Faktencheck #62: Schulschließungen schaden schwachen Schülern

“Jetzt wird die Leistungsschere noch weiter auseinander gehen.” Mit diesen Worten verabschiedete sich der Klassenlehrer unserer Abschlussklasse sorgenvoll in die Osterferien. Er dachte dabei an seine Zehntklässler und deren unterschiedliches häusliche Umfeld: Eine Schülerin musste sich mit einem alten Schullaptop begnügen; andere sind auf sich alleine gestellt, weil die Eltern des Deutschen nicht so mächtig sind wie sie selbst. Eine Untersuchung des DIW Berlin wirft ein paar Schlaglichter auf die aktuelle Lage.


Huebener, M. & Schmitz, L. (2020, 06. April). Corona-Schulschließungen: Verlieren leistungsschwächere SchülerInnen den Anschluss? (DIW aktuell Nr. 30), Berlin.


Worauf es zuhause ankommt

Diese Analyse zeigt, dass sich Schulkinder je nach Leistungsniveau signifikant in der schulischen Motivation, den häuslichen Bedingungen und in den Unterstützungsmöglichkeiten durch die Eltern unterscheiden. Da es auf diese Faktoren für den Lernerfolg in der derzeitigen Situation stärker denn je ankommt, drohen Bildungsungleichheiten und Leistungsunterschiede noch zuzunehmen. Etwa, wenn leistungsschwächere SchülerInnen weniger motiviert sind und schlechtere häusliche Lernbedingungen vorfinden. (Huebener und Schmitz 2020, S. 1)

Anlage der Befragung

Für die nachfolgende Analyse wurden Daten des Sozio-oekonomischen Panels (SOEP) verwendet. In dieser wiederholten repräsentativen Haushaltsbefragung werden Eltern, insbesondere Mütter, zu den schulischen Leistungen ihrer Kinder, der Schulmotivation, der Unterstützung bei den Hausaufgaben und zu Aspekten der häuslichen Lernumgebung befragt. Den Analysen liegen Aussagen zu 2.167 neunund zehnjährigen Kindern zugrunde, die in den Jahren 2015 bis 2018 erhoben wurden. (Huebener und Schmitz 2020, S. 2)

Die beiden Vergleichsgruppen

Verglichen werden zwei Gruppen von SchülerInnen, leistungsstärkere und leistungsschwächere. Anhand der durchschnittlichen Schulnote in den Fächern Deutsch und Mathematik gelten SchülerInnen mit einer Durchschnittsnote von 1 bis 2 als leistungsstärker und SchülerInnen mit einem Notendurchschnitt darüber als leistungsschwächer (der Median der Durchschnittsnoten ist 2). (Huebener und Schmitz 2020, S. 2)

Wie sieht die unterschiedliche Motivation aus?

Die beiden folgenden Diagramm sprechen für sich selbst.

Quelle: DIW aktuell, Nr. 30, S.3

Wie sieht das unterschiedliche häusliche Umfeld aus?

DIW aktuell, Nr. 30, S. 4


Welche Folgen werden sich vermutlich einstellen?

Bei der Wiederaufnahme des Schulbetriebs werden sowohl LehrerInnen als auch SchülerInnen vor einer großen Herausforderung stehen – denn dann gilt es, Inhalte aufzuholen. Eine vorübergehende Erhöhung der Schulstunden wäre eine Möglichkeit, aber das allein wird nicht reichen. Die G8-Reform hat gelehrt, dass eine Komprimierung der Lehrinhalte die Leistungsunterschiede zwischen leistungsstärkeren und leistungsschwächeren GymnasiastInnen verstärkt hat. Leistungsschwächere SchülerInnen haben größere Probleme, bei einer schnellen Abfolge des Lehrplans Inhalte zu verarbeiten. Es sollte also auch davon ausgegangen werden, dass Lernziele insbesondere von Leistungsschwächeren häufiger nicht beziehungsweise nicht in vollem Umfang erreicht werden. Andere Forschungsarbeiten zeigen zudem, dass Leistungsunterschiede im weiteren schulischen Werdegang eher noch weiter zunehmen. (Huebener und Schmitz 2020, S. 5)

Ein Lösungsvorschlag: Sommerakademien

Da nicht abzusehen ist, ob die Schulen nach den Osterferien wieder öffnen, sollten verschiedene Szenarien berücksichtigt werden, um allen Kindern erfolgreiches Lernen zu ermöglichen und Leistungsschwächeren besondere Unterstützung anzubieten. Öffnen die Schulen nach den Ferien wieder, wären kostenlose Lernangebote in den Sommerferien und Nachhilfeoptionen im Sinne von Sommerakademien (gegebenenfalls über E-Learning) durchaus sinnvoll, um Kindern individualisierte Angebote zum Aufholen zu unterbreiten. (Huebener und Schmitz 2020, S. 5)

Kontrast

Eine Alternative zu den Sommerakademien hat Heinz-Peter Meidinger, der Präsident des Deutschen Lehrerverbandes der BILD-Zeitung in die Tasten diktiert:

„Der Deutsche Lehrerverband rät betroffenen Eltern und Schülern, insbesondere wenn die bisherigen Leistungen sehr schlecht waren, ernsthaft zu prüfen, ob nicht ein freiwilliges Wiederholen sinnvoller ist, als mit massiven Wissenslücken aufzurücken.“

In einem selektiven Schulsystem ist das anscheinend das Mittel der Wahl – oder eine spezielle Art von Förderung. Dabei ist das Sitzenbleiben – wie dieser Beitrag zeigt – nicht nur wirkungslos sondern auch teuer.

Einen anderen Ansatz hat Sabine Fleischmann, die Präsidentin des BLLV. Sie fragt angesichts des erzwungenen Lernmoratoriums nach dem Sinn des Ganzen:

Für die Schule müssen wir uns fragen: Ist effizienteres, schnelleres Lernen, mehr Wettbewerb und höherer Leistungsdruck wirklich das Ziel? Oder müssen wir nicht vielmehr den ganzen Menschen ins Blickfeld nehmen: sein emotionales, sein kognitives, sein praktisches Lernen ebenso wie eine klare Werteorientierung? Ist individueller Erfolg vorrangiges Ziel der Schule? Erfolg, der in unserem System immer auch Verlierer produziert?

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