Ähhh – was ist los?
Also, wir reden von Neuromythen oder pädagogischen Mythen, wenn so was behauptet wird: „Wir lernen 10 % von dem, was wir lesen, 20 % von dem, was wir hören, 30 % von dem, was wir sehen, 50 % von dem, was wir hören und sehen, 70 % von dem, was wir selbst sagen und 90 % von dem, was wir selbst tun.“ Nicht nur dieser, sondern auch viele andere wurden inzwischen widerlegt.
Wer hat was untersucht?
Nun haben sich Forscher von der University of Melbourne und der Melbourne Graduate School of Education – da klingelt´s bei manchen Fachleuten: “Melbourne, kommt da nicht der Hattie her?” Richtig. – mal die Frage gestellt: Wie problematisch sind Neuromythen für unseren alltäglichen Unterricht? Wer hängt den Neuromythen an: nur die Anfänger? Oder auch die Experten? Hier ist der Aufsatz dazu:
Horvath, J. C., Donoghue, G. M., Horton, A. J., Lodge, J. M. & Hattie, J. A. C. (2018). On the Irrelevance of Neuromyths to Teacher Effectiveness: Comparing Neuro-Literacy Levels Amongst Award-Winning and Non-award Winning Teachers. Frontiers in psychology 9, 1666. doi:10.3389/fpsyg.2018.01666
Neuro-Literacy Level?
Weil der Titel voraussetzungsreich ist, hier noch ein Zwischenstop: Der schöne Ausdruck Neuro-Literacy Level beschreibt das Ausmaß, in dem jemand Neuromythen als solche durchschaut. Wenn jemand derlei pädagogischen Mythen anhängt, ohne zu wissen, dass es so etwas überhaupt gibt, würde man ihn/sie dementsprechend wohl als “Neuro-Legastheniker/in” bezeichnen oder als “Neuro-Analphabet/in”; das ist aber beschreibend gemeint, nicht despektierlich.
Die Melbourner haben also untersucht, ob die Neuromythen Folgen haben für das, was beim Unterrichten herauskommt und deshalb mit Preisen ausgezeichnete Lehrkräfte mit anderen PädagogInnen verglichen, die bisher noch nicht gepriesen oder bepreist wurden.
Erkenntnis?
Das Ergebnis formulieren sie in aller Trockenheit so:
These findings suggest that one cannot make simple, unqualified arguments concerning the relationship between belief in neuromyths and teacher effectiveness. In fact, the idea that neuromyths negatively impact upon teaching might, itself, be a neuromyth. (Horvath et al. 2018, S. 1)
Einzelheiten
Kein ursächlicher Zusammenhang zwischen Neuromythen und Lehrerkönnen
Wenn der Glaube an Neuromythen wirklich Auswirkungen auf die Unterrichtsqualität hätte, dann wäre zu vermuten, dass nur Novizen solchen Fehlannahmen unterliegen und international ausgezeichnete Lehrkräfte davon gefeit sind – bzw. über ausreichend Erfahrung verfügen, so dass sie ihnen nicht anhängen. Aber denkste: Die Experten, die in dieser Studie befragt wurden, gehen ebenfalls mit 13 der untersuchten 15 Mythen um, ohne dass es die Effektivität ihres Unterrichts schmälert. Also gibt es offensichtlich keine direkte Verbindung von Neuromythenglaube und Unterrichtsqualität.
If neuromyth acceptance were correlated with teacher efficacy (as has been argued by several prominent Educational Neuroscientists), then one would reasonably expect to see a lower prevalence of neuromyth acceptance amongst internationally recognized, award-winning teachers than amongst trainee and/or non-award winning teachers. The results in this study indicate that the majority of neuromyths (13 of 15) are equally accepted amongst both groups. This suggests that there is not a clear or obvious relationship between neuromyth acceptance rates and teacher effectiveness, and that any arguments along those lines will require direct exploration of the impact of brain knowledge on teacher practice beyond that explored by any paper (including this one) to date. (Horvath et al. 2018, S. 3–4)
Wo ist der Unterschied?
Die befragten ausgezeichneten Lehrkräfte glauben nicht an die folgenden beiden Neuromythen:
a) Es gibt kritische Perioden beim Lernen, die man nicht verpassen darf, sonst kann man bestimmte Dinge nicht mehr (richtig) lernen.
b) Die Muttersprache muss man können, ehe man eine Zweitsprache lernt, sonst kann man keine von beiden richtig beherrschen.
Issues of the factor analysis aside, we did find awardwinning teachers were significantly less likely to accept 2 of the included 15 neuromyths than trainee and/or non-award winning teachers (“There are critical periods in childhood after which certain things can no longer be learned” and “Children must acquire their native language before a second language is learned; if they do not do so, neither language will be fully acquired”). Interestingly, both of these neuromyths appear to concern ‘critical periods’ during the process of skill acquisition, such that award-winning teachers are less likely to believe there are specific learning trajectories or processes students must follow. (Horvath et al. 2018, S. 4)
Einschränkungen
Die Experten aus Melbourne kommen natürlich auch selbst auf den Gedanken, dass ihr Untersuchungsergebnis auch damit zusammenhängen könnte, dass sie diese beiden Gruppen gebildet haben: a) award-winning teachers, b) non-award-winning teachers. Eine Auszeichnung ist ja nicht notwendig der Beweis, dass jemand auch wirklich (dauernd) sehr gute Lernerfolge bei seinen Schülern erzielt. Es könnte also sein, dass die anhand dieses Kriteriums vorgenommene Gruppeneinteilung gar keine saubere Trennung bewirkt.
Mahnung zur Vorsicht vor einem neuen Neuromythos
Es ist wichtig, dass die Forscher nicht einen Meta-Neuromythos schaffen, der einen Zusammenhang herstellt zwischen dem Glauben an einen pädagogischen Mythos und der Wirksamkeit des Unterrichts.
However, in combating this occurrence, it is imperative researchers do not simply create a different mythology equally devoid of evidence. It is one thing to demonstrate that acceptance of neuromyths is high amongst teachers across all levels, but it is a different notion to suggest that these myths in any way impact (negatively or positively) upon teaching and learning. (Horvath et al. 2018, S. 4)
Hier sind wir wieder bei einem alten Thema gelandet: Forscher, achte auf deine eigenen (heimlichen) Grundannahmen und Denkvoraussetzungen!
3 comments On Faktencheck #43: Ist der Glaube an Neuromythen selbst ein Neuromythos?
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