Sichtweisen #15: Schulpolitische Großwetterlage

Kürzlich habe ich für ein Elternseminar einen Vortrag zur “schulpolitischen Großwetterlage” gehalten, der verschiedene Themen dieses Blogs in einer Präsentation bündelt. Hier ist sie.

Deutschland ist auf dem Weg in ein zweigliedriges Schulsystem,

bestehend aus dem Gymnasium…

effner

und einer Schule für Alle.

Konstanz

Der Überblick über die aktuelle Entwicklung zeigt, dass jedes Bundesland bereits eine Schulform hat, in der entweder der Haupt- und Realschulbildungsgang oder alle drei Bildungsgänge (HS, RS, Gymnasium) zusammengefasst werden. Eine Ausnahme bildet nur Bayern, das die Schulformen des längeren gemeinsamen Lernens nicht nur ablehnt, sondern auch schon jeden Schulversuch in dieser Richtung blockiert.

Natürlich sind es nicht “die Bayern”, die die Gemeinschaftsschule meiden wie der Teufel das Weihwasser, sondern die schulpolitisch bestimmenden Akteure: Kultusminister + Staatssekretäre, CSU + Fraktion, Philologenverband und Gymnasialelternverband, Realschullehrerverband und Realschulelternverband.

Deutschland

Dabei könnten doch auch diese Akteure inzwischen erkannt haben:

International ist das längere gemeinsame Lernen der (gut funktionierende) Normalfall

Das zeigt dieser Blick auf die Ergebnisse von PISA 2012 zum problemlösenden Denken. Ich habe in diesem Diagramm die Rangfolge der Spitzengruppe mit dem Aufteilungsalter der Schüler in Verbindung gebracht:

PISA2012

Sehr zurückhaltendes Fazit: Ein längeres gemeinsames Lernen ist zumindest kein Leistungshindernis. Dies jedoch wird allenthalben von den Gegnern der despektierlich so genannten “Einheitsschule” behauptet, soweit ich erkennen kann, ohne wissenschaftlichen Nachweis.

Zur Verteidigung des “differenzierten” Schulsystems in Bayern – ich spreche lieber vom selektiven Schulsystem – wird immer wieder die Behauptung aufgestellt, dass die Bayern ja eh die Besten sind. Dieser Behauptung gehe ich jetzt nach.

Sind die bayerischen Schüler in Deutschland wirklich die Besten?

Ich habe hier einen Überblick zusammengestellt über die Ländervergleiche und Bildungstrends der letzten Jahre. Dieser Blick zeigt uns…

LV und BT

Stimmt! Die bayerischen Schüler sind durchwegs in der Spitzengruppe.

Aber das sind auch die Sachsen und die Thüringer. Und wie der Länderüberblick oben bereits zeigte, haben diese beiden Bundesländer auch Schulen des längeren gemeinsamen Lernens:

  • Sachsen: Mittelschule + Gymnasium;
  • Thüringen: Regelschule + Gesamtschule + Gemeinschaftsschule + Gymnasium

Und diese integrierten Schulformen haben die Schüler der beiden Länder zumindest nicht daran gehindert Spitzenleistungen zu zeigen. Aus bayerischer und CSU-Sicht müsste man formulieren: Obwohl es dort Einheitsschulen gibt, zeigen die Kinder tolle Leistungen. Aus einer anderen Perspektive könnte man den Bayern sagen: Wenn die Kultusbürokratie und die Lehrer willens und clever genug sind, funktioniert die Schule für Alle prächtig.

Aber diese Übersicht zeigt noch ein Zweites, das durch den Bildungstrend 2017 ebenfalls bestätigt wurde: Wenn man die Viertklässler in den Blick fasst, dann sind die bayerischen Schüler top! Achtung: Das sind die Kinder, die vier Jahre Gemeinschaftsschule hinter sich haben, denn die bayerische Grundschule ist nun mal eine sehr heterogene Schule für Alle!

Es funktioniert also nachweislich auch in Bayern bis einschließlich 4. Klasse gut, danach wird es wohl für ein entwicklungspsychologisch und pädagogisch ungeschriebenes Gesetz gehalten, die Schüler selektieren zu müssen. Die wissenschaftliche Evidenz scheint mir doch klar in eine andere Richtung zu gehen, aber dazu weiter unten noch mehr.

Zunächst mal folgende Frage:

Bayerische Schüler gehören immer  zur Spitzengruppe – warum sollte man am System etwas ändern?

Aus meiner Sicht gibt es eine Menge guter Gründe, die Selektion abzuschaffen: Sie verursacht unnötigen Stress, weil sie gerade das nicht schafft, was sie zu erreichen vorgibt. Diese Behauptung belegen die folgenden Ausführungen.

Grund 1: Die Selektionsentscheidung in der 4. Klasse verursacht Stress: den Schülern, den Eltern, den Lehrkräften.

Es gibt zu diesem Zusammenhang eine aufschlussreiche Untersuchung der Uni Würzburg, in der die Übertrittsregelungen von Hessen und Bayern im Hinblick auf ihr Stresspotenzial verglichen wurden. Ich zitiere:

Die schriftliche Befragung von 1.620 Eltern aus den Bundesländern Bayern und Hessen zeigt dabei, dass

  • die an Schulnoten gekoppelte und bindende Übertrittsregelung in Bayern zu einer höheren Stressbelastung bei Kindern führt als die hessische Form der beratenden Übertrittsempfehlung…
  • Eltern durch überzogene und unrealistische Bildungserwartungen die Stressbelastung für ihre Kinder nochmals erhöhen und hierdurch zur Gefährdung ihrer Kinder beitragen.
  • die Grundschulkinder in Bayern, die an der Notenschwelle zwischen Mittel- und Realschulempfehlung liegen, eine erhebliche Risikogruppe darstellen. Die SchülerInnen weisen nicht nur die höchsten Stresswerte auf, sie sind auch die einzigen SchülerInnen, bei denen der Stress von der dritten zur vierten Klasse dramatisch ansteigt. (Reinders et al. 2015, S. 4)

Reinders, H., Ehmann, T., Post, I. & Niemack, J. (2015). Stressfaktoren bei Eltern und Schülern am Übergang zur Sekundarstufe. Abschlussbericht über die Elternbefragung in Hessen und Bayern 2014 (Lehrstuhl Empirische Bildungsforschung der Julius-Maximilians-Universität Würzburg, Hrsg.) (Schriftenreihe Empirische Bildungsforschung Nr. 33), Würzburg.

Zum Stress für Lehrer folgt unten noch ein Hinweis.

Man könnte diesen nachgewiesenen Stress ja noch hinnehmen, wenn er zu einem guten Zweck durchlaufen werden muss. Aber gerade das ist eben nicht der Fall, was jetzt zu beweisen sein wird:

Grund 2: Die Selektionsentscheidung in der 4. Klasse leistet genau das nicht, was sie erreichen soll, nämlich eine Aufteilung nach Leistung.

Wir betrachten ein Ergebnis der Länderauswertung von PISA 2000, das die mathematische Leistung der 15-Jährigen vergleicht.

pisaDer türkisfarbene Graph zeigt die Leistungsverteilung der Gymnasiasten, der dunkle gibt die Realschüler wieder, der hellgraue die Hauptschüler.

Es wird deutlich, dass es zwischen den Schularten große Überlappungen gibt; so ist etwa die bessere Hälfte der Hauptschüler in Mathe genauso gut wie die schlechtere Hälfte der Realschüler. Wenn man sich die Überschneidung aller drei Schularten ansieht, dann erkennt man: Das schwächste Viertel der Gymnasiasten zeigt dieselben Leistungen wie das beste Viertel der Hauptschüler.

Um nur ein Zitat unter vielen möglichen auszuwählen, die das Kopfschütteln der Bildungsforscher angesichts dieser mittlerweile offensichtlichen Tatsache zum Ausdruck bringen:

Die Leistungen der Kinder, die für unterschiedliche Sekundarschularten empfohlen werden, streuen jeweils über drei Kompetenzstufen hinweg.

Daraus folgt: Dem deutschen Bildungssystem gelingt nicht die beabsichtigte Form der Auslese, die Grundlage des dreigliedrigen Schulsystems ist: Kinder nach Leistung zu sortieren, so dass homogene Gruppen in den weiterführenden Schulen entstehen (Valtin 2005, S. 245)

Valtin, R. (2005). Länger gemeinsam lernen – eine notwendige, aber nicht hinreichende bildungspolitische Forderung, DIPF. http://​www.pedocs.de​/​volltexte/​2010/​1438/​pdf/​laenger_​gemeinsam_​lernenD_​A.pdf.

Ähnliche Ergebnisse wurden durch die Logikstudie zutage gebracht. Dabei ging es um die sprachliche Intelligenz. Auch hier zeigt das Ergebnisdiagramm einen riesigen Überschneidungsbereich:

stern_intelligenz0001

Schüler mit der gleichen sprachlichen Intelligenz landen manchmal auf dem Gymnasium, manchmal nicht. Und das, obwohl doch gerade die Sprache ein wesentliches Kriterium für die gymnasiale Eignung darstellt.

Man muss sich also fragen: Warum landen die einen im Gymnasium und die anderen, gleich leistungsfähigen, auf der Hauptschule?

Elsbeth Stern formuliert die Problematik mit diesen Worten:

„Gehen wirklich die Intelligentesten auf das Gymnasium?“

„Es gibt sehr intelligente Kinder, die keine Gymnasialempfehlung bekommen. Auf der anderen Seite  geht offensichtlich eine nicht unbedeutende Zahl von Kindern mit einem klar unterdurchschnittlichen IQ auf das Gymnasium.“

„Es zeigt sich gerade für Bayern sehr deutlich: Die Wahrscheinlichkeit, dass bei gleicher Leistung ein Akademikerkind eine Gymnasialempfehlung bekommt, ist sechsmal höher als für ein Nicht-Akademikerkind.“

Elsbeth Stern/Aljoscha Neubauer: Intelligenz. Große Unterschiede und ihre Folgen, München 2012 (DVA), S.250f

Es ist offensichtlich, dass hier noch andere Kriterien eine heimliche Rolle spielen. Eines wurde in diesen Zitaten bereits angedeutet: die Herkunft. Es sei an dieser Stelle noch einmal die Würzburger Forschergruppe zitiert:

Deutschland ist international eines der wenigen Länder, die sich überhaupt noch ein dreigliedriges Schulsystem leisten und die so früh ihre SchülerInnen in unterschiedliche Bildungswege selektieren.

Dabei ist eines der Hauptargumente gegen die Selektion, dass diese nicht leistungsfair, sondern nach Sozialstatus der Eltern, Geschlecht und sozio-regionaler Zugehörigkeit erfolgt.

So haben Kinder aus Akademikerfamilien in Bayern eine 6-fach höhere Chance auf den Gymnasialübertritt als Kinder aus Arbeiterfamilien.

In keinem Bundesland ist dieser Zusammenhang von Herkunft und Bildungszuweisung derart hoch. (Reinders et al. 2015, S. 21)

Grund 3: Die Selektionsentscheidung am Ende der vierten Klasse wird stark durch Herkunftseffekte beeinflusst.

Auf der Grundlage von IGLU 2006 wurde ein Zusammenhang festgestellt zwischen den elterlichen Erwartungen und den Empfehlungen der Grundschullehrkräfte. Zahlreiche Eltern mit einem hohen sozioökonomischen Status erwarten häufig bereits dann eine Gymnsialempfehlung, wenn die Leistungsfähigkeit ihres Kindes noch unter der zu erreichenden Schwelle liegt, und viele Lehrkräfte reagieren auf diese Erwartungen auch positiv. Bei Familien aus einfacheren Verhältnissen ist es gerade umgekehrt:

IGLU_2012

Quelle: Baur, C. & Häussermann, H. (2009). Ethnische Segregation in deutschen Schulen. Leviathan 37 (3), 353–366. doi:10.1007/s11578-009-0053-2

Die elterlichen Erwartungen verursachen vielen Lehrkräften Stress, besonders in Bayern:

Eine hohe Belastung geht auch von der Verantwortung aus, welche die Lehrkräfte in der vierten Klasse verspüren. Die Selektion wird als „viel zu frühe Teilung“ und „schreckliches Aussieben“ wahrgenommen, bei der man sich „in jungen Jahren schon so schwerwiegend festlegen muss“ (BY, 3092, W1).

Die Durchlässigkeit des Schulsystems wird überwiegend als gering eingeschätzt, was ihre Entscheidung noch bedeutsamer macht. Die Lehrkräfte, die sich von den Eltern unter Druck gesetzt fühlen, unterrichten überwiegend in Bayern, wo eine restriktive Notenvorgabe den Übergang bestimmt.

Pohlmann-Rother, Sanna (2010): Die Herausbildung der Übergangsempfehlung am Ende der Grundschulzeit. In: Zeitschrift für Grundschulforschung 3 (2), S. 143.

Für die beschriebenen Zusammenhänge existieren zahlreiche Belege, die mit vielen Zitaten beschrieben werden können. Hier nur ein Zitat von Prof. Renate Valtin (Humboldt Universität Berlin), das den Sachverhalt pointiert zum Ausdruck bringt und von einer Herkunftselite statt Leistungselite spricht:

Diese Zahlen belegen, dass wir in Deutschland keine leistungsgerechte Zuweisung zu den weiterführenden Schulen haben.

Wir haben keine Leistungs-, sondern eine Herkunftselite, ein Befund, der in eklatanter Weise die strengen Vorgaben der Kultusministerkonferenz verletzt:

‚Jedem Kind muss – ohne Rücksicht auf Stand und Vermögen der Eltern – der Bildungsweg offen stehen, der seiner Bildungsfähigkeit entspricht‘ (KMK 2010). (Valtin 2012, S. 172).

Valtin, R. (2012). Auf dem Weg zu einer besseren Schule – bildungspolitische Folgerungen aus der 2. Jako-o Bildungsstudie, in Killius, Dagmar, Tillmann, Klaus-Jürgen (Hg): Eltern ziehen Bilanz. Ein Trendbericht zu Schule und Bildungspolitik in Deutschland, Waxmann.

Grund 4: Die Übertrittsentscheidung wird durch simple Alterseffekte beeinflusst.

Dieses Diagramm zeigt die Altersstruktur einer von mir zufällig ausgewählten vierten Klasse. In dieser Klasse ist liegen zwischen ältestem und jüngstem Schüler 18 Monate, also 1,5 Jahre. In anderen Klassen ist der Altersunterschied unter Umständen noch größer. Aber alle Kinder werden über einen Kamm geschoren, wenn es um den Übertritt geht – die gleichen Probearbeiten und Notenhürden für alle.

Alter_Jgst4

Auch dieser Zusammenhang wurde bereits untersucht. Zwei Mitarbeiter des ifo-Instituts für Wirtschaftsforschung kommen dabei zu folgenden Ergebnissen:

  • Relativ ältere Kinder zeigen bessere Leistungen.
  • Elf Monate Altersunterschied führen zu einer um 10 Prozent höheren Wahrscheinlichkeit für eine Gymnasialempfehlung.
  • Besser wäre es, die Kinder gar nicht aufzuteilen oder wenigstens zu einem späteren Zeitpunkt.

Relatively older children are relatively more mature, perform better in school and have a higher level of social competence.

Using data from the German PISA-E study, we find that an eleven month difference in assigned relative age is associated with a ten percentage point difference in receiving a Gymnasium recommendation in grade 4 and a six percentage point difference in actually attending Gymnasium in grade 9. This is the net birthday effect observed in the German school system.

A solution often proposed to the problem of age biased recommendations is to abandon the current form of the tracking system altogether or track children at a later age, as is common practice in other countries. As was discussed above, such a regime change might not only reduce educational inequality but also increase aggregate performance.

Literaturverzeichnis
Jürges, H. & Schneider, K. (2007). What Can Go Wrong Will Go Wrong: Birthday Effects and Early Tracking in the German School System. SSRN Electronic Journal. doi:10.2139/ssrn.1445364; S. 20-21

Grund 5: Die Eltern würden einen späteren Separationszeitpunkt wählen.

Vielen Eltern ist die Problematik des Übertritts bewusst, zum Teil auch deshalb, weil sie sie mit ihren Kindern bereits durchlebt haben oder sich mitten drin befinden. Wenn sie zu bestimmen hätten, dann würde der Zeitpunkt zwei oder mehr Jahre nach hinten verlegt. Hier das Ergebnis einer Emnid-Untersuchung im Auftrag von Jako-o:

Jako-o

Die zentralen Strömungen in der schulpolitischen Großwetterlage: selektiv versus inklusiv

Als Exponenten des jeweiligen Systems könnten wir Finnland für inklusiv und Bayern für selektiv nehmen.

Betrachten wir zunächst einen Mechanismus der Selektion – das Wiederholen einer Jahrgangsstufe, umgangssprachlich auch “Sitzenbleiben” genannt. Das Statistische Bundesamt hat die Jahrgänge 2004/05 mit 2014/15 verglichen und festgestellt,

  • dass in keinem Bundesland der Wiederholeranteil so groß ist wie in Bayern.
  • dass die ähnlich erfolgreichen Länder Sachsen und Thüringen nicht nur eine niedrigere Wiederholerquote haben als Bayern, sondern ihre Quote auch noch senken konnten – ohne Qualitätsverlust!
  • dass Sitzenbleiben volkswirtschaftlich teurer kommt als Förderung von schwächelnden Schülern.

wiederholer

Ein weiterer Selektionsmechanismus ist “Abschulung” von einer “höheren” Schulform auf eine “niedrigere”. Hier ist eines der wichtigen Ergebnisse von PISA 2010:  Wiederholung und Abschulung machen ein Schulsystem nicht besser, eher im Gegenteil:

In Ländern und in Schulen innerhalb einzelner Länder, in denen mehr Schülerinnen und Schüler Klassen wiederholen, sind die Gesamtergebnisse in der Regel schlechter.

In Ländern, in denen mehr Schülerinnen und Schüler Klassen wiederholen, sind die Leistungsunterschiede zwischen verschiedenen sozioökonomischen Gruppen in der Regel größer, was darauf hindeutet, dass Personen mit ungünstigerem sozioökonomischem Hintergrund mit höherer Wahrscheinlichkeit negativ von Klassenwiederholungen betroffen sind.

In Ländern, in denen die 15-Jährigen auf der Basis ihrer Fähigkeiten auf eine größere Zahl verschiedener Bildungszweige verteilt sind, ist die Gesamtleistung deshalb nicht besser, und je früher die erste Aufteilung auf diese verschiedenen Zweige stattfindet, desto größer sind im Alter von 15 Jahren die Unterschiede bei den Schülerleistungen nach sozioökonomischem Hintergrund, ohne dass deswegen die Gesamtleistung steigen würde.

In Schulsystemen, in denen es üblicher ist, leistungsschwache oder verhaltensauffällige Schülerinnen und Schüler abzuschulen, sind sowohl die Leistungen als auch die Chancengerechtigkeit tendenziell niedriger. (OECD 2010, S. 18)

OECD. (2010). PISA 2009 Ergebnisse: Zusammenfassung, OECD. http://​www.oecd.org​/​pisa/​pisaproducts/​46619755.pdf. Zugegriffen 03.09.2014.

Selektive Schulsysteme folgen immer noch dem Ideal der homogenen Zusammensetzung von Schulklassen oder Schulformen insgesamt. Dieses Ideal hat sich nicht nur verfahrensmäßig als unerreichbar, sondern auch pädagogisch als Illusion herausgestellt. Folgendes schreibt der Bielefelder Erziehungswissenschaftler Klaus-Jürgen Tillmann dazu:

Vom ersten Schultag an greifen in unserem Schulsystem institutionelle Maßnahmen, die auf die Sicherung einer fiktiven Homogenität ausgerichtet sind. Die meisten dieser Maßnahmen funktionieren als Ausschluss der jeweils Leistungsschwächeren. Produziert werden damit Erfahrungen des Versagens, des Nichtkönnens, des Ausgeschlossenwerdens – und dies in einem Ausmaß wie wohl in keinem anderen Schulsystem der Welt. (Tillmann 2007, S. 7)

Diese Vorstellung, man müsse Heterogenität reduzieren, müsse sich der Homogenität zumindest annähern, fordert sehr viele Opfer. Und das Ziel, Kindern bei Lernschwierigkeiten zu helfen, wird dabei weitgehend verfehlt. (Tillmann 2007, S. 8–9)

Die These, dass in leistungshomogenen Gruppen insgesamt bessere Leistungsergebnisse erzielt werden als in leistungsheterogenen, wurde in der empirischen Forschung durchgängig nicht bestätigt.

Die zentrale Legitimationsthese unseres gegliederten Schulsystems wird damit empirisch nicht gestützt. Die internationalen PISA-Ergebnisse haben dies noch einmal sehr deutlich gemacht. (Tillmann 2007, S. 11)

Tillmann, K.-J. (2007, März). Kann man in heterogenen Lerngruppen alle Schülerinnen und Schüler fördern? Der Blick der Bildungsforschung in das Regelschulsystem. Symposion “Fördern und Fordern – Unterschiede sehen, akzeptieren , nutzen”, Köln.

Um den Erfolg des inklusiven Schulsystems zu illustrieren – von Beweis kann man hier noch nicht sprechen, werfen wir einen Blick auf den Abschlussjahrgang der Gemeinschaftsschule Gütersloh-Langenberg:

  • 71 Prozent der Abschlussschüler haben ihre Eingangsprognose laut Einschätzung der Grundschullehrkräfte vor sechs Jahren um eine Stufe übertroffen.
  • 44 Prozent haben sie sogar um zwei Stufen übertroffen.
  • Jeder zweite kann nun nahtlos in die Oberstufe eines Gymnasiums, Berufskollegs oder einer Gesamtschule wechseln, um dort an seinem Abitur zu bauen.

Der Erfolg inklusiver Schulsysteme erweist sich auch in Finnland. Und er zeigt sich auch darin, dass die Herkunftseffekte weitaus weniger durchschlagen als in Bayern. Betrachten wir folgende Grafik mit PISA-Lese-Ergebnissen:

PISA_Lesen

Die finnischen Schülerinnen und Schüler zeigen nicht nur eine überdurchschnittliche Leseleistung im Bereich der OECD-Staaten, sondern auch einen weit unterdurchschnittlichen Einfluss des familiären Hintergrundes auf diese Leistung. Das ist in Deutschland bei durchschnittlichen Leseleistungen anders.

In Summe

Wir bewegen uns in Bayern in einem selektiven Schulsystem,

  • dessen Ausleseinstrumente (Übertritt, Wiederholung, Abschulung) sich als weitgehend untauglich erwiesen haben;
  • das Herkunftseffekte nicht aufhebt, sondern eher verfestigt;
  • das die Leistungsschere weiter auseinander spreizt;
  • das ein Ziel verfolgt (Homogenität), das pädagogisch stark umstritten ist
  • und das aus diesen Gründen viel unnötigen Stress und Leid verursacht.

Eigentlich sollten derlei Erkenntnisse dem selektiven Schulsystemen einen Todesstoß versetzen – allein: seine Akteure verfügen über so viel Einfluss, dass sie die wissenschaftlichen Fakten einfach ausblenden können.

 

 

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