Argumente #9: Für ein integriertes Schulsystem!

In diesem Artikel sind alle wesentlichen Punkte für eine Gemeinschaftsschule zusammengefasst. Wenn man sich die zu Herzen nimmt, weiß man Bescheid. Ich verlinke ihn hier noch als PDF.

Was spricht für ein integriertes Schulsystem?

Eine Betrachtung empirischer Befunde

TillmannDie Frage nach der Schulstruktur des allgemein-bildenden Schulwesens ist seit mehr als 100 Jahren ein bildungspolitischer »Dauerbrenner«. Ob es 1919 um die Einführung der 4-jährigen Grundschule oder 2010 um das Hamburger Volksbegehren gegen die 6-jährige Grundschule ging: Stets wurde um den Erhalt oder den Abbau von Bildungsprivilegien gekämpft, stets ging es dabei um die soziale Verteilung von Bildungschancen.

Prof. em. (Schulpädagogik) Dr. Klaus-Jürgen Tillmann, Universität Bielefeld

Einführung

Der nach PISA 2000 unternommene Versuch von Kultusministern und Bildungsforschern, die Schulstruktur-Diskussion als irrelevant zu erklären, ist weitgehend wirkungslos geblieben: Denn in mindestens acht der 16 Bundesländer hat es anschließend intensive Schulstrukturdebatten gegeben, die jeweils in eine gesetzliche Veränderung des Schulsystems einmündeten (vgl. Tillmann u.a. 2008; Tillmann 2012).
Welches Schulsystem das »bessere«, das »angemessenere«, das »leistungsfähigere« ist, lässt sich unter Berufung auf empirische Forschung allein nicht beantworten. Denn – wie Bromme/Prenzel (2014, S. 41) überzeugend ausgeführt haben, gibt es keine experimentelle Versuchsanordnung, die in einem gesellschaftliche-kulturellen Kontext »ein homogenes und ein heterogenes Schulsystem bei gleichzeitiger experimenteller Kontrolle weiterer Rahmenbedingungen« vergleichen kann. Das bedeutet jedoch nicht, dass empirische Befunde in diesem Kontext irrelevant sind. Wir finden dort sehr wohl Indikatoren für Probleme und für Effekte, die mit verschiedenen Schulsystemen verbunden sind. Nur bedürfen diese Befunde der pädagogischen und der soziologischen Interpretation – und die ist immer auch normativ eingebunden. Ich beziehe mich im Folgenden auf drei empirische Befunde dieser Art.

Schulstruktur und soziale Auslese

Ein hierarchisch gegliedertes Schulsystem – ob zwei-, drei- oder viergliedrig – ist stets auch ein Instrument der sozialen Auslese. Denn die soziale Herkunft bestimmt in hohem Maße mit, in welche Bildungsgänge die Kinder eingewiesen werden. Dabei gilt: Je früher die Aufteilung auf unterschiedliche Bildungsgänge erfolgt, desto stärker greift die soziale Benachteiligung. So wurde bei PISA 2003 ein deutlicher Zusammenhang aufgezeigt zwischen dem Lebensalter, in dem die Kinder auf verschiedene Schulformen aufgeteilt werden, und dem Maß der sozialen Selektivität in einem Schulsystem: Alle Länder, die ihre Kinder im 10., 11. oder 12. Lebensjahr auf die Schulformen eines gegliederten Systems verteilen, liegen in der sozialen Auslese über dem OECD-Durchschnitt; Deutschland und Österreich weisen dabei Spitzenwerte auf. Auf der anderen Seite liegen alle Länder, die ihre Kinder erst mit 15 oder 16 Jahren verteilen (z.B. Australien, Japan, Norwegen), deutlich unter dem OECD-Mittelwert der Selektivität (vgl. OECD 2004). Hieraus folgern Jürgen Baumert und Cordula Artelt: »Je früher Schülerinnen und Schüler auf unterschiedliche Bildungsgänge verteilt werden, desto kürzer wird das Zeitfenster, das für schulische Interventionen zum Ausgleich herkunftsbedingter Leistungsunterschiede zur Verfügung steht … Mit frühen Differenzierungsentscheidungen nehmen … die sozialen Disparitäten der Bildungsbeteiligung zu« (Baumert/Artelt 2003, S. 190). Und Baumert/Stanat/Watermann 2006 haben gezeigt, dass dies besonders scharf die Schüler/-innen trifft, die in eine Hauptschule mit Jahrgangsanteilen von 10 Prozent (und weniger) abgeschoben werden. Und trotz aller Entwicklungen zur Zweigliedrigkeit: Solche Hauptschulen existieren nach wie vor in Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen, Baden-Württemberg und Hessen – und damit etwa in der Hälfte der Republik. Aber auch das so gern positiv erwähnte zweigliedrige Schulsystem sortiert seine Schüler/-innen nicht nur nach Leistung, sondern auch nach sozialer Herkunft. Kai Maaz hat dies gerade in einer eindrucksvollen
Studie zur jüngsten Berliner Schulreform nachgewiesen (vgl. Maaz u.a. 2013). Es gilt halt die relativ alte Feststellung von Baumert, dass die soziale Segregation »eine unangenehme Folge des gegliederten Schulsystems (ist)« (Südd. Zeitung vom 6. 12. 2001). Ob man diese soziale Segregation in der herrschenden Ausprägung in Kauf nehmen will, ist keine empirische, sondern eine normative Frage. Ich bin dafür, die begünstigenden Faktoren für Chancenungleichheit so weit wie möglich abzubauen. Deshalb plädiere ich für ein eingliedriges, für ein integriertes Schulsystem.

Gemeinsames Lernen und fachliche Leistungen

Häufig wird an dieser Stelle eingewandt, dass längeres gemeinsames Lernen sich hinderlich bei der Entwicklung fachlicher Leistungen auswirke. Dass dies keinesfalls zwingend ist, zeigt schon der Blick auf die Schulsysteme anderer entwickelter Länder, die mit einem eingliedrigen Schulsystem sehr gute Leistungen erzielen – im »oberen« wie um »unteren« Bereich. Dies gilt seit PISA 2000 kontinuierlich z.B. für Japan und für Kanada. Zugleich gilt aber auch, dass eine solche nicht-selektive Schulstruktur keineswegs eine Garantie für gute Leistungen ist. Als Beispiele lassen sich hier die USA oder Italien nennen. Eine bestimmte Schulstruktur allein ist eben keine Garantie für eine gelingende Pädagogik, aber unterschiedliche Schulstrukturen schaffen dafür unterschiedliche Möglichkeitsräume.
Dass auch in Deutschland in einem eingliedrigen Schulsystem leistungsstarke Schüler/-innen sehr gut gefördert werden können, haben Baumert u.a. anhand von Lernverläufen in der 6-jährigen Berliner Grundschule nachgewiesen: Leistungsstarke Fünft- und Sechstklässler erreichen in der gemeinsamen Grundschule die gleichen Lernzuwächse wie vergleichbare Kinder, die bereits ab Kl. 5 ein Gymnasium besuchen (vgl. Baumert/ Becker/Neumann/Nikolova2009). Zugleich gilt, dass in heterogenen Lerngruppen lernschwache Schüler/-innen auf weit mehr Anregungspotenzial stoßen als in negativ ausgelesen Gruppen. Hier kann man schon bei Helmke/Weinert 1988 nachlesen, dass die Konzentration von Kindern »mit niedrigem sozio-ökonomischen Status, ungünstigen Milieubedingungen oder schwierigen Familienverhältnissen« (ebd.) ein erheblicher Risikofaktor für die Erbringung schulischer Leistungen ist. Und jedes gegliederte Schulsystem führt zu einer solchen Konzentration – das dreigliedrige stärker als das zweigliedrige. Auch wenn all diese Studien keine Kausalaussage über die Beziehung von Schulstruktur und fachlichen Leistungen liefern, so sind es doch empirische Indikatoren, die darauf verweisen, dass in einem heterogenen, einem eingliedrigen Schulsystem eine sehr gute Leistungsförderung von Schülern unterschiedlicher Fähigkeiten möglich ist. Im Übrigen gibt es in Deutschland eine große Zahl von Gesamtschulen, Gemeinschaftsschulen, Sekundarschulen etc., die hier eine beeindruckende Praxis entwickelt haben.

Zwang zur frühen Auslese

Und ein drittes, empirisch unterfüttertes Argument: Alle mehrgliedrigen Schulsysteme stehen unter dem Zwang, Kinder in relativ frühem Alter auf Schulformen mit unterschiedlichem Anspruchsniveau und unterschiedlichem Gratifikationspotenzial zu verteilen. Dies geschieht im deutschen Schulsystem überwiegend nach der 4. Klasse, also bei 10-Jährigen.
Seit Ingenkamps Forschung aus den 1970er Jahren ist empirisch immer wieder nachgewiesen worden, wie unsicher und fehlerhaft die damit verbundene individuelle Laufbahnprognose ist (vgl. 1972). Zugleich wurde empirisch immer wieder aufgezeigt, dass neben der Schulleistung die soziale Herkunft diesen Übergang massiv beeinflusst. Insbesondere im mittleren Leistungsbereich haben Kinder aus bildungsnahen Familien meist weit bessere Chancen als die anderen, auf ein Gymnasium zu kommen. Und auch eine Freigabe des Elternwillens löst dieses Problem nicht. Belege hierfür liefert z.B. die Hamburger KESS-Studie (vgl. Pietsch 2007) und der jüngste Beitrag von Theresa Büchler (2016).
Es kommt hinzu, dass diese Übergangsauslese für die beteiligten Lehrkräfte und Eltern extrem belastend ist, weil sie alle unter hohen Unsicherheitsbedingungen biografisch einschneidende Entscheidungen treffen müssen. Dass dies alles auch die 10-Jährigen unter massiven Druck setzt, darf nicht vergessen werden. Auf all dieses kann man verzichten, wenn man die Kinder länger in einer gemeinsamen Schule lernen lässt und
dort auf ihre unterschiedlichen Lernbedürfnisse mit differenzierendem und individualisierendem Unterricht eingeht.

Fazit

Ein nicht-selektives, ein eingliedriges Schulsystem ist aus meiner Sicht die pädagogisch vorzugwürdigere Variante, weil sie das Potenzial hat, die Förderung aller Schüler/-innen mit einem deutlich höheren Maß an Bildungsgerechtigkeit zu verbinden. »Optimale Förderung aller« und »Reduzierung von Bildungsbarrieren« lässt sich am ehesten in einem integrierten Schulsystem verwirklichen. Diese normative Position wird an den
entscheidenden Stellen durch Ergebnisse der empirischen Bildungsforschung gestützt – das habe ich gezeigt.
Nun weiß ich auch, dass in deutschen Landen das Gymnasium als unantastbar gilt und deshalb massive politische Widerstände gegen die gemeinsame Schule für alle bestehen. Und klar ist auch, dass nicht Erziehungswissenschaftler/-innen, sondern demokratisch legitimierte Politiker/-innen über die jeweiligen Schulstrukturen entscheiden.
In einer solchen Situation ist es aber die Aufgabe der Erziehungswissenschaft, den Status Quo nicht einfach hinzunehmen, sondern ihn mit wissenschaftlichen Mitteln zu kritisieren – und zugleich die Politik mit alternativen, mit möglicherweise besseren Lösungen zu konfrontieren.

Literatur
Baumert, J/Klieme, E./Neubrand, M./Prenzel, M./Schiefele, U./Schneider, W./Stanat, P., Tillmann, K.J./Weiß, M. (Hrsg.) (2001): PISA 2000. Basiskompetenzen von Schülerinnen und Schülern im internationalen Vergleich. Opladen: Leske und Budrich.
Baumert, J./Artelt, C. (2003): Bildungsgang und Schulstruktur. In: Pädagogische Führung, Heft 4, S. 188–192.
Baumer, J./Stanat, P./Watermann, R. (2006): Herkunftsbedingte Disparitäten im Bildungswesen: Differenzielle Bildungsprozesse und Probleme der Verteilungsgerechtigkeit. Vertiefende Analysen im Rahmen von PISA 2000. Wiesbaden: VS-Verlag.
Baumert, J./Becker, M./Neumann, M./Nikolova, R.(2009): Frühübergang in ein grundständiges Gymnasium – Übergang in ein privilegiertes Entwicklungsmilieu? Ein Vergleich von Regressionsanalyse und Propensity Score Matching. In: Zeitschrift für Erziehungswissenschaft, 12. Jg., Heft 2, S. 189–215.
Bromme, R., Prenzel, R./Jäger; M. (2014): Empirische Bildungsforschung und evidenzbasierte Bildungspolitik, Eine Analyse von Anforderungen an die Darstellung, Interpretation und Rezeption empirischer Befunde. In: Bromme, R./Prenzel, M. (Hrsg.): Von der Forschung zur evidenzbasierten Entscheidung. Die Darstellung und das öffentliche Verständnis der empirischen Bildungsforschung. Sonderheft 27 der Zeitschrift für Erziehungswissenschaft. Wiesbaden: VS-Verlag, S. 3–54.
Büchler, T. (2016): Schulstruktur und Bildungsgleichheit: Die Bedeutung von bundeslandspezifischen Unterschieden beim Übergang in die Sekundarstufe I für den Bildungserfolg. In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 68. Jg., S. 53–87.
Helmke, A./ Weinert, F.E. (1988): Bedingungsfaktoren schulischer Leistungen. In: Weinert, F. (Hrsg.): Psychologie des Unterrichts und der Schule, Göttingen: Hogrefe, S. 71–176.
Ingenkamp, K. (1972): Zur Problematik der Jahrgangsklasse. Weinheim: Beltz (2. Aufl.).
Klieme, E./Artelt, C./Harting, J./Jude, N./Köller, O./Prenzel, M./Schneider, W./Stanat, P. (Hrsg.) (2010): PISA 2009. Bilanz nach einem Jahrzehnt. Münster: Waxmann.
Maaz, K./Baumert, J./Neumann, M./Becker, M./Dumont, H. (Hrsg.): Die Berliner Schulstrukturreform. Bewertung durch die beteiligten Akteure und Konsequenzen des neuen Übergangsverfahrens von der Grundschule in die weiterführenden Schulen. Münster: Waxmann.
OECD: Co-operation and Development: Learning for Tomorrows World. First Results from PISA 2003. Paris: OECD 2004.
Pietsch, M. (2007): Schulformwahl in Hamburger Schülerfamilien und die Konsequenzen für die Sekundarstufe I. In: Bos, W./Gröhlich, C./Pietsch, M. (Hrsg.): KESS 4 – Lehr- und Lernbedingungen in Hamburger Grundschulen. Münster: Waxmann, S. 127–166.
Prenzel, M./Baumert, J./Blum, W./Lehmann, R./Leutner, D./Neubrand, M./Pekrun, R./Rolff, H.G./Rost, J./Schiefele, U. (Hrsg.)(2005): PISA 2003: Der Bildungsstand der Jugendlichen in Deutschland – Ergebnisse des zweiten internationalen Vergleichs. Münster: Waxmann.
Prenzel, M./Sälzer, C./Klieme, E./Köller, O. (Hrsg.)(2013): PISA 2012. Fortschritte und Herausforderungen. Zusammenfassung. Münster/W.: Waxmann.
Tillmann, K.J./Dedering, K./Kneuper, D./Kuhlmann, C./Nessel. I. (2008): PISA als bildungspolitisches Ereignis. Fallstudien in vier Bundesländern. Wiesbaden: VS-Verlag.
Tillmann, K.J. (2012): Das Sekundarschulsystem auf dem Weg in die Zweigliedrigkeit. Historische Linien und aktuelle Verwirrungen. In: Pädagogik, 64. Jg., Heft 5, S. 8–12.
Quelle: Zeitschrift: SchulVerwaltung HE/RP Autor: Prof. Dr. Klaus-Jürgen Tillmann
Rubrik: Im Blickpunkt / Integriertes Schulsystem Referenz: SchVw HE/RP 2017, 196 - 198
(Ausgabe 7-8)

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