Es dürfte unter uns Pädagog:innen nur wenige geben, die ihm noch nicht auf Fortbildungen oder im Lehrerzimmergespräch begegnet sind. Die Rede ist vom Mythos von den vier Typen der visuellen, auditiven, haptischen und kommunikativen Lernenden. Schon allein der Begriff “Typ” sollte uns aufhorchen lassen, der denn funktioniert im Prinzip nur unter Vernachlässigung von Situationen und Kontexten. Hier bin ich auf einen sehr zu empfehlenden, weil informativen und gut geschriebenen Artikel gestoßen, dessen Kernaussagen ich im Folgenden darstellen möchte.
Martin Daumiller und Benedikt Wisniewski: Lerntypen – Warum es sie nicht gibt und sie sich trotzdem halten, The Inqusitive Mind, Ausgabe 3/2022
Die Autoren
PD Dr. habil. Martin Daumiller ist akademischer Rat a. Z. am Lehrstuhl für Psychologie der Universität Augsburg. Er lehrt und forscht zu den Themen Motivation und Motivationsförderung in Bildungskontexten, akademisches Betrugsverhalten und Lernen mit digitalen Medien.
Dr. Benedikt Wisniewski ist Staatlicher Schulpsychologe an der Schulberatungsstelle für die Oberpfalz. Er war lange Zeit als Lehrer und Seminarlehrer für Psychologie sowie als und wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Augsburg tätig.
Der Mythos
Der Hinweis auf die Lerntypen ist motiviert durch den Wunsch, den Lernenden die Aufnahme der Inhalte dadurch zu erleichtern, dass man ihrer individuellen Art des Lernens entgegenkommt. Dann heißt es, die einen lernen am besten das, was sie hören, die anderen besser durch lesen, die dritten müssen es anfassen um es zu begreifen usw.
Die Lerntypen-Theorie wird in diesem Wikipedia-Artikel auf den zu Recht hochgeschätzten Biochemiker und Systemforscher Frederic Vester zurückgeführt, wie er sie in seinem Buch “Denken-Lernen-Vergessen” beschrieben, aber nicht ausreichend wissenschaftlich hergeleitet hat.
Wer will, kann sich hier auch den Lerntypentest nach Vester ansehen, der eingeteilt ist in die Dimensionen Hören, Sehen, Lesen, Fühlen/Tasten. Wenn man diese vier Typen mit meiner Einleitung oben vergleicht, wird deutlich, dass die Aufzählungen variieren. So spricht der Wikipedia-Artikel davon, dass insgesamt 71 unterschiedliche Modelle von Lerntypologien existierten, die fast alle den fundamentalen Kriterien wissenschaftlicher Forschung nicht genügten.
So beschreiben Daumiller und Wisniewski den eingängigen Mythos aus Anlass eines Forbes Artikels:
Gleich an erster Stelle wird darin angeführt, dass individuelle Lerntypen identifiziert und gezielt unterstützt werden sollen. Damit ist gemeint, dass sich Personen in beispielsweise visuell, auditiv und haptisch Lernende einteilen lassen und via den entsprechenden Kanälen am effektivsten lernen. So wird ein „visueller Lerntyp“ beschrieben als jemand, der Informationen besser einprägen kann, wenn diese grafisch, etwa in Form von Schaubildern, Skizzen oder Abbildungen veranschaulicht sind. Dies erscheint als eine eingängige Erkenntnis, die auch von vielen Praktiker:innen umfassend aufgegriffen wird, gerade da das Konzept der Lerntypen intuitiv betrachtet Sinn ergibt – schließlich sind Menschen jeweils unterschiedlich. Ein aktueller Literaturüberblick über 37 Studien mit über 15.000 Pädagog:innen fand, dass durchschnittlich 89.1% der Befragten glauben, dass Unterrichtsmethoden zu den Lerntypen ihrer Schüler:innen passen sollten; und Lehrpersonen zu ähnlich hohem Ausmaß ihren Unterricht auch auf diese anpassen sollten.
Und sogleich fügen sie ihre Kritik an, die sie im Folgenden entfalten und begründen:
Aber: Wissenschaftlich betrachtet ist nichts dran an den Lerntypen. Es handelt sich um einen in unserer Gesellschaft weit verbreiteten Mythos. Die wissenschaftlichen Fakten und die zahlreichen Studien zu diesem Thema zeigen klar, dass es so etwas wie „Lerntypen“ nicht gibt und eine Ausrichtung von Lernumgebungen basierend auf vermeintlichen „Lerntypen“ keine förderlichen Effekte auf das Lernen hat (…). Wieso hält sich der Mythos dennoch so hartnäckig und was können wir dagegen tun?
Die Kritik am Lerntypenmythos
Die Kritik lässt sich wie folgt zusammenfassen, aber ich rate dazu, den vollständigen Artikel zu lesen, er ist es wert und verdeutlicht Vieles durch Grafiken, die ich aus rechtlichen Gründen nicht wiedergeben darf.
(1) Schon bei Frederic Vester würden die vier Typen nicht konsistent hergeleitet und passten logisch nicht zusammen.
(2) Individuelle Vorlieben für bestimmte Lernwege seien nicht konstant, weil sie von Gefühlen in den jeweiligen Lernsituationen abhingen. Eine Lerntypentheorie, die sich auf die Selbsteinschätzung der Lernenden bezieht und daraus auf einen dauerhaften oder gar grundsätzlich zu bevorzugenden Zugang schließt, sei daher schon im Ansatz widersprüchlich.
(3) Derlei Präferenzen seien aber nicht nur von der aktuellen Situation, sondern auch immer vom Lerngegenstand abhängig. Auch hier müsse eine Kategorisierung in vier Lerntypen ins Leere laufen.
Die Berücksichtigung einzelner Lerntypen scheitert demnach bereits am Versuch, Lernende verlässlich entsprechend zu kategorisieren und ihnen einzelne Lerntypen zuzuweisen. Dennoch werden immer wieder Fragebögen und Kategorienschemata herangezogen, um solche Einteilungen vorzunehmen
Daumiller/Wisniewski
(4) Es gebe zahlreiche sorgfältig kontrollierte Experimente, in denen der Lerntypenmythos untersucht wurde. Die Ergebnisse zeigten durchgehend: Lernende lernten nicht besser, wenn die Methode zu ihrem vorgeblichen Lerntyp passte.
Die empirischen Befunde sprechen eine eindeutige Sprache: Ein Ausrichten der Lernumgebung nach den individuellen Präferenzen der Lernenden bietet keine Vorteile.
Daumiller/Wisniewski
(5) Das Lerntypenkonzept stehe nicht auf einer soliden theoretischen Bases, sondern habe aus psychologischer Sicht zentrale Defizite:
- Präferenzen für bestimmte Lernwege seien situations- und inhaltsbedingt und deshalb nicht zugleich überdauernde Eigenschaften von Personen.
- Versuche, Personen in Typen einzuteilen, seien populär, jedoch zeige sich in der psychologischen Forschung, dass die meisten menschlichen Merkmale nicht in Form von unterschiedlichen Kategorien vorlägen, sondern jede Person eine unterschiedliche Ausprägung auf jedem dieser Merkmale habe.
- Lernen sei nicht dasselbe wie Wahrnehmung, also die Aufnahme von Informationen (der Weg ins Gehirn), sondern vielmehr deren Verarbeitung (die Vernetzung im Gehirn).
- Lernen sei nicht dasselbe wie Merken. Inhalte im Gehirn zu speichern sei noch nicht gleich Lernen, sondern dieses setze voraus, dass Bedeutungen verstanden, Sinn erfasst und Probleme gelöst würden. Die entscheidenden Prozesse geschähen nicht bei der Informationsaufnahme, sondern bei der Informationsverarbeitung.

Warum sind Lerntypen trotzdem populär?
Im Unterrichtsalltag müsse angesichts einer immer mehr oder weniger heterogen zusammengesetzten Klasse ein Mittelweg gefunden werden zwischen einer für alle gleichen und einer individualisierenden Instruktion. Hierfür biete das Lerntypenkonzept eine scheinbar einfache und gut handhabbare Einteilung, mit der Lehrpersonen den Eindruck haben könnten, unterschiedlichen Lernvoraussetzungen gerecht zu werden. Gerade weil es sich bei der Individualisierung um ein extrem komplexes Problem handele, entstehe ein Bedürfnis nach einfachen Lösungen.
Schadet aber doch auch nicht?
Für diese Zusammenfassung soll komplett aus dem Artikel zitiert werden:
Nun könnte man natürlich sagen, Lerntypen bringen zwar nichts, würden aber zumindest ja auch nicht schaden. Jedoch ist es durchaus problematisch, Lernende anhand vermeintlicher Sinnespräferenzen zu kategorisieren.
Erstens kann es passieren, dass diese falsche Theorien über sich selbst und ihr Lernverhalten entwickeln, welche sie schließlich in ihrem Lernen einschränken (…).
Zweitens könnten Lernende aufgrund der Zuordnung zu einem Lernstil in eine Schublade gesteckt und demotiviert werden. Beispielsweise kann eine Schülerin, die als „auditive Lernerin“ eingestuft wird, zu dem Schluss kommen, dass eine Beschäftigung mit visuellen Themen wie Malerei für sie sinnlos sei.
Drittens geht die Zeit, die Lehrpersonen in die Konzeption lerntypengerechten Unterrichts stecken, auf Kosten von Zeit für sinnvolle Maßnahmen der Individualisierung. Dem Konzept der Lerntypen folgend müssten Lehrkräfte schließlich idealerweise vier oder mehr Versionen ihrer Unterrichtsmaterialien erstellen, um den Lerntypen ihrer Schüler:innen zu entsprechen.
Und viertens führt es zu einem Widerspruch, wenn Lehrpersonen ihren Schüler:innen kritisches Denken vermitteln sollen, dieses bei der Überprüfung ihres didaktischen Handelns selbst aber nicht anwenden. Der anhaltende Glaube an Lerntypen schwächt die Glaubwürdigkeit von Pädagog:innen und schafft ungerechtfertigte und unrealistische Bildungserwartungen.
1 comments On Faktencheck #98: Nicht totzukriegen -> der Lerntypen-Mythos
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