Ein satirischer Beitrag. Erläuterungen unten.
Leitfaden für übertrittswillige Eltern
Sind Sie bereit zu investieren?
Sie müssen bereit sein, viel Zeit in der Schule zu verbringen und sich zu engagieren. Dieser Leitfaden zeigt Ihnen, wie.
Sind Sie überzeugt?
Sind Sie überzeugt, dass Ihr Kind aufs Gymnasium muss? Dass nur das Abitur dort das wahre Abi ist und alles, was über einen anderen Bildungsweg kommt, eben nur second-hand-Qualität besitzt? Und dass Realschule und Hauptschule (oder wie sie auch gerade in den verschiedenen Bundesländern heißen mögen) gern für andere in Frage kommen, aber nicht für Ihr Kind? Unsere Gesellschaft braucht Arbeiter, aber Ihr Kind soll ein Leader werden, ja? [1]
Sind Sie überzeugt, dass Ihr Kind es drauf hat? Haben Sie schon von früher Kindheit an die Anzeichen für seine überdurchschnittliche Intelligenz wahrgenommen? Liest Ihr Kind gern? Falls nicht: Haben Sie wenigstens ein paar Regale mit Büchern zuhause? Das ist nämlich für Schulforscher immer ein Indikator für späteren Schulerfolg. [2] Im Zweifelsfall kaufen Sie sich noch ein paar Kilo Literatur!
Konnte ihr Kind schon früh lesen oder rechnen? Falls nicht, haben Sie sicher gute Gründe, warum nicht (keine Zeit wegen Klavierunterricht oder Ballett; unverständige Erzieherinnen im Kindergarten; schlechte Nachbarschaft…). Sie erkennen: Die Eignung ist vorhanden, aber vielleicht aufgrund äußerer Umstände noch nicht realisiert.
Etablieren Sie Ihr Kind in den Köpfen der Lehrerinnen!
Sobald Ihr Kind in der Schule ist, füttern Sie die Lehrerinnen mit Berichten, was Ihr Kind zuhause schon alles kann und verstanden hat! Erzählen Sie den Lehrerinnen, was ihr Kind Tolles tut (Ballett, Tennis, Reiten, Schach, Lesen, Oper…). Sie sammeln damit kulturelles Kapital. [3] Lassen Sie die Finger oder besser die Füße weg vom Fußball – den mögen nur die Hauptschullehrer; den Grundschullehrerinnen ist dieser Sport zu grob und proletenhaft und die Kinder geraten dadurch aufs falsche Gleis. [4] Es ist wichtig, dass Sie in den Köpfen der Lehrerinnen von Anfang an Ihr Kind auf der „geeignet“-Seite etablieren. Wenn es erst mal in dieser prägymnasialen Schublade drin ist, kann nämlich nichts mehr passieren (ist wissenschaftlich nachgewiesen)! [5]
Pflegen Sie die pädagogische Landschaft!
Lassen Sie sich zur Klassenelternsprecherin wählen! Wirbeln Sie Staub auf! Veranstalten Sie Elternstammtische! Sorgen Sie dafür, dass die Lehrerin an Weihnachten und zum Schuljahresende ein kleines Geschenkchen erhält! Machen Sie sich einen Namen!
Und wenn es mit der positiven Kommunikation doch nicht reichen sollte: Sammeln Sie Einfluss! Lassen Sie die sozialen Medien heißlaufen mit Ihren Ansichten zu den möglicherweise unkooperativen Lehrerinnen! Sorgen Sie dafür, dass alle von den kleinen Versehen erfahren, die jeder Lehrerin mal unterlaufen (einen Termin erst sehr spät bekannt gegeben; Rechtschreibfehler in einem Elternbrief; ein ungeduldiges Wort im Klassenzimmer)! Damit können Sie sich eine Machtposition aufbauen, angesichts derer sich jede Lehrerin sehr genau überlegen wird, welche Schullaufbahnempfehlung Sie gerade Ihrem Kind gibt! [6]
Vergleichen Sie!
Ihr erster Ansatz sollte immer sein, der Lehrerin Ihres Kindes mit großem Wohlwollen zu begegnen. Aber das sollte Sie nicht davon abhalten, die Leistung dieser Lehrperson genau unter die Lupe zu nehmen: Schreibt Sie dieselben Probearbeiten wie die Parallelklassen? Bepunktet und bewertet sie die Arbeiten genauso wie die parallele Kollegin? Falls Ihre Schule zu klein ist für parallele Klassen: Sie haben sicher eine Bekannte in einem anderen Stadtteil oder in einem anderen Ort im Schulamtsbezirk. Und falls das nicht reicht: Das Internet ist eine Fundgrube von Tausenden von Parallelklassen! Es gibt genug Eltern, die Arbeiten abfotografieren oder scannen und hochladen. Ihre Lehrerin kommt Ihnen nicht aus und darf sich keinen Fehler erlauben. Andernfalls wird sie Sie kennen lernen! Oder Ihren Anwalt. [7]
Beharren Sie auf dem Gegensatz „geeignet“ – „nicht geeignet“!
Es gibt da so eine neumodische Bewegung, die sich Chancengerechtigkeit auf die Fahnen geschrieben hat und vielleicht auch noch Noten generell kritisiert. Das ist nun wirklich ein Schritt in die pädagogische Vergangenheit [8], lassen Sie sich davon nicht beeinflussen! Der Markt entscheidet: Wer gute Noten schreibt, ist gut. Wer nicht, nicht. Da braucht man nicht auf Herkunftseffekten und so akademischem Zeugs rumreiten. Das sagt einem doch schon der gesunde Menschenverstand, oder?
Wie auch immer: Sorgen Sie dafür, dass Ihr Kind stets auf der richtigen Seite gesehen wird! Es macht wirklich einen Unterschied in den Köpfen der Lehrerinnen: Derselbe Fehler bei einem Kind der prägymnasialen Schublade „geeignet“ fällt wesentlich weniger ins Gewicht oder wird völlig anders erklärt als bei einem Kind der Kategorie „nicht geeignet“. Bei diesem ist der Fehler Ausdruck der grundsätzlichen Nichteignung für höhere Schulen; bei jenem ist es lediglich ein Ausrutscher und ändert nichts an der immer schon vorhandenen Berufung für Höheres! [9]
Machen Sie Ihre Erwartungen deutlich!
Wenn es dann in Richtung Übertrittszeugnis geht und Sie haben unsere Ratschläge befolgt, dann sollte der gehobenen Laufbahnempfehlung für Ihr Kind nichts im Wege stehen. Trotzdem sollten Sie es nicht versäumen, der Lehrerin rechtzeitig, also zu Beginn der vierten Klasse, auch explizit klar zu machen, was Sie von ihr erwarten. Ihr Kind, dessen Weg Sie nun so gut gebahnt haben, müsste schon unerhört schlechte Leistungen gezeigt haben, damit ihm Ihr Wunsch versagt bliebe. Das ist schlechterdings nicht denkbar. Solange es sich irgendwo im Mittelfeld bewegt, gehört es aufs Gymnasium. Und da wird es auch hin empfohlen. Garantiert.
Anmerkungen und Erläuterungen
In meinen vielen Jahren als Schulleiter sind mir sehr viele übertrittswillige Eltern begegnet, die meisten davon Mütter, weil diese sich in den wichtigen Zeiten der Kindererziehung oft gegen ein Arbeitsverhältnis entscheiden und von daher häufiger in der Schule auftreten als die Väter.
In den Grundschulen, die ich kenne, arbeiten zu weit über 95 Prozent Lehrerinnen; deshalb habe ich auch hier durchgängig die weibliche Form gewählt. Die Aussagen über Haltungen und Einstellungen von Lehrkräften gelten aber selbstverständlich auch für die männlichen Kollegen.
Nahezu jede einzelne Erscheinung, die in dem obigen Text aufs Korn genommen wird, ist mir in ähnlicher Form auch tatsächlich selbst begegnet oder von KollegInnen glaubhaft so beschrieben worden. Ich habe mir die Freiheit genommen, dies alles in einem „Ratgeber“ zusammen zu fassen und einige Linien noch etwas weiter auszuziehen und Verhalten zuzuspitzen. Allein schon durch diese Kumulation wirkt der Leitfaden unglaubwürdig; aber das ist wohl bei einem solchen Manual unvermeidlich.
Die vielleicht an Sarkasmus grenzende Ironie rührt daher, dass ich während des Schreibens immer wieder wissenschaftliche Erkenntnisse assozziierte, die trotz ihrer Qualität und schieren Quantität in den Köpfen von bildungspolitischen Entscheidern, gerade hier in Bayern, so unglaublich wenig bewirkt haben. Einen Ausschnitt davon führe ich nun an – hier also der ans Wissenschaftliche grenzende Anhang.
Anhang
[1] In den Schularten geronnenes Menschenbild
Die Ansicht, dass unterschiedliche Schularten auf unterschiedliche gesellschaftliche Aufgaben zielen, liegt nicht nur an der Wurzel des gegliederten Schulsystems, sondern wird auch im neuen bayerischen Lehrplan PLUS deutlich, wenn man dessen implizites Menschenbild analysiert.
https://paedagokick.de/2017/08/12/faktencheck-15-menschenbild-und-schulstruktur/
Ipfling, Heinz-Jürgen (1991). Die Hauptschule. Materialien – Entwicklungen – Konzepte ; ein Arbeits- und Studienbuch. Bad Heilbrunn/Obb.: Klinkhardt.
Frank, N. (2019). Volksschule, Hauptschule – “Restschule”. Geschichte und aktuelle Struktur einer deutschen Bildungsinstitution. Baltmannsweiler: Schneider Hohengehren.
[2] Anzahl der Bücher pro Haushalt
Die Anzahl der Bücher in einem Haushalt wird in empirischen Untersuchungen tatsächlich als ein gängiges Indiz für späteren Schulerfolg genommen. Ist auch kein Wunder, wenn man sich vor Augen hält, was mit dem primären Herkunftseffekt gemeint ist. Der Rat zum kiloweisen Ankauf von Literatur vertauscht natürlich bewusst Ursache und Wirkung.
Sikora, J., Evans, M. D. R. & Kelley, J. (2019). Scholarly culture: How books in adolescence enhance adult literacy, numeracy and technology skills in 31 societies. Social science research 77, 1–15.
Maaz, K. & Nagy, G. (2010). Der Übergang von der Grundschule in die weiterführenden Schulen des Sekundarschulsystems: Definition, Spezifikation und Quantifizierung primärer und sekundärer Herkunftseffekte. In K. Maaz, J. Baumert, C. Gresch & N. McElvany (Hrsg.), Der Übergang von der Grundschule in die weiterführende Schule. Leistungsgerechtigkeit und regionale, soziale und ethnisch-kulturelle Disparitäten (Bildung Ideen zünden!, Bd. 34, S. 151–180). Bonn: Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) Referat Bildungsforschung.
[3] Kulturelles Kapital
Der Bildungssoziologe Pierre Bourdieu hat in vielen seiner Schriften darauf hingewiesen, wie wichtig die Herkunftsfamilie für die Einführung in die herrschende Kultur ist, die eben auch den Schulbetrieb maßgeblich bestimmt.
https://paedagokick.de/2019/02/09/people-12-schule-bildet-nicht-aus-sondern-eliminiert/
Bourdieu, P. (2015). Die verborgenen Mechanismen der Macht (Schriften zu Politik & Kultur, / Pierre Bourdieu. Hrsg. von Margareta Steinrücke ; 1, Durchgesehene Neuauflage der Erstauflage). Hamburg: VSA Verlag.
Bourdieu, P., Bolder, A. & Steinrücke, M. (2006). Wie die Kultur zum Bauern kommt (Schriften zu Politik & Kultur, ; 4, Unveränderter Nachdruck). Hamburg: VSA-Verlag.
Bourdieu, P., Passeron, J.-C. & Egger, S. (2007). Die Erben. Studenten, Bildung und Kultur (Édition discours, Bd. 41). Konstanz: UVK-Verl.-Ges.
[4] Die (nicht) passenden Sportarten
Sehr zugespitzt, ich weiß. Diese Aussage gründet sich auf die Habitus-Theorie, ebenfalls von Bourdieu. Der gemäß erkennen und anerkennen Lehrpersonen am besten das Verhalten und die Äußerungen, die auch ihrem eigenen Lebensstil und ihrer eigenen Kultur entsprechen.
Bourdieus Kapitaltheorie (Bourdieu 1983) erklärt den Einfluss der sozialen Herkunft auf die Bildungschancen von Kindern durch die unterschiedliche Ressourcenausstattung der Eltern. Hiermit ist das ökonomische, soziale und besonders das kulturelle Kapital gemeint. Bourdieu geht von einer Reproduktionsthese aus, wobei das kulturelle Kapital in der Familie sozial vererbt wird, was gerade im Schulsystem eine große Rolle spielt. Von besonderer Bedeutung ist, dass die kulturelle Lebensart sowohl in der Familie als auch in der Schule gleich ist. Z. B. haben Kinder eindeutig Vorteile, bei denen dieselbe Art der Sprache und des Umgangs in der Familie und in der Schule gleich ist. Bevor das Kind in die Schule kommt, wird durch das kulturelle Kapital bereits der Weg für die Bildung bereitet. (Debuschewitz und Bujard 2014, S. 4–5)
Debuschewitz, P. & Bujard, M. (2014). Determinanten von Bildungsdifferenzen in Deutschland. Lehren und Grenzen der PISA-Studie. Bildungsforschung 11 (1), 1–16.
Nikolaus Frank, ehemals an der Uni Augsburg und jetzt im Ruhestand, verweist auf denselben Effekt:
Da sie überwiegend einem Sozialmilieu mit geringer Schulbildung entstammen, ist ihr Sprachverhalten im Vergleich zu Akademikerkindern defizitär. Außerdem ist ihr Problemlöseverhalten mehr an konkreten Handlungsstrategien (z.B. handwerklich-technischer Art) orientiert als an der Interpretation und Lösung abstrakter Aufgabenstellungen. (Frank 2012, S. 73)
Frank, N. (2012). Intelligenz, Sozialschicht und Schulerfolg (Berichte aus der Pädagogik). Aachen: Shaker (Zugl.: Augsburg, Univ., Habil.-Schr., 2012).
https://paedagokick.de/2017/07/09/faktencheck-15-intelligenz-und-schulerfolg/
[5] Etablierung in den Köpfen
Erschütternd genug, aber leider ein viel beobachtetes Phänomen: Wenn sich die Lehrkräfte (beiderlei Geschlechts) erst einmal festgelegt haben, welches Kind zu den guten und welches zu den anderen gehört, dann bewerten sie diese Kinder nicht mehr objektiv nach reinen Leistungsgesichtspunkten, sondern nach der Herkunft.
Wie viele andere Studien konnten wir erstens feststellen, dass Schüler aus niedrigeren Sozialschichten bei gleichen kognitiven Kompetenzen schlechtere Noten erhalten. (Helbig und Morar 2017, S. 22)
Viel wichtiger als die Einschätzung der Fähigkeiten aus Schüler- oder Elternsicht ist die Einschätzung von Begabung (kognitive tertiäre Effekte), Arbeitsverhalten (psychosoziale tertiäre Effekte) und elterlicher Unterstützung (ressourcenbezogene tertiäre Effekte) aus Lehrersicht. Diese Einschätzungen erklären erstens die Notenvergabe in einem bedeutenden Umfang. Zweitens kann die sozial ungleiche Bewertung durch diese Einschätzung fast vollständig aufgeklärt werden. (Helbig und Morar 2017, S. 23)
Helbig, M. & Morar, T. (2017). Warum Lehrkräfte sozial ungleich bewerten. Ein Plädoyer für die Etablierung tertiärer Herkunftseffekte im werterwartungstheoretischen Standardmodell der Bildungsforschung. WZB Discussion Paper (005).
https://paedagokick.de/2019/05/23/faktencheck-52-erwartung-schafft-wirklichkeit/
https://paedagokick.de/2019/05/04/faktencheck-51-herkunft-ist-entscheidender-als-leistung/
https://paedagokick.de/2018/10/03/faktencheck-40-strukturelle-schublaeden-und-scheuklappen/
https://paedagokick.de/2018/08/25/faktencheck-39-wer-in-der-schule-gut-sein-darf-und-wer-nicht/
[6] Druck auf die Laufbahnentscheider
Sanna Pohlmann-Rother von der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg hat die Begegnungsfläche von Eltern und Lehrkräften in der Übertrittsphase genauer unter die Lupe genommen und kommt u.a. zu folgenden Ergebnissen:
Manche Lehrkräfte berichten davon, dass sie dem Druck der Eltern nachgeben und bereits im Vorhinein die Noten anpassen, damit diese zu der gewünschten Empfehlung führen. (Pohlmann-Rother 2010, S. 143)
Einige Lehrkräfte fühlen sich durch die Forderungen der Eltern in eine defensive Position gedrängt. Sie versuchen durch Absprachen mit Kollegen, der gemeinsamen Planung von Klassenarbeiten und einem einheitlichen Bewertungsschlüssel ihre Notengebung abzusichern. Eine hohe Belastung geht auch von der Verantwortung aus, welche die Lehrkräfte in der vierten Klasse verspüren. Die Selektion wird als „viel zu frühe Teilung“ und „schreckliches Aussieben“ wahrgenommen, bei der man sich „in jungen Jahren schon so schwerwiegend festlegen muss“ (BY, 3092, W1). Die Durchlässigkeit des Schulsystems wird überwiegend als gering eingeschätzt, was ihre Entscheidung noch bedeutsamer macht. Die Lehrkräfte, die sich von den Eltern unter Druck gesetzt fühlen, unterrichten überwiegend in Bayern, wo eine restriktive Notenvorgabe den Übergang bestimmt. (Pohlmann-Rother 2010, S. 143)
Obwohl die Schullaufbahnprognose in Bayern auf der Grundlage des Notendurchschnitts erteilt werden soll, berücksichtigen die befragten Lehrkräfte neben den Noten auch weitere pädagogisch begründete und schwer zu operationalisierende Kriterien, um den Schulerfolg in den weiterführenden Schulen möglichst wahrscheinlich zu machen. Diese strukturellen Freiheitsgrade führen nicht nur zu Chancenungleichheit beim Übergang, sondern auch zu Belastungen der Lehrkräfte und zu Konflikten mit Eltern. (Pohlmann-Rother 2010, S. 147)
Pohlmann-Rother, S. (2010). Die Herausbildung der Übergangsempfehlung am Ende der Grundschulzeit. Zeitschrift für Grundschulforschung 3 (2), 136–148.
[7] Vergleiche und Absicherung
Es ist eine durchgängige Praxis sicher nicht nur an meiner Grundschule, dass die Lehrkräfte sich durch Absprachen von vorneherein gegen Kritik abzusichern versuchen:
Einige Lehrkräfte fühlen sich durch die Forderungen der Eltern in eine defensive Position gedrängt. Sie versuchen durch Absprachen mit Kollegen, der gemeinsamen Planung von Klassenarbeiten und einem einheitlichen Bewertungsschlüssel ihre Notengebung abzusichern. Eine hohe Belastung geht auch von der Verantwortung aus, welche die Lehrkräfte in der vierten Klasse verspüren. Die Selektion wird als „viel zu frühe Teilung“ und „schreckliches Aussieben“ wahrgenommen, bei der man sich „in jungen Jahren schon so schwerwiegend festlegen muss“ (BY, 3092, W1). (Pohlmann-Rother 2010, S. 143)
[8] Schritt in die pädagogische Vergangenheit
Der ehemalige bayerische Kultusminister Spaenle wurde nicht müde, das längere gemeinsame Lernen zu verdammen. Er verwendete dabei zuweilen sprachliche Bilder, deren Sinn sich nicht unmittelbar erschloss.
MÜNCHEN. Mit einer „Waschmaschine, die der differenzierten und qualitätsvollen bayerischen Schullandschaft mit extrem hoher Schleuderzahl enormen, nicht wieder gutzumachenden Schaden zufügt“ vergleicht Bayerns Kultusminister Dr. Ludwig Spaenle die von der SPD-Landtagsfraktion favorisierte Einheitsschule. „Diese Schulform wird es in Bayern nicht geben“, reagierte der Kultusminister auf den Vorstoß des SPD-Politikers Güll. Die sog. „Gemeinschaftsschule“ stellt für Kultusminister Spaenle einen Schritt in die pädagogische Vergangenheit dar, einen Schritt in die Zeit der Gesamtschule.
https://www.km.bayern.de/pressemitteilung/8022/nr-033-vom-13-02-2012.html
Als Kontrast dazu eine Stimme der Wissenschaft:
Dafür gibt es vielfältige Argumente, von denen ich nur einige nennen möchte, zumal sich viele aus den oben genannten von selbst ergeben:
- Elternwunsch: Eine längere gemeinsame Schulzeit ist auch der Wunsch der Eltern aus den neuen Bundesländern (vgl. u.a. Valtin/Rosenfeld 2001). Viele bedauern, dass die neuen Länder zu schnell die Schulstruktur der DDR aufgegeben haben.
- Entwicklungs- und lernpsychologische Erkenntnisse: Mit zehn Jahren, so weiß seit Piaget jeder Entwicklungspsychologe, sind Kinder in einem Alter, in dem wenig Verlässliches über die späteren intellektuellen Entwicklungsmöglichkeiten und ihre Begabungen ausgesagt werden kann.
- Erhöhung der Chancengleichheit. (Valtin 2005, S. 246–247)
Valtin, Renate (2005): Länger gemeinsam lernen – eine notwendige, aber nicht hinreichende bildungspolitische Forderung. DIPF. Frankfurt am Main
[9] Nochmal das, was in den Köpfen der LehrerInnen vor sich geht
Es gibt zahlreiche empirische Belege dafür, dass Kinder höherer sozialer Herkunft, bei gleichen schulischen Leistungen und Schulnoten wie Kinder niedrigerer sozialer Herkunft, einfacher eine Lehrerempfehlung für den akademischen Bildungszweig erhalten und häufiger an der nächsthöheren Bildungsinstitution aufgenommen werden. Für diese Bevorzugung von Kindern aus Familien mit höheren Herkunftsressourcen gibt es mindestens drei Gründe (Ditton, 2010):
(a) Generell bescheinigen Lehrer Kindern aus Familien mit besseren Herkunftsressourcen höhere schuladäquate nicht-kognitive Fähigkeiten (Erikson & Jonsson, 1996b). Es scheint also so zu sein (wie von Bourdieu (1973) beschrieben), dass höhergebildete Eltern ihre Kinder mit einem kulturellen Kapital ausstatten welches sie im Schulkontext erfolgreicher sein lässt.
(b) Grundschullehrer unterstellen bessergebildeten Eltern, dass sie eher in der Lage sind ihre Kinder bei Problemen auf der höheren Schule zu unterstützen. Folglich schreiben sie diesen Kindern höhere Erfolgswahrscheinlichkeiten im Hinblick auf deren Bildungskarriere zu.
Und (c) üben besser gebildete Eltern generell mehr Druck auf Lehrer und Bildungsinstitutionen aus, falls dies aus ihrer Sicht nötig sein sollte. (Blossfeld et al. 2019, S. 23)
Blossfeld, H.-P., Blossfeld, G. J. & Blossfeld, P. N. (2019). Soziale Ungleichheiten und Bildungsentscheidungen im Lebensverlauf. Die Perspektive der Bildungssoziologie. Journal for educational research online 11 (1), 16–30.
Siehe auch
https://paedagokick.de/2017/06/01/sichtweisen-7-du-wirst-mal-uebergetreten/