Ergänzung: Gespräch zwischen Wolfgang Beywl und John Hattie
Schon nach dem Erscheinen der ersten Hattiestudie von 2009 (Visible Learning) haben Lehrerinnen und Lehrer versucht, Erkenntnisse daraus direkt im Unterricht umzusetzen. Menschen, zu denen ich auch gehöre, orientierten sich relativ unsystematisch und kontextfrei an seinen Effektstärken, einfach um das eigene Lehren besser zu machen. Das ist nicht falsch, aber auch noch nicht das Gelbe vom Ei. Wie man häufig im Unterricht auftauchende Probleme auf der Grundlage von Hatties Neuauflage The Sequel effektiv und nachhaltig angehen kann, zeigt das Buch, das ich heute vorstellen möchte:
Wolfgang Beywl, Monika Wyss, John Hattie, Kathrin Pirani, Michael Mittag (2023). Lernen sichtbar machen. Das Praxisbuch. Schneider-Verlag Hohengehren
In vielerlei Hinsicht wirklich „praktisch“
Das Buch nimmt die Leser an die Hand und führt sie durch die rund 250 Seiten an die Stellen, die individuell interessieren. Dabei helfen unter anderem ein Glossar, zahlreiche Querhinweise, Zusammenfassungen an den Kapitelanfängen (als Advance Organizer), Tabellen und Diagramme.
Wer will, kann gleich zu den Praxisbeispielen ab Seite 60 bis 147 springen und anhand von alltäglich auftretenden Schwierigkeiten in der Schule („Knacknüssen“) überlegen, was dem eigenen Unterricht helfen könnte. Diese Knacknüsse sind Ausgangspunkte für Unterrichtsinterventionen, zum Beispiel:
„Lernende brauchen beim Start des Unterrichts viel Zeit, bis sie ruhig und fokussiert sind.“
Dann wird ein überprüfbares (smartes) Ziel angegeben, mit den Schülerinnen und Schülern geteilt, von ihnen unterschrieben und über mehrere Wochen eingeübt. Zur begleitenden Selbstbeurteilung dient ein Poster, auf das die Schüler:innen Smileys kleben und das kontinuierliches („formatives“ i. S. Hatties) Feedback erzeugt.
Die Darstellung wird jeweils abgeschlossen durch Aussagen einer Lehrkraft, die das Verfahren über ein Jahr oder länger erprobt hat.
Dazu gibt es ein dreiseitiges Planungsraster, das von den Verlagsseiten heruntergeladen werden kann.
So sieht der Weg durch das Buch aus:
Damit nicht genug. Weiter hinten wird in fünf Szenen („Begeisterung und Skepsis“) durchgespielt, wie sich aus alltäglichen Lehrergesprächen eine entsprechende Unterrichtsentwicklung entfalten könnte, auf die dann auch der Schulleiter aufspringt und dieses Verfahren in seiner Schule weiter zu bringen versucht.
Dass das keine idealisierende Produktpromotion ist, erkennt man an der Mitwirkung von über 1000 Personen an diesem Buch, die für die Wirksamkeit des beschriebenen Verfahrens stehen.
Hattie und die Unterrichtspraxis
Wer die theoretische Einbindung nachvollziehen will, wird ebenfalls nicht allein gelassen, denn das „Praxisbuch“ verbindet sachliche Tiefe der Unterrichtsforschung mit einfach nachvollziehbaren Anregungen für die Unterrrichtspraxis (bzw. leitet diese aus jener ab). Es macht dazu auf einer Doppelseite transparent, wie einzelne effektstarke Faktoren aus Hatties Studien in den Praxisbeispielen umgesetzt werden. Hier ein Ausschnitt auf Seite 58 (zur Vergrößerung anklicken):
Auf dieser Seite wird u.a. „Angst“ als wirksamer Faktor genannt. In The Sequel schreibt Hattie der Emotion anxiety eine Effektstärke von d = -0.40 zu, also eine in hohem Maße kontraproduktive Wirksamkeit, die es im Unterricht zu vermeiden oder sogar zu bekämpfen gilt!
Anmerkung für die interessierten Leser:innen: Hattie beschreibt in seinem Buch jeden einzelnen Effekt im Detail, im Kontext und mit Zitaten aus der zugrunde gelegten Literatur. Das liest sich in einzelnen Fällen sehr spannend, zum Beispiel bei der Frage nach dem Sitzenbleiben, der Inklusion oder den Erwartungen, die Lehrer:innen an ihre Zöglinge haben (oder nicht).
Eine stets aktuell gehaltene Liste der untersuchten Effekte finden Sie hier im Web: https://www.visiblelearningmetax.com/Influences
Wer oder was ist „Luuise“?
In The Sequel hat Hattie noch stärker als in Visible Learning betont, dass guter Unterricht nicht nur Feedback geben und nehmen, sondern grundsätzlich evaluativ sein muss. Das bedeutet, dass die Lehrkraft nach der Durchführung der Unterrichtseinheit unbedingt und am besten systematisch ein Auge darauf haben soll, was von den eigenen Intentionen bei den Schülerinnen und Schülern überhaupt und wie angekommen ist.
Diese evaluative Grundhaltung wird in dem von Beywl u.a. entwickelten Luuise-Verfahren umgesetzt. Die Grafik zeigt, wie die Unterrichts- und die Evaluationsschiene miteinander verbunden sind:
Dieses Schema illustriert auch das Akronym „Luuise“:
Lehrpersonen
unterrichten und
untersuchen
integriert,
sichtbar und
effektiv.
Der Geist des Buches
Das ganze Buch durchzieht ein freundliches Augenzwinkern. Es beginnt mit dem Vorwort von Diethelm Wahl, der gleich mal Mark Twain zitiert und damit die latente Veränderungsresistenz vieler Lehrkräfte aufs Korn nimmt:
Die einzige Person, die eine Veränderung liebt, ist ein Baby mit nassen Windeln.
Oder ein Sprichwort, mit dem er das ganze Projekt verpflichtet, nicht nur anzukündigen, sondern auch einzulösen:
Wer gackert, muss auch liefern.
Dazu tun die Cartoons von Michael Mittag das ihre. Hier ein Beispiel zur Klarheit der Lehrperson, die bei Hattie eine überraschend hohe Effektstärke von d = 0.85 erhält (im Vergleich: Fachkompetenz der Lehrkraft d = 0.18).
Die Autoren
Wie oben bereits erwähnt, haben etwa 1000 Personen, überwiegend Unterrichtende, zu diesem Buch beigetragen. Gut 100 von ihnen werden namentlich erwähnt, darunter die 44 Mitverfassenden der 36 Praxisbeispiele aus 25 Schulen. Das Redaktionsteam wird am Ende vorgestellt:
Es wäre lohnend, sich in die Arbeit jedes dieser Redaktionsmitglieder zu vertiefen, aber dazu bräuchte man wohl mehr als ein Leben… Empfehlen kann ich unbedingt den YouTube-Kanal von Michael Mittag, der die erfreuliche Gabe besitzt, verbreitete und/oder strittige Probleme in aller Kürze dazustellen.
Fazit
Für Lehrpersonen und Schulleitungen: Lesen!