Der Lehrermangel ist nicht nur an allen Schulen, sondern endlich auch in aller Munde. Nun dürfen alle mitreden. Wenn man die Basis befragt, erhält man andere Antworten als aus dem Elfenbeinturm. Kürzlich hat die Ständige Wissenschaftliche Kommission (SWK) der Kultusministerkonferenz (KMK) versucht, ein paar hilfreiche Aussagen zu tätigen. Damit haben sie ein Twitter-Gewitter ausgelöst. Ich bin nicht sicher, ob jede/r wenigstens die zentralen Aussagen auf Seite 4 gelesen hat. Hier sind sie, zusammen mit meinen Kommentaren.

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1. Erschließung von Beschäftigungsreserven bei qualifizierten Lehrkräften
- Anpassung des Ruhestandseintritts, der Reduktion der Unterrichtsverpflichtung aus Altersgründen und der Teilzeitbeschäftigung an die aktuelle Situation;
- Erhöhung der Unterrichtsverpflichtung in Anlehnung an das Konzept der Vorgriffsstunden;
- erleichterter Anerkennung von im Ausland erworbenen Abschlüssen;
- Abordnung von Lehrkräften an Dienststellen mit besonderem Bedarf;
- Entlastung der Lehrkräfte von Organisations- und Verwaltungsaufgaben.
Kommentar
Die ersten beiden Maßnahmen könnten einen negativen Washback-Effekt erzielen, das heißt: im Endeffekt dazu führen, dass vor allem die Frauen an den Grund- und Mittelschulen sich sehr gut überlegen werden, ob sie unter diesen erschwerten Bedingungen überhaupt arbeiten werden. Denn in der Regel sind sie es, die Kinder, Kochen, Haushalt und Beruf unter einen Hut bringen müssen. Möglicherweise verlieren wir dadurch netto mehr Lehrerinnen als wir gewinnen würden. Das habe ich hier schon mal genauer betrachtet.
Den dritten Punkt, die erleichterte Anerkennung von im Ausland erworbenen Abschlüssen, kann ich nur unterstützen. In Bayern muss man auch das außerbayerische Ausland dazuzählen, denn die bayerische Staatsregierung hat (bislang immer) den doch einigermaßen gut ausgebildeten Lehrkräften, die aus einem anderen Bundesland im Wunderland BY arbeiten wollten, stets noch einen Malus verpasst, die Verbeamtung hinausgeschoben oder den nochmaligen Besuch eines Seminars der 2. oder gar 1. Phase abverlangt.
Außerdem tut die Bayerische Staatsregierung (= CSU) bei Asylsuchenden und Migranten alles dafür, dass sie sich massiv unwillkommen fühlen. Bisher hieß die Devise: Lieber schnell abschieben als eine Chance geben! Aber das gilt ja leider für den Arbeitskräftemangel insgesamt. Dabei könnten wir sehr viele Menschen sehr gut brauchen.
Auch die letzten beiden Empfehlungen kann man nur unterstützen: “Dienststellen mit besonderem Bedarf” – soll wohl heißen: “Schulen in schwieriger Lage” – mit mehr Lehrkräften zu versorgen, ist eine gute Idee. Allerdings würde ich hier auf unterstützte Freiwilligkeit setzen, also nicht in einem hoheitlichen Akt abordnen, sondern Anreize bieten (möglichst wohnortnaher Einsatz, Aufstiegs- oder Spezialisierungsmöglichkeiten, Gehaltszulagen).
Entlastungsmöglichkeiten sehe ich einige: Die Verbindlichkeit der Jahrgangsstufentests und modischer Projekte (Muss wirklich jede/r Siebt- bis Zehntklässler ins Programmieren eingeführt werden?) kann zurückgefahren werden. Müssen in der 3. und 4. Grundschulklasse wirklich so viele Probearbeiten geschrieben (das heißt geplant, abgesprochen, durchgeführt, korrigiert und Eltern gegenüber nachträglich noch besprochen oder gerechtfertigt) werden?

Sie gilt es zu entlasten. Bild von Pixabay.
2. Ausweitung des Potenzials an qualifizierten Lehrkräften
- durch die Weiterqualifizierung von Gymnasiallehrkräften für andere Schulformen
- und durch die Nachqualifizierung in Mangelfächern.
Kommentar
Wenn von der “Weiterqualifizierung von Gymnasiallehrkräften” gesprochen wird, dann steckt darin das Zugeständnis, dass es von denen zu viele gibt. Das hat Mark Rackles in seinem Gutachten für Bayern detaillierter aufgeschlüsselt: Es gibt auch in bayerischen Gymnasien Mangelfächer und insgesamt bis 2032 eine Unterdeckung des Bedarfs von fast 1000 Stellen.
Damit die Gymnasial- (und Realschul-)lehrkräfte, wenn sie sich denn für die Grund- oder Mittelschule haben weiter- oder nachqualifizieren lassen, nicht bei der ersten Gelegenheit wieder in ihre gelernte Schulart abzischen, müsste man sie schon genauso besolden wie am Gymnasium. Und damit es für gleiche Arbeit gleichen Lohn gibt, die Grund- und Mittelschullehrer:innen ebenso. Ist in BY bereits versprochen durch MP Dr. Söder. Allerdings haben seine Versprechungen zuweilen eine sehr geringe Halbwertszeit (siehe Windräder und Wohnungsbau).
Ceterum censeo: Dass ich mich für das längere gemeinsame Lernen gerade im separativen bayerischen Schulsystem einsetze, wird wahrscheinlich bei einem kurzen Blick auf diesen Blog deutlich. Deshalb auch an dieser Stelle:
An Gemeinschaftsschulen besteht nicht das Problem, dass Lehrer:innen für eine unpassende Schulart ausgebildet sind und deshalb nicht eingesetzt werden können. An einer inklusiven Schule für Alle von Jahrgangsstufe 1 bis 13 können auch alle Lehrer:innen arbeiten.
3. Entlastung und Unterstützung
Entlastung und Unterstützung qualifizierter Lehrkräfte durch Studierende und andere, formal nicht (vollständig) qualifizierte Personen.
Kommentar
Ja. Wir hatten an unserer Grund- und Mittelschule sehr gute Erfahrungen mit FOS-Praktikantinnen oder/und Ruhestandslehrerinnen (weibliche Form beabsichtigt), die man zu einzelnen Schüler:innen hinsetzen konnte, um beim Lernen zu helfen. Solche Menschen können wir jederzeit brauchen.
Es wird ja an dieser Stelle die Gefahr einer “Entprofessionalisierung” des Lehramtes heraufbeschworen. Aber erstens würde ich niemals die Unterstützung aus dem Grund abwerten, dass uns Lehrer da vielleicht irgendjemand irgendwann zu ersetzen droht; und zweitens halte ich es mit Simone Fleischmann, der Präsidentin des Bayerischen Lehrerinnen- und Lehrerverbandes: “Besser, es steht überhaupt eine Person vor der Klasse.” Hier finden Sie übrigens die lesenswerte Positionierung des BLLV zu den Empfehlungen der SWK.
4. Flexibilisierung des Einsatzes von Lehrkräften
- durch Hybridunterricht;
- Erhöhung der Selbstlernzeiten von Schüler:innen;
- Anpassung der Klassenfrequenzen.
Kommentar
Interessante Wortwahl. Aber sachlich kommt mir das bekannt vor: “Hybridunterricht” haben alle Kolleg:innen unserer Schule während der pandemiebedingten Schließungen und Teilöffnungen gehalten. Das war alles andere als optimal und musste erst – und zwar von allen Beteiligten – gelernt und eingeübt werden. Aber es war besser als gar kein Unterricht. Es ist also eine Notlösung, und der aktuelle Lehrermangel ist halt auch eine Notlage.
Ähnlich ist die Erhöhung von Selbstlernzeit von Schüler:innen. Da gibt es gute und schlechte Erfahrungen, die auch zu einem hohen Maß damit zusammenhingen, dass unsere Schulen eine immer noch zu hohe Input-Kultur pflegen, die die Lernenden zu Inhalts- und Regelempfänger degradiert, die es zu wenig lernen, nicht auf eine Fütterung zu warten, sondern sich selbst zu kümmern. Auf das Selbstlernen legen die Montessorischulen (nicht nur) in Bayern und die Konzepte der Gemeinschaftsschulen (Beispiel siehe ganz unten) großen Wert. So etwas zahlt sich aus.
“Anpassung der Klassenfrequenzen” heißt: mehr Schüler:innen in einer Klasse. Oh je! Nicht, weil es mir als Lehrer zuviel wäre, sondern:
Pädagogik: Mehr Schülerinnen und Schüler heißt weniger individuelle Zuwendung, also dann mehr Fabrikunterricht, Produktion und Ablieferung von Unterrichtsinhalten an mehr oder weniger motivierte Abnehmer ohne persönliche Beziehung zum Alleinunterhalter da vorne an der Tafel.
Platz: Viele Klassen in Realschulen und Gymnasien haben eine “Klassenfrequenz” von über 30, da ist es jetzt schon zu eng. Und es ist in der Tat peinlich, wenn die Klassenlehrkraft beim Sprechabend den vor ihr sitzenden Eltern das falsche Kind zuordnet. Das wird dann häufiger vorkommen – es sei denn, man lässt solche Begegnungen komplett außen vor.
Logistik: Größere Klassen auf dem Land heißt mehr Schülertransport vom Standort A zum Standort B. Die Kosten tragen dann die Kommunen. Und wir haben schon jetzt das Problem, dass wir zu wenige Busse einsetzen können, weil uns die Busfahrer fehlen, die wir vielleicht auch unter den Asylsuchenden und Migranten finden könnten, wenn wir sie denn herzlich integrierten…

Warten auf den Schulbus. Bild von Duernsteiner auf Pixabay
5. Vorbeugende Maßnahmen zur Gesundheitsförderung
- Achtsamkeitstrainings und eMental-Health-Angeboten;
- Coaching- und (Gruppen-)Supervisionsangeboten;
- Kompetenztrainings zur Klassen- und Gesprächsführung;
- niedrigschwelliger, gut zugänglicher Angebote;
- Sensibilisierung und Unterstützung von Schulleitungen;
- Bündelung von Angeboten an einem Ort und Optimierung des Informationsmanagements.
Kommentar
Schon klar, dass das Angebot von Trainings, Coachings, Supervisionen und anderen gut gemeinten Unterstützungsmaßnahmen erst mal dazu führt, dass viele Lehrer:innen sagen: “Was denn noch alles?!” Diese Angebote sind immer mit einem zeitlichen Aufwand verbunden, den man sich erst mal rein temporal, aber auch emotional leisten können muss. Und ein Mehr an Trainings führt nicht automatisch zu besseren Work-Life-Ergebnissen.
Dass man die Schulleitungen erst noch sensibilisieren muss, halte ich für eine recht gedankenlose Aussage: Als ob nicht alle schon seit Jahren einen sich verschärfenden Mangel verwalten würden! Dass man sie unterstützen muss, ist selbstverständlich. Ich hätte da auch eine Idee:
Seit Einführung der neuen Software ASV (Allgemeine Schulverwaltung) in Bayern verlangt der Algorithmus bereits in der Planungsphase im Frühjahr immer mehr Details. Wo es vor 20 Jahren noch gereicht hat, einfach alle Lehrerstunden zu zählen und zu beantragen, die man für das neue Schuljahr braucht, müssen jetzt erst mal alle Schüler:innen und Klassen und Einzelfächer und einzelne Stunden und Lehrergehälter und und und widerspruchsfrei eingegeben werden. Damit erhält zwar der Große Bruder und Kontroletti irgendwo im KM eine Menge von Daten, aber was tut er damit? Schafft er an irgendeiner Stelle Entlastung? Bisher nicht, und wir haben ein erhebliches Mehr an Arbeit!
6. Quer- und Seiteneinstieg
Bestandsaufnahme, Bewertung und Weiterentwicklung von Modellen des Quer- und Seiteneinstiegs.
Kommentar.
Ja. Gut.
Was hilft?
Man kann nicht alle konstruktiven Vorschläge nur zerpflücken. Das tun nur Kritiker, die es selber nicht besser können. Oben habe ich schon ein paar Maßnahmen beschrieben, die ich auch gut und passend finde. Hier noch Ergänzungen.
Der schnöde Mammon.
Was mir in der Liste fehlt, hab ich oben schon angedeutet und ist vielleicht eine bayerische Besonderheit: Warum müssen Grund- und Mittelschullehrer:innen bei uns für weniger Gehalt mehr arbeiten als die Lehrkräfte an anderen Schulen (Gymnasium, Realschule, Förderschule, Berufliche Schulen)? Als ob sie nicht genauso professionell arbeiten könnten! Die mangelnde Wissenschaftlichkeit, die vonseiten des Philologenverbandes hin und wieder noch angeführt wird, kann man nur dann überhaupt erwähnen, wenn man Pädagogik und Erziehungswissenschaft als nicht so wissenschaftlich ansieht wie Mathe oder die Naturwissenschaften. Oh Mann!
Was sollen denn die hoffnungsvoll in die Zukunft schauenden Abiturient:innen wählen, wenn sie auch auf Arbeitszeit und Gehalt achten: Doch wohl kaum das Lehramt an Grund- und Mittelschulen. Also brauchen wir hier die längst fällige Anpassung. Die Ankündigung ist schon da. Die Umsetzung steht noch aus.
Andeutungen und Gemurmel
Mir fiele noch einiges ein – zum Beispiel die Freisetzung individueller Fähigkeiten der Lehrer:innen, die oft von der Struktur blockiert werden. Die Rigorosität, mit der bayerische Zöglinge auf den Übertritt nach der 4. Klasse vorbereitet werden müssen. Und die ewigen Erwartungen an die Schule als Reparaturbetrieb der Nation im Hinblick auf Aktion, Prävention und Innovation. Lasst uns halt einfach unsere Arbeit machen, dann ist das schon Erleichterung genug!
Anhang: Konzept einer Gemeinschaftsschule
Leider hat der damalige Kultusminister Dr. Spaenle sein ganzes politisches Gewicht in die Waagschale geworfen, um diese Schule zu verhindern. Die Gemeinde hätte sie gewollt.