Sichtweisen #24: Welche Schule will John Hattie? (Neues von Hattie IX)

1 Voraussetzungen

1.1         Leitmotiv Leistung

Der Neuseeländer Erziehungswissenschaftler John Hattie will anhand von Metastudien herausarbeiten, welche Einflussgrößen im Unterricht welche Wirkung auf die Leistung – bei ihm: academic achievement – haben. Er ist sich darüber im klaren, dass Schule noch andere, ebenfalls wichtige, Erziehungsziele hat, beschränkt seine Betrachtung aber bewusst auf die Schülerleistung. Dazu hat er 2009 ein erstes weltweit wirkmächtiges Werk veröffentlicht: Visible Learning. A synthesis of over 800 meta-analyses relating to achievement. Diesem hat er im Jahr 2023 eine überarbeitete und ausführlicher gewordene zweite Auflage folgen lassen: Visible learning. The Sequel ; a synthesis of over 2,100 meta-analyses relating to achievement. Auf dieses Buch verweisen die Zitate in den folgenden Ausführungen, wenn nicht anders erwähnt.   

1.2         Eine Schule für alle

Hattie hat ein Bildungssystem verinnerlicht, das wie in Neuseeland gemeinschaftlich (comprehensive) ist: Die Schülerinnen und Schüler treten spätestens im Alter von sechs Jahren in diese eine Schule ein und verlassen sie frühestens im Alter von 16 Jahren. Von daher sind leistungsgetrennte Gruppen für ihn eher Ausnahmeerscheinungen, die eine pädagogische Begründung benötigen. Unsere seit den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts oft ideologisch geführten Debatten über Gesamtschulen und differenziertes Schulsystem sind ihm fremd. Umgekehrt kann gefragt werden, ob die von ihm verarbeiteten  Ergebnisse überhaupt verallgemeinerbar und auf unsere Strukturdiskussion anwendbar sind.

1.3         Grundhaltung und Forschungsergebnisse

Da John Hatties Konzentration auf den Einflüssen liegt, die Unterricht im Sinne von Lernergebnissen erfolgreich machen, sind Äußerungen über das Schulsystem eines Landes nur in Nebengedanken oder en passant zu erwarten. Sie bringen von daher mehr seine Grundhaltung zum Ausdruck und weniger seine Forschungsergebnisse. Dennoch bestehen Zusammenhänge zwischen beidem, denn Hattie wird sein Grundkonzept nicht unabhängig von seinen empirischen Ergebnissen entworfen haben.

2 Tracking/streaming

Unter tracking oder streaming versteht Hattie das Bilden von Leistungsgruppen oder -klassen. Er beschreibt in seinem Buch zunächst die durchschnittliche Stärke dieses classroom effects und beginnt dann mit Feinunterscheidungen und Einzelheiten.

2.1         Durchschnittlicher Effekt

Zur Interpretation dieser Thermometer-Darstellung (S. 186):

Links steht mit R = 4 ein Hinweis auf die Robustheit des Ergebnisses. Die Skala geht von 1 (gering) bis 5 (hoch), in diesem Fall also gut belastbar.

0.09 im Oval ist die Effektstärke. Der Durchschnitt aller im Buch beschriebenen Effektstärken liegt bei 0.40 (= hinge point, Angelpunkt). Tracking/streaming wirkt – grob betrachtet – also so gut wie gar nicht auf die Leistung.

# meta = 14 verweist auf die Anzahl der verwendeten Metastudien,

# studies = 469 auf deren zugrundeliegende Einzelstudien,

est. # people = 43,166 auf die Gesamtzahl von Studienteilnehmern

# effects = die Anzahl der Erwähnungen genau dieses Effekts,

se = 0.05 beschreibt die Standardabweichung.

2.2         Unterscheidungen: Leistung

Hattie unterscheidet zwischen achievement effects und equity effects, also zwischen Wirkung auf die Leistung und solchen in Richtung Gleichheit oder Gerechtigkeit oder Chancengleichheit – bei der Übersetzung von equity bin ich noch unsicher.

Die ersten Studien, die er anführt, fasst er im Hinblick auf die Leistungsergebnisse so zusammen:

Tracking has minimal effects on learning outcomes; no one profits… Why do we persist with a failed intervention? Who benefits? Not the students.

Seite 187

2.3         Unterscheidungen: Chancengleichheit

Was die Gleichheits- oder Gerechtigkeitsproblematik betrifft, bezieht Hattie sich auf einen andere, einflussreiche Autorin (Oakes 2005 und 1992), die er so wiedergibt und zitiert:

The effects on equity outcomes are more profound and negative… The major finding was that many low-track classes are deadening and non-educational environments… Oakes (1992) commented that tracking limits students´ schooling opportunities, achievements, and life chances. Students not in the highest tracks have fewer intellectual challenges, less engaging and supportive classrooms, and fewer well-trained teachers.

Seite 187

Andere Studien (Shanker 1993, Page 1991) kommen ebenfalls zu solchen Ergebnissen. Hattie lässt in folgendem Zitat einen seiner wichtigen Gedanken anklingen, nämlich den der Erwartungen von Lehrer:innen an die Schülerinnen und Schüler:

Kids in these [lower] tracks often get little worthwile work to do; they spend a lot of time filling in the blanks in workbooks or ditto sheets. And because we expect almost nothing of them, they learn very little.

Seite 187

Auf die sozialen Folgen des Gruppierens nach Leistung (ability grouping) verweist Hattie mit folgendem Zitat:

Oakes and Wells (1996) claimed that tracking guarantees the unfair distribution of priviledge in that white and wealthy students benefit from access to high-status knowledge that low-income students and students of color are denied… tracking may increase divisions along class, race, and ethnic lines.

Seite 187

Bezogen auf die Fragwürdigkeit der den Gruppenbildungen zugrundeliegenden Daten zitiert er eine Studie, die zu dem Schluss kommt:

In fact, tracking remains one of the most enduring practices in american high schools, in spite of a robust research base denouncing it.

Seite 188

Hattie kommt auch auf Interessen – nämlich die von gesellschaftlichen Eliten – zu sprechen, die solche Aufteilungen betreiben und bezieht sich dabei auf eine Studie aus California und Massachusetts (Loveless 1999): Bestimmte Schulen würden die Trennung „umarmen“, und weiter:

If tracking is bad policy, society´s elites are irrationally reserving it for their own children.

Seite 188

Speziell auf die vermögenden Eltern gezielt, entspricht die soziale Stratifikation ihrem Willen:

Well-resourced parents can be more influential in socially stratifying schools, such as choosing what are perceived as higher-achieving schools, choosing schools with tracking, and investing in early childhood education.

Seite 129

Und weiter auf dieser Schiene mit Hanushek und Wößmann (2006): Schülerinnen und Schüler mit niedrigem SES sammeln sich in den unteren Kursen und Klassen, während solche mit durchschnittlichem Leistungsvermögen aus begüterten Haushalten leichter den höheren Kursen zugeteilt werden, weil deren Eltern „effective managers of their children´s schooling“ (Gamoran 2009) sind.

Eine Studie hat sogar rassistische Implikationen festgehalten

that academic tracking strengthened racial boundary keeping and reinforced the idea among students that whiteness and academic success are correlated in a fixed and natural way“ (Modica 2015).

Seite 188

2.4         Konsequenzen

Zunächst einmal und als absolutes Minimum ist durch Schulleitungen und externe Evaluatoren sicherzustellen, dass die Zuweisung zu den mittleren und unteren Kursen gut begründet ist, dass es herausfordernde Curricula für alle Schülerinnen und Schüler gibt und dass solche Aufteilungen nicht zu „Apartheid“ – ja, Hattie verwendet tatsächlich diesen Begriff (S. 179) – in Schulen führen.

Als gutes Beispiel dafür, dass wirklich alle Schülerinnen und Schüler nach denselben Curricula und mit derselben Menge und Qualität an Instruktion unterrichtet werden, nennt er Italien.

Die negativen oder Nulleffekte der Leistungstrennung ließen sich eventuell durch geeignete Maßnahmen auffangen:

If these lower tracked classrooms were more stimulating, were more challenging, and were taught by well-trained teachers, there may be gains from tracking for these students.

Seite 189

2.5         Exkurs: Akademisches Selbstkonzept?

Im Hinblick auf die Systemstreitigkeiten kann man Vieles bedenken und zitieren. Dazu habe ich hier fast 700 Zitate zusammengestellt. An dieser Stelle möchte ich nur mal kurz auf eine neuere Studie hinweisen und sie mit Hatties Erkenntnissen kontrastieren (Literaturhinweise am Ende).

Fleischmann et al bringen ein Untersuchungsergebnis in die Debatte ein, das zeige, dass schwächere Schüler:innen in heterogenen Klassen aufgrund des sozialen Vergleichs ein schwächeres Selbstkonzept entwickeln als in homogenen Gruppen. Für stärkere Schülerinnen und Schüler übe die Umgebung – homogen oder heterogen – keinen anderen Einfluss auf ihr Selbstkonzept aus.

Hattie zitiert eine Untersuchung, die zum gegenteiligen Ergebnis gelangt:

Further, Parker et al. (2021, p. 343) demonstrated that “ability stratification biases academic self-concept for children at the top and those at the bottom – albeit in different directions. This is to the detriment of every student.”

Seite 189

Seine Konsequenz aus dieser schwierigen Frage (conundrum):

The qualitative evidence suggests that low-track classes are more fragmented, are less engaging, and taught by fewer well-trained teachers. If these lower tracked classrooms were more stimulating, were more challenging, and were taught by well-trained teachers, there may be gains from tracking for these students. It seems that the quality of teaching, the transmitted expectations of teachers and students, the differential curriculum of easier and harder work, and the nature of the student interactions are the key issues, rather than the compositional structure of the classes.

Seite 189

Hatties Resumee dieses Abschnittes ist jedoch eindeutig:

Let us seriously stop tracking: no student is the winner.

Seite 189

2.6         These

Hattie kommt aus einem gemeinschaftlichen Schulsystem und lehnt Differenzierungen in der Form von tracking ab, weil es im Hinblick auf die Lernleistung nichts bringt und in Bezug auf gesellschaftliche Chancen mehr schadet. Er bezeichnet derartige Infrastrukturmaßnahmen als „Ablenkung“ (Schrift WDE S. 16f).

3 Inklusiver Unterricht

Wir betrachten zunächst wieder Hatties Thermometerdarstellung (S. 192):

Nach dem obigen Beispiel kann sich jede:r Leser:in die Einzelheiten selbst herauslesen.

Zunächst einmal schreibt Hattie inklusiven Maßnahmen eine durchschnittliche Effektstärke von d = 0.52 und damit eine hohe Wirksamkeit zu. Dieser Wert bekommt die höchste Robustheit zugesprochen, auch deshalb, weil er auf 11 Metastudien mit insgesamt fast fünf Millionen Einzelstudienteilnehmern beruht.

3.1         Special-needs students

John Hattie bezieht sich mit keiner Silbe auf die bei uns laufende Menschenrechtsdebatte, sondern betrachtet die Inklusion rein aus der Fragestellung heraus, ob sie im Unterricht funktioniert oder nicht, das heißt: welche Auswirkung sie auf die Schülerleistungen hat. Dazu schreibt er ein paar eher kurze Ausführungen.

Es gab in den Jahren 1970 bis 1990 eine starke Bewergung hin zu mehr Inklusion – hier: mainstreaming -, und aus dieser Zeit stammen auch die meisten Metastudien. Den neueren Studien entnimmt Hattie die Erkenntnis, dass special-needs students dem Vorankommen der Mitschüler:innen in einer Regelklasse nicht nur nicht schaden, sondern es sogar befördern können, wenn die Lehrerinnen und Lehrer den Unterricht entsprechend gestalten:

But how are students without special needs affected by the presence of special-needs students? *Szumski et al. (2017) found a d = 0.12 across nonspecial-needs students; thus, the presence of students with special educational needs positively impacted all students. This advantage was similar across all levels of schooling, regardless of whether the special needs were mild or severe. Similarly, *Ahmad (2016) specifically investigated the effect on mathematics and reported a d = 0.38 increase for students with special needs and d = 0.81 for those without special needs. So all benefit.

Seite 192

Die Ursache für diesen doppelten Nutzen liegt nach seiner Erkenntnis darin, dass es allen Schülerinnen und Schülern zugute kommt, wenn die mit den speziellen Bedürfnissen von Anfang an mitbedacht werden: Alle haben den Aufbau von learning skills nötig, alle müssen Ich- und Wir-Stärke entwickeln, alle sollen das Zusammenarbeiten lernen, so dass die Behauptung zutrifft

that what works best for all students may not work for students with special needs, but what works for students with special needs work best for all students.

Seite 193

Eine neuere Studie (Mitchell and Sutherland 2020) identifizierte die effektiven Strategien, die für alle Schülerinnen und Schüler günstig sind:

behavioral strategies (DI, review and practice, formative assessment, feedback), social strategies (cooperative group, peer tutoring, social skills training, classroom climate), cognitive strategies (self-regulated learning, memory strategies comprehension strategies), and mixed strategies (assistive technology, early intervention, RTL, universal design).

Seite 193

3.2         Grouping and labelling

Hattie sieht die gute schulische Entwicklung von special-needs students noch von einer anderen Seite her bedroht, indem er Gruppierungen infolge von Etikettierungen kritisiert:

Grouping, thus, can lead to a particularly invidious form of low expectations, leading to nasty negative effects from labeling or grouping students. These low expectations lead to questions about why these students cannot learn, engage, and be successful. For example, the label “learning difficulties” can lead to low performance expectations.

Seite 223

Natürlich ist ihm das Dilemma bewusst, dass man bei allen Schülerinnen und Schülern die Lernausgangslage erst einmal diagnostizieren und dann auch definieren muss. Der Schritt zur Etikettierung ist dann nicht mehr weit. Er hält aber fest, dass eine Diagnose immer nur der erste Schritt sein könne und niemals der letzte sein dürfe und verweist auf die Verantwortlichen in Singapore, die sich solchen Etiketten verweigern und allgemeiner von low-progress students sprechen (S. 224). Das ist zwar auch ein Etikett, allerdings ein viel allgemeineres.

Ergänzend verweist er hier noch einmal auf das Beispiel Italien, das Land, das festgelegt hat, dass alle Schülerinnen und Schüler nach dem gleichen Curriculum und mit derselben Qualität und Quantität unterrichtet werden müssen.

Dann zieht er zur Vermeidung der negativen Effekte von Etikettierungen noch zwei Linien ins Allgemeine:

Wir müssen entweder dafür sorgen, dass Etiketten ausschließlich zur Diagnose und zur Beschreibung besonderer Lernprobleme verwendet, aber niemals einem Kind angeheftet werden dürfen. Oder wir legen fest, dass jedes Kind im Lernen vorangebracht (accelerated) werden muss und ihm ein gut begründetes und auf Vorankommen basierendes Unterrichtsprogramm offen steht (S. 224).

3.3         These

John Hattie spricht sich für eine Schule aus, in der die behinderten Kinder grundsätzlich inkludiert sind und ihre Anwesenheit für alle Schülerinnen und Schüler pädagogisch fruchtbar gemacht wird. Gruppierungen aufgrund von Etikettierungen lehnt er ab.

4 Desintegrierende Maßnahmen

Wer homogene Zusammensetzungen in den Unterrichtsräumen haben will, muss desintegrierende Maßnahmen ergreifen. Am häufigsten geschieht dies durch Klassenwiederholungen, in Hatties Sprache retention.

Seine grundsätzliche Einschätzung dieser Maßnahme:

The only question of interest relating to retention is why it persists in the face of this damning evidence.

Seite 208

So ähnlich konnte man das schon in der ersten Hattiestudie von 2009 lesen. In der neuen und erweiterten Ausgabe wird diese Erkenntnis durch eine erweiterte Faktenlage noch stärker unterstrichen. Hier ein paar Aussagen aus diesem (traurigen) Kapitel Seite 207f.

4.1 Die Thermometerdarstellung

Zur Erläuterung:

  • R = 5 bezeichnet die Robustheit des Ergebnisse auf einer Skala von 1 bis 5, in diesem Fall also maximal belastbar.
  • # meta = 10 benennt die Anzahl der Metastudien zum Sitzenbleiben;
  • # studies = 339 sind die der Metastudie zugrundeliegenden Einzelstudien;
  • est, # people = 50 694 die daran beteiligten Personen;
  • # effects = 4456 die Zählung, wie oft dieser Effekt genannt wurde;
  • se = 0.04 den Standardfehler / standard error;
  • die Effektstärke von -0.24 (der Durchschnitt über alle Effekte liegt bei d = 0.40),
  • die Streuung, gekennzeichnet mit der weißen Blase um die Effektstärke herum

Je weiter ein Effekt im blauen Bereich liegt, desto weniger oder sogar negativ ist er wirksam. Je weiter im roten Bereich, desto besser für den Zuwachs in der Schulleistung.

Für das Sitzenbleiben wird damit deutlich: Es schadet mehr als es nützt!

4.2         Zusammenfassung

This is one of the few areas in education where it is difficult to find any studies with other than a zero or negative effect. Overall, there are negative effects for retained students, and there are more positive effects in the long term for promoted students than for retained students – even when matched for achievement at the time of the decision to retain or promote.

Seite 207

4.3         Weitere Einzelergebnisse

4.3.1        Motivation durch Drohung mit Sitzenbleiben?

Häufig wird mit einem Motivationseffekt argumentiert: Wenn die Drohung des Sitzenbleibens im Raum steht, würden sich die betroffenen Schülerinnen und Schüler mehr anstrengen. Das verneint Hattie:

Clearly, the threat of nonpromotion is not a motivating force for students.

Seite 208

4.3.2        Vergleichsgrößen

Es gibt zwei Vergleichsgrößen – solche, bei denen die Sitzenbleiber mit ihren neuen Klassengenossen verglichen werden (grade comparisons), und solche, bei denen die Wiederholer mit ihren Altersgenossen, die vorrücken durften, verglichen werden (age comparisons). Die Ergebnisse:

The effects from grade comparisons are d = 0.05 and for age comparisons, −0.11. When students are retained, they do as well as peers but still fall behind their peers who were promoted (Goos et al., 2021).

Seite 207

4.3.3        Über alle Fächer hinweg

Vielleicht ist ja die Klassenwiederholung in manchen Fächern positiv und nur in einige negativ? Hattie kann nichts Positives erkennen:

Retention has been found to have a negative effect across all subjects on social and emotional adjustment, and behavior, self-concept, and attitude toward school.

Seite 207

4.3.4        Beweise eindeutig negativ

Trotz aller Rechtfertigungsbemühungen für das Sitzenbleiben, ist die negative Evidenz eindeutig.

Holmes (1989) concluded that finding another educational practice on which the evidence is so unequivocally negative would be difficult. The effects are bad enough for achievement, but when the negative equity and social and emotional effects are added, the situation is dire for retention (retention is highest among boys, racial/ethnic minorities, or less advantaged children) (Manacorda, 2012).

Seite 208

4.3.5        Klassenwiederholungen vermeiden!

Wenn die Schulen und Lehrkräfte angesichts von Schülerinnen und Schülern, die nicht mitkommen, eine gezielte Förderung anbieten würden, würde das mehr bewirken als eine pauschale Wiederholung eines ganzen Schuljahres.

These negative effects are partly caused by schools and teachers not providing optimal interventions for the retained students the first time they were in the grade. Therefore, the students are retained in programs that were not beneficial to them in the previous year.

Seite 208

4.4         These

Ein Schulsystem, das nicht mit heterogenen Schülergruppen umgehen kann oder will und statt gezielter Förderung auf pauschal homogenisierende Maßnahmen wie das Sitzenbleiben baut, erzielt nicht die Schülerleistungen, die es eigentlich befördern will.

5         Die Grammar of Schooling und das Banking Model

Auf der Grundlage der ihm vorliegenden immensen Zahl an Studien: Wie sieht John Hattie in The Sequel das gegenwärtige Grundmodell von Unterricht und wohin soll dieser sich entwickeln?

5.1         Grammar of Schooling

Wie wichtig ihm dieses Thema ist, zeigt sich daran, dass er es bereits im Vorwort angeht und beklagt, dass sich Lehrerinnen und Lehrer oft nicht angemessen weiterentwickeln:

Why is the current grammar of schooling so embedded in so many classrooms, and can we improve it? Why is the learning curve for teachers after the first few years so flat? How can we develop teacher mind-frames to focus more on learning and listening? How can we incorporate research evidence as part of the discussions within schools?

Vorwort

Damit deutet sich bereits der Kontext an, in welchem er die grammar of schooling sieht:

  • Sie ist weit verbreitet.
  • Sie muss verbessert werden.
  • Es hat was mit der Lernkurve von Lehrpersonen (!) zu tun.
  • Die mind-frames der Lehrkräfte müssen weiterentwickelt werden.
  • Forschungserkenntnisse müssen in den Schulen diskutiert werden.

Dazu erfahren wir noch,

  • dass die gegenwärtige grammar of schooling vielen Schülerinnen und Schülern dient, aber beileibe nicht allen (S. 3);
  • dass diese Grammatik sich auf Fakten und Inhalte konzentriert und weniger darauf achtet, wie Schüler denken und Wissen erwerben (S. 150);
  • dass für zu viele Lehrerinnen und Lehrer die Nutzung von Computer-Resourcen nicht zu ihrer Schulgrammatik gehört (S. 398);
  • dass Lehrpersonen es schwierig fanden, nach der Pandemie die alte grammar of schooling wieder umzusetzen (S. 399) – weil in dieser Zeit viele ihrer Aspekte zusammengebrochen sind (S. 428) – es aber dennoch versuchen (S. 429).

Schließlich beklagt er die Perpetuierung dieses Unterrichtsstils:

The current grammar of schooling mired in facts is entrenched, supported by the above-average students (who are winners in this game), reinforced by the tests, promoted by politicians, and reinvented under many guises… We need to question those who arrogate power to themselves as the guardians of knowledge as if it were out there waiting to be absorbed.

Seite 428

Zusammengefasst geht es Hattie darum, dass die Lehrpersonen eine übermäßige Fakten- und Inhaltsfokussierung ablösen dadurch, dass sie das Lernen der Schülerinnen und Schüler in den Mittelpunkt ihrer Aufmerksamkeit stellen.  

5.2         Banking model

Zur Fehlorientierung vieler Lehrkräfte gehört nach Hattie das banking model, eine Bezeichnung, die er im Anschluss an Paulo Freire verwendet. Was versteht er darunter?

Es steht dem in unseren Breiten bekannten Modell des Nürnberger Trichters nahe und wird von Hattie auch als „Kübel“-Modell (bucket) bezeichnet. In leicht ironischer Weise beschreibt er die entsprechende Erziehung als den Akt, ein – von Lehrpersonen großzügig gewährtes – Guthaben für spätere Verwendung anzulegen:

Education is, thus, an act of depositing or banking. The aim is to deposit pearls of wisdom so that the student banks these for later use. Yes, banking implies that knowledge is a gift bestowed by the teacher on the uninitiated, and students should be grateful for these deposits.

Seite 150

Von diesem Punkt aus kritisiert Hattie ein im Westen weit verbreitetes, aber im Grunde viel zu enges (Miss-)Verständnis von Bildung und Exzellenz, in welchem nur solche Schülerinnen und Schüler herausragen, denen es gelingt, in den Domänen Lesen, Mathematik und Wissenschaft auf dieses „Bankguthaben“ einzuzahlen.

In the past 30 years, however, many Western education systems have prioritized the purpose of schooling as aiming to enhance achievement in domains such as reading, mathematics, and science. Many interpretations of the international testing movement (PIRLS, TiMMS, PISA) have reinforced this narrowness. Such narrow excellence leads to curricula being based on achievement in a few privileged domains, and great students are considered those who attain high levels of proficiency (banking) in these domains. We need a much richer, wider, and worthwhile basket of goods that define the value of schooling (Hattie, 2018; Hattie & Larsen, 2020).

Seite 153

Hattie ist es sehr ernst damit, denn er sieht diese Art des Lernenmüssens in einem Zusammenhang mit schulischen Strukturen und der gesellschaftlichen Entwicklung. Diese Denke – oder dieses Narrativ, um aktuelle Begrifflichkeit zu verwenden – hindere die Schülerinnen und Schüler daran, Ideen zu verknüpfen und verführe zu bloßen Versuchen, Inhalte im Kurzzeitgedächtnis zu speichern und dann wieder auszuwürgen. Das alles ziele darauf, unsere Gesellschaft zu replizieren, statt dass die Lernenden in die Lage versetzt würden, ihre eigene Zukunft zu errichten. Solche Schulsysteme seien darauf ausgelegt, zu sortieren, zu klassifizieren und auszulesen und nicht um Lernen und Kritik zu unterstützen.

Most important, this banking model minimizes disequilibrium, rarely engages students in seeing or making relations among ideas, and reduces the challenge of learning to short-term memory, knowing lots, and regurgitating the deposits of teaching. They aim to replicate the society as it was rather than educate students to build their (and our) own futures. These schooling systems are developed more to sort, classify, and select than support learning and critique.

Seite 151

Hattie bezieht sich bei dem banking model ausdrücklich auf Paulo Freire und erwähnt ihn mehrmals in The Sequel.

Spannend daran ist, dass Hattie als Erziehungswissenschaftler, der mit seinem beispiellosen Meta-Projekt die Qualität des Unterrichts in einen Zusammenhang sieht mit den Grundhaltungen von Lehrkräften, mit der Struktur von Schule und schließlich auch mit der Struktur einer Gesellschaft, an dieser Stelle eine deutliche Kritik formuliert:

Es gibt eine ungenügende Haltung von Lehrerpersonen – Hattie nennt es mind frame –, die Unterricht als das Füllen von Kübeln oder das Einzahlen auf ein Bankkonto zu späterem Nutzen versteht.

Auch das PISA-Testwesen schippere in diesem Fahrwasser, indem es das Verständnis von „Leistung“ und das Ziel von Unterricht auf Lesen, Rechnen und Naturwissenschaften verengt und nur die entsprechenden deposits honoriert.

Diesem mind frame wirft er vor, darauf zu zielen, dass die gegenwärtige Gesellschaftsstruktur immer wieder nachgebildet und eine zukunftsgemäße Neu- oder Umstrukturierung verhindert werde.

Wie fundamental ist das denn!

Aus der Tatsache, dass John Hattie diesen zentralen Gedanken von Paulo Freire ausführlich wiedergibt und so stehen lässt, darf man wohl schließen, dass er hinter dessen deutlichen Schul- und Gesellschaftskritik steht.

Ich drucke die Passage aus dem Kapitel School and Society an dieser Stelle ungekürzt ab und hebe Einzelnes hervor:

A fundamental Freirean notion is that learners must understand how the myths of dominant discourses are, precisely, myths that oppress and marginalize them – but which can be transcended through transformative action (Lankshear et al., 1993). Freire critiqued the then (and still) dominant model of schooling: a “careful analysis of the teacher-student relationship at any level, inside or outside the school, reveals its fundamentally narrative character” (p. 72). That is, the teacher narrates and the student is expected to listen. “The teacher talks about reality as if it were motionless, static, compartmentalized, and predictable…. (The teachers) task is to ‘fill’ the students with the contents of his narration” (p. 71). Education claimed Freire is suffering from narration sickness, and there is a dullness of words and a loss of their transforming power. Not surprisingly, students come to believe that learning is listening to these deposits from the bank of knowledge and ideas of others, which then need to be received, filed, stored – for the day someone checks the status of the bank account in each child’s mind. How accurate that is of too many current Western classrooms.

Some students, particularly those above average, prefer this form of teaching and enjoy building large banks of knowledge to be trotted out when needed. They are good at this game, they are the winners, and they want more of it. Some parents welcome teachers who bestow these gifts of knowledge deposits on their children, and many societies welcome this safe, nonchallenging, and manageable model. Countries with testing cultures love to eat facts for breakfast, dinner, and supper. Freire argued that such a model gives a low priority to developing critical consciousness and is the preferred model of the oppressors to preserve the status quo. (Perhaps it is not surprising that many countries do best on international tests of content that overemphasize content and reduce critiquing and relating ideas; see Zhao, 2014). (Hattie, The Sequel 150f)

[Zur Kritik, die Yong Zhao nicht nur am chinesischen Schulwesen übt: https://paedagokick.de/sichtweisen-38-what-works-may-hurt/ ]

5.3         These

John Hattie möchte, dass sich immer mehr Lehrpersonen dahin entwickeln, dass sie ihren Unterricht nicht als ein Füllen von Köpfen mit Wissen aus den drei Bereichen Lesen, Mathematik und Naturwissenschaften sehen, sondern als Anregung zur Auseinandersetzung unter gleichwertigen Partnern mit einem sehr breiten Spektrum an gegenwartswirksamen Inhalten.

6         Die Selbstständigkeit der Schülerinnen und Schüler

Dass die Schülerinnen und Schüler in ihrem Lernen unabhängiger werden sollen von den Lehrkräften, ist keine neue Forderung. Interessant ist die andere Seite der Fragestellung: Können denn die Lehrerinnen und Lehrer den Lernprozess überhaupt aus der Hand geben? Sehen sie ein, dass es wichtig ist? Können sie das mit ihrem Selbstverständnis zusammenbringen?

Hier zunächst einige Aussagen in The Sequel.

Schüler wissen oft schon mehr als 50 Prozent des neuen Stoffes…

In most of the classrooms we have studied, each student already knows about 40–50% of what the teacher is teaching” (Nuthall, p. 24).

Seite 92

… und können sich sehr gut selbst beurteilen, was möglicherweise zahlreiche Tests überflüssig macht.

This shows a remarkably high level of predictability about achievement in the classroom (and should question the necessity of many tests when students already have much of the information the tests supposedly provide).

Seite 85

Schüler können gut zuhause lernen.

The COVID pandemic demonstrated to many students that they could achieve the same amount at home in far less time than they spend in school.

Seite 164, ähnlich 428 und 438

Zugespitzt könnte man behaupten, diese Gedanken gehen in Richtung Entschulung der Schüler:innen, weil etliche von ihnen auch gut alleine zurechtkämen. Diese Idee führt Hattie aber nicht weiter aus, deshalb soll es so offen stehen bleiben.

7         Lehrer:innen werden zu Schüler:innen

Schon in seinem Buch Visible Learning stellte Hattie heraus, wie enorm wichtig es sei, dass Lehrpersonen das Lernen der Schülerinnen und Schüler aus deren Sicht heraus begreifen. In diesem Sinne müssen Lehrer:innen selbst zu Schüler:innen werden, damit sie verstehen, welche Zugänge die Lernenden auf das Neue haben und mit welchen Schwierigkeiten sie dabei eventuell kämpfen müssen. Oder wie Paulo Freire es ausdrückt:

… both are simultaniously teachers and students

P. Freire, S. 45

In The Sequel stellt Hattie diesen Impuls bereits an den Anfang des Buches (Hervorhebung von mir):

The Visible Learning model is based on five premises: the why, how, what, the doing, and the evaluating: (1) Being clear about the purpose – e.g., teachers see learning through the eyes of the students, student become their own teachers, and teachers become their own students.

Seite 43
Seite 44

Was also ausgeschlossen ist, ist die alte grammar of schooling, nämlich den eigenen Unterricht einfach „abzuliefern“ und das Ankommen der Inhalte und deren Verarbeitung komplett in der Verantwortung der Schüler:innen zu sehen. Hattie drängt in The Sequel sehr darauf, den eigenen Unterrichtserfolg selbstkritisch zu evaluieren, am besten gemeinsam.

All actors (teachers, students, families, leaders) need to systematically and deliberately monitor and evaluate the impact of all the factors on the learning lives of the students.

Seite 73

7.1         These

Hattie reduziert die Verantwortung für den Unterrichtserfolg für die (schlecht oder gut lernenden) Schüler:innen und verstärkt sie für die Lehrer:innen, die gemeinsam – und man möchte sagen: gefälligst – darauf zu achten haben, dass sie mit ihrem (schlechten oder guten) Unterrichten auch den Lernzuwachs bewirken, der angestrebt ist.  

8         Fazit

John Hatties erstes großes Buch Visible Learning wurde sehr häufig auf das Schlagwort „Es kommt auf den Lehrer an“ verkürzt. Dass es auch in diesem Werk aus dem Jahr 2009 schon system- und gesellschaftskritische Passagen gab, haben viele Interessierte überlesen. Mein Fazit lautet auch nach der Lektüre dieses sehr umfassenden Werkes:

Es gibt Lehrpersonen und Schulstrukturen, denen es nicht schaden würde, sich von Hattie aufrütteln zu lassen.

9         Literaturhinweise:

Fleischmann, M., Hübner, N., Nagengast, B. & Trautwein, U. (2023). The dark side of detracking: Mixed-ability classrooms negatively affect the academic self-concept of students with low academic achievement. Learning and Instruction 86, 101753. doi:10.1016/j.learninstruc.2023.101753

Freire, P. (2018). Pedagogy of the oppressed (50th Anniversary ed., M. Bergman Ramos, Trans.). Bloomsbury.

Hattie, J. (2010). Visible learning. A synthesis of over 800 meta-analyses relating to achievement (Reprinted.). London: Routledge.

Hattie, J. & Yates, G. C. R. (2014). Visible learning and the science of how we learn (1. publ). London: Routledge.

Hattie, J. (2023). Visible learning. The Sequel ; a synthesis of over 2,100 meta-analyses relating to achievement (First edition). Abingdon, Oxon: Routledge.

Steffens, U. & Höfer, D. (2016). Lernen nach Hattie. Wie gelingt guter Unterricht? (1. Auflage). Weinheim: Beltz, J.

(WDE) Hattie, J. (2016). What doesn’t work In education. The politics of distraction (Open ideas, Updated, January 2016). London [England]: Pearson; Canadian Electronic Library.

(WBE) Hattie, J. (2016). What works best in education. The politics of collaborative expertise (Open ideas at Pearson). London [England]: Pearson; Canadian Electronic Library.

Zhao, Y. (2014). Who’s afraid of the big bad dragon? Why China has the best (and worst) education system in the world. John Wiley & Sons.

Zhao, Y. (2018). What works may hurt – Side effects in education. Teachers College Press.

4 comments On Sichtweisen #24: Welche Schule will John Hattie? (Neues von Hattie IX)

Kommentar verfassen

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.

Site Footer

Sliding Sidebar

Pro-Truth-Pledge


I signed the Pro-Truth Pledge:
please hold me accountable.

Blog per E-Mail folgen

Gib deine E-Mail-Adresse ein, um diesem Blog zu folgen und per E-Mail Benachrichtigungen über neue Beiträge zu erhalten.

Entdecke mehr von Pädagokick

Jetzt abonnieren, um weiterzulesen und auf das gesamte Archiv zuzugreifen.

Weiterlesen