur Anreise entschließen – kommen bestenfalls 30 zu Wort. Der Minister Glauber lässt sie ausreden und gibt Kommentare. Ende.
“Wir reden weiter miteinander.” Minister und Anwesende beschließen durch Akklamation, dass ein fester Gesprächskreis gegründet wird, in welchem sich wie auch immer legitimierte Vertreter der Schüler/innen und des Ministeriums wie häufig auch immer treffen um sich auszutauschen.
“Wir tun was fürs Klima.” Es werden – mit dem Kultusministerium zusammen – Aktionen, Wettbewerbe und Projektwochen vereinbart, wie Schüler/innen selbst aktiv werden und sich zuhause und in der Schule für die Verbesserung des Klimas einsetzen können.
Inzwischen hat der Umweltminister gleich mal das “Netzwerk Klimajugend Bayern” ins Leben gerufen (richtig: er, nicht die Jugend!) und eine Seite ins Netz gestellt, auf der sich die Schüler/innen informieren und äußern dürfen: https://www.netzwerk.klimajugend.bayern.de/.
Ob die Umarmung gelingt? Schließlich geht es den Protestierern ja in der Hauptsache darum, dass die politischen Entscheider die Weichen anders stellen.
Eine ruhige Abwägung
Erfreulich Nachdenkliches wird aus dem Saarland gemeldet. Ich versuche mal, die Nachricht der Saabrücker Zeitung aufzudröseln, die sich auf eine Rechtsprechung des Verwaltungsgerichts bezieht:
- Ja, es gilt, dass jede/r Schüler/in von Gesetzes wegen grundsätzlich verpflichtet ist am Unterricht teilzunehmen. Aber es darf abgewogen werden:
- Wie schwer wiegt die vom Grundgesetz Art. 8 gewährte Demonstrationsfreiheit gegenüber der Schulpflicht?
- Handelt es sich um eine unaufschiebbare Spontandemonstration?
- Ist das mit der Demonstration verbundene Anliegen von allgemeiner Bedeutung und besonderem Gewicht?
- In welchem Umfang wird der Unterricht durch das Wegbleiben der Schüler gestört? Wie oft und von wie vielen Schülern wurde der Unterricht in letzter Zeit versäumt, und welches Gewicht haben die Unterbrechungen des Unterrichts insgesamt?
Auf dieser Basis sowie „angesichts der grundlegenden Bedeutung der Klimapolitik als nachhaltigem Thema der Kundgebung“, so das Bildungsministerium, habe man den Schulleitungen per Rundschreiben „die entsprechenden Entscheidungen ermöglicht“.
Diese Entscheidungsfreiheit ist gleichzeitig eine Verantwortungszumutung. Es gibt ganz bestimmt Schulleiter/innen, denen ein eindeutiges Machtwort aus den Ministerien lieber wäre, weil sie sich dahinter verstecken könnten. Aber so müssten sie Stellung beziehen und sich verantworten – vor sich selbst, vor ihren Schüler/innen und Eltern, vor ihren Vorgesetzten und vor der Zukunft.
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