Heute habe ich erfahren, dass Jonas Lanig gestorben ist – ein Mensch, den ich nur zwei Jahre kannte, der mir in dieser Zeit aber sehr wichtig geworden ist.
Jonas war ein kritisch und spritzig denkender Lehrer, der Jahre lang der Aktion Humane Schule vorstand und einige interessante Bücher auf den Weg gebracht hat, zum Beispiel dieses hier mit dem Videoblogger LeFloid:
Oder auch das hier: “Wofür Deutschlands Lehrer brennen”.
Um zu zeigen, wie klar er die Schwächen des segregierenden Schulsystems erkannte, welche (Aus)Wege er sah, und um ihm eine dauerhafte Stimme zu geben, zitiere ich hier einen Text, den er als Protokoll für die “Himmelfahrtsklausur” verfasst hat, das ist ein jährliches Treffen von reformwilligen Pädagoginnen und Pädagogen aus vielen Teilen Deutschlands. Danach kopiere ich noch zwei Nachrufe auf diese Seite.
ETHOS UND KAIROS
Die Vorstellung einer gemeinsamen Schule für Alle befindet sich derzeit in einer tiefgreifenden Akzeptanzkrise. Diese Krise zeigt sich an der Verfestigung selektiver Schulstrukturen, an der Aufweichung der pädagogischen Inklusion und in einer Infragestellung des öffentlichen Schulwesens. Es fehlt an einer Strategie, wie die Akzeptanzkrise überwunden und wie das bestehende Schulwesen Schritt für Schritt umgebaut werden kann.
- Die Widerstände verorten
Wer ein integratives Schulwesen durchsetzen möchte, hat sich mit zahlreichen Widerständen auseinanderzusetzen. Diese Widerstände gilt es zu identifizieren und gesellschaftlich zu verorten. Deshalb hat allen strategischen Überlegungen eine sorgfältige „Feindbeobachtung“ vorauszugehen. Dabei fällt auf, dass
- viele Lehrkräfte an einer Verschärfung selektiver Strukturen interessiert sind. Sie beklagen einen allgemeinen Leistungsabfall, hadern mit offenen Unterrichtsformen und beteiligen sich nur halbherzig an den Bemühungen um ein inklusives Schulwesen. Aus solchen Widerständen speist sich ein restauratives Netzwerk der pädagogisch Abgehängten, das inzwischen über organisatorische und kommunikative Strukturen verfügt.
- manche Eltern den Lehrkräften auf diesem Weg folgen. Sie bringen sich in deren Netzwerk ein und beharren auf dem Vorrang des Elternwillens – zum Beispiel, wenn es um den Besuch der Förderschule geht.
- die mediale Öffentlichkeit an den Auswirkungen eines selektiven Schulwesens nur bedingt interessiert ist und sich stattdessen lieber mit Randthemen wie der Gewalt gegen Lehrkräfte oder den antisemitischen Äußerungen muslimischer Schüler beschäftigt.
- die Politik jeden Wechsel der Mehrheitsverhältnisse zu einem grundlegenden Roll Back nutzt und keine politische Partei daran interessiert ist, die bestehenden Schulstrukturen in Frage zu stellen.
- die Wirtschaft wider besseres Wissen am Prinzip der schulischen Selektion festhält, weil sie den vermeintlichen „Akademisierungswahn“ fürchtet und sich davon eine Zuspitzung des Fachkräftemangels erwartet.
- dass es in Deutschland am kulturellen Nährboden fehlt, um eine gemeinsame Schule für Alle durchzusetzen. So stehen diesem Projekt zum Beispiel eine anti-egalitäre Tradition oder eine „Herrschaft des Vertrauten“ entgegen.
- Die Gunst des Kairos nutzen
Die Idee einer Schule für Alle wird sich nur durchsetzen lassen, wenn die Zeit dafür reif ist und wenn darüber ein gesellschaftlicher Konsens besteht. Es bedarf deshalb eines Moments der krisenhaften Zuspitzung – eines Kairos in der Tradition des antiken Denkens. Es kann dabei nicht darum gehen, in einem Zustand des Abwartens zu verharren. Stattdessen müssen solche krisenhaften Symptome aufgedeckt, muss für sie ein bildungspolitischer Handlungsbedarf eingeklagt werden. Beispielhaft ist in diesem Zusammenhang daran zu erinnern, dass
- es die allgemeine Verunsicherung im Zusammenhang mit der ersten PISA-Studie erst möglich gemacht hat, auf die bestehende Bildungsungerechtigkeit in Deutschland hinzuweisen und entsprechende Gegenmaßnahmen einzufordern.
- erst durch den Beitritt der Bundesrepublik Deutschland zur UN-Behindertenrechtskonvention im Jahr 2009 die Notwendigkeit einer inklusiven Bildung von allen Beteiligten wenigstens der Form nach akzeptiert wurde und die Position der Inklusionsbefürworter seitdem gestärkt ist.
Auch heute lassen sich gesellschaftliche Krisensymptome ausmachen, die nach einer Überwindung des bildungspolitischen Status Quo verlangen. Um solche Kairoi geht es um Zusammenhang mit
- der ökologischen Bedrohung unseres Planeten,
- der inzwischen manifesten Gefährdung des Weltfriedens,
- der zunehmenden Disparität zwischen prosperierenden Metropolen und abgehängten Regionen,
- der wachsenden Spaltung der Gesellschaft und ihres gefährdeten Zusammenhalts,
- der Krise der repräsentativen Demokratie und des Vordringens populistischer Haltungen,
- der durch den Fachkräftemangel sich abzeichnenden Qualifizierungslücke,
- der zunehmenden Digitalisierung von sozialer Zivilisation und Arbeitswelt,
- der Notwendigkeit, die Inklusion politisch und pädagogisch auszugestalten,
- der verschärften Sinnkrise, in der sich einzelne Schularten – wie das Gymnasium – befinden.
Die hier genannten krisenhaften Erscheinungen verlangen nach einer bildungspolitischen Antwort. Diese kann die Gewichtung besonderer Lerninhalte, die Einführung neuer Lern- und Arbeitsformen, eine neue Organisation des Schulbetriebs, den Erhalt bestehender Bildungsstandorte oder die Überwindung tradierter Schulstrukturen einschließen.
Unsere Aufgabe muss es sein, solche Entwicklungen zu thematisieren und dafür eine breitere Öffentlichkeit zu interessieren. Dabei muss jeweils herausgestellt werden, welcher Mehrwert (benefit) mit den notwendigen Veränderungen verbunden ist und wie einzelne Betroffenengruppen davon profitieren können. Außerdem sollten entsprechende Studien in Auftrag gegeben und deren Ergebnisse öffentlich kommuniziert werden. Schließlich gilt es, innovative Beispiele aus der Schulpraxis zu sammeln und solche Leuchtturmprojekte öffentlich bekanntzumachen. Je verlegener der öffentliche Diskurs mit den beschriebenen Krisenphänomenen umgeht – umso mehr können solche Best-Practice-Beispiele überzeugen.
- Indizes einer modernen Schule entwickeln
Die Gunst des Kairos kann nur nutzen, wer sich darauf vorbereitet hat und auf die damit verbundenen Fragen die richtigen Antworten vorhält. Diese Antworten sollten jeweils die Vision einer guten Schule und den sie tragenden Ethos aufgreifen. Schließlich kann nur die Rückbesinnung auf einen solchen Ethos verhindern, dass sich die Veränderung von Schule und Unterricht in technokratischen Einzelmaßnahmen erschöpft. Grundlage der Argumentation sollte weniger das geschlossene Modell einer guten Schule als eine Sammlung geeigneter Indizes sein. Als Vorbild könnte der Index für Inklusion dienen, wie er am angelsächsischen Raum entwickelt und später auf deutsche Verhältnisse übertragen wurde. Hier wie dort geht es um
- einen produktiven Umgang mit Heterogenität,
- die Differenzierung und Individualisierung des schulischen Lernens,
- die Einbeziehung schüleraktiver Unterrichtsformate,
- die Einführung alternativer Bewertungs- und Rückmeldeformen,
- eine demokratische Gestaltung des Schullebens,
- geeignete bauliche und räumliche Maßnahmen.
Damit solche Erwartungen und Anforderungen von den Schulen aufgegriffen und in die Schulentwicklung eingebracht werden, wird das folgende Vorgehen vorgeschlagen:
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Zunächst legen Schuladministration und Schulaufsicht eine Freiraum-Agenda vor- im Sinne einer vertrauensbildenden Maßnahme. Hier ist geregelt, welche Spielräume für eigene Reformansätze den Schulen zugestanden werden.
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Anschließend wird im gesellschaftlichen Diskurs ermittelt, welchen Herausforderungen sich die Schulen zu stellen haben und welche Kriterien an ihre Arbeit anzulegen sind. Solche Prüfsteine begründen keine externe Evaluation, sondern helfen den Schulen dabei, passgenaue und standortgerechte Lösungen zu finden.
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Schließlich muss die einzelne Schule auf solche Anstöße eingehen und ihr pädagogisches Programm darauf ausrichten. Die Schulen haben im Rahmen von Bildungsberichten darzulegen, inwieweit sie solche Indizes bereits erfüllen. Auf der Basis solcher Bildungsberichte ist dann erstmals auch ein Austausch der Schulen untereinander möglich.
Jonas Lanig 2018