Ich bin nicht sicher, ob das Ergebnis der Staatenprüfung in Bezug auf die Behindertenrechtskonvention auch genug Reichweite erzielt hat. Kurz gefasst: Die Inklusion in Deutschland ist menschenrechtswidrig. In einem sehr guten, sehr sachverständigen und sehr deutlichen Interview mit dem Deutschen Schulportal haben Susann Kroworsch und Britta Schlegel das herausgestellt. Man kann es dort (Link) nachlesen oder hier, ich erlaube mir es in voller Länge wiederzugeben.
UN-Staatenprüfung Inklusion
Förderschulen widersprechen der UN-Behindertenrechtskonvention
Zwei Tage lang dauerte die Staatenprüfung durch die UN zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention in Genf. Die Expertinnen und Experten ließen keinen Zweifel, dass das Förderschulsystem in Deutschland nicht vereinbar ist mit dem Grundsatz der inklusiven Bildung. Britta Schlegel und Susann Kroworsch von der Monitoring-Stelle UN-Behindertenrechtskonvention des Deutschen Instituts für Menschenrechte berichten im Interview über die Staatenprüfung zur Inklusion und was daraus folgt.
Interview geführt von Florentine Anders 06. September 2023. Aktualisiert am 21. September 2023
Schulportal: Sie waren bei der Staatenprüfung zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention durch UN-Fachausschusses in Genf dabei. Wie genau muss man sich diese Gespräche vorstellen?
Britta Schlegel: Die Prüfung, die „Konstruktiver Dialog“ genannt wird, lief über zwei Tage und dauerte insgesamt sechs Stunden. Dabei stellen die Mitglieder des UN-Fachausschusses für die Rechte von Menschen mit Behinderungen der deutschen Staatendelegation eine Reihe von Fragen zur Umsetzung der Konvention in Deutschland. Auch wir als Monitoring-Stelle UN-Behindertenrechtskonvention waren vor Ort, genauso wie Vertreterinnen und Vertreter des Deutschen Behindertenrates, also der deutschen Zivilgesellschaft.
Nach dem Eingangsstatement des Leiters der Staatendelegation, Staatssekretär Rolf Schmachtenberg vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales, kam der Bundesbehindertenbeauftragte Jürgen Dusel zu Wort. Anschließend konnten wir vom Institut für Menschenrechte unsere Eröffnungserkärung abgeben. Dann ging es an die Prüfung, bei der alle Artikel der UN-Behindertenkonvention durchgegangen werden. Artikel 24 zur inklusiven Bildung war am zweiten Tag an der Reihe.
Alle im Raum waren sehr beeindruckt, wie gut die Ausschussmitglieder vorbereitet waren zum Stand der Umsetzung in Deutschland. Sie haben mit ihren Fragen den Finger direkt in die Wunde gelegt. Das musste auch Staatssekretär Schmachtenberg anerkennen. Es war wirklich ein sehr konstruktiver und hoch fachlicher Dialog.
Was sind die wichtigsten Kritikpunkte Ihrerseits im Bereich Bildung und was hat der Fachausschuss der UN bei den Nachfragen davon aufgegriffen?
Susann Kroworsch: Wir haben in unserem Bericht, der parallel zum Staatenbericht der Bundesregierung vorab an den Ausschuss ging, sehr deutlich gemacht haben, dass es in Deutschland praktisch bisher keine Transformation hin zu einem inklusiven Bildungssystem stattgefunden hat. Und die wenigsten Bundesländer haben den politischen Willen, ein solches Schulsystem aufzubauen. Die Mehrheit der Kinder und Jugendlichen mit sonderpädagogischem Förderbedarf wird weiterhin in Förderschulen unterrichtet, in einigen Bundesländern steigt der Anteil der Schülerinnen und Schüler an Förderschulen sogar. Ausnahmen sind die Stadtstaaten Hamburg und Bremen, wo es einen Rechtsanspruch auf inklusive Bildung ohne Einschränkungen gibt. Ansonsten sehen wir Stagnation oder sogar Rückwärtsbewegungen.
Wir haben auch moniert, dass die Bundesregierung den Erhalt der Förderschulen mit dem Elternwahlrecht begründet. Dabei gibt es keine echte Wahlmöglichkeit, solange es kein flächendeckendes inklusives Angebot gibt. Besonders problematisch ist, dass die überwiegende Mehrheit der Schülerinnen und Schüler an Förderschulen die Schule ohne regulären Schulabschluss verlässt. Damit werden Exklusionsketten fortgesetzt, oftmals geht es für diese Schülerinnen und Schüler nur in gesonderte Ausbildungsformen oder Werkstätten. Altersarmut ist da vorgezeichnet.
Besonders problematisch ist, dass die überwiegende Mehrheit der Schülerinnen und Schüler an Förderschulen die Schule ohne regulären Schulabschluss verlässt.
Viele Bundesländer argumentieren, dass Förderschulen Teil des inklusiven Schulsystems sind und dass die UN-Behindertenrechtskonvention die Abschaffung dieser Struktur gar nicht vorsehe. Konnte der UN-Fachausschuss dieser Argumentation folgen?
Schlegel: Nein, das haben die Fragen und Ausführungen des UN-Komitees ganz deutlich gezeigt. Sie haben sehr unmissverständlich und ausdrücklich der Auffassung, dass die Konvention nicht zur Abschaffung der Förderschulen verpflichte, widersprochen. Und das wurde an verschiedenen Stellen durch verschiedene Ausschussmitglieder wiederholt. Der Bereich der Förderschulen wurde mit sehr großer Besorgnis thematisiert.
Das Ausschussmitglied Markus Schefer, Professor für Staats- und Verwaltungsrecht aus der Schweiz, hatte in seinem Eingangsstatement die separaten Strukturen in Deutschland für Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf sogar mit der einstigen Trennung von Schwarzen und Weißen in den USA verglichen. Er sagte, dass die Auffassung in Deutschland, mit den Sonderschulen Schutzbereiche zu bieten, um auf die besonderen Bedarfe eingehen zu können, falsch sei und dem Grundgedanken der UN-Behindertenrechtskonvention widerspreche.
Das Ausschussmitglied Markus Schefer, Professor für Staats- und Verwaltungsrecht aus der Schweiz, hatte in seinem Eingangsstatement die separaten Strukturen in Deutschland für Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf sogar mit der einstigen Trennung von Schwarzen und Weißen in den USA verglichen.
Das Manko ist, dass in Deutschland Behinderung nicht als ganz normaler Teil der menschlichen Diversität gesehen wird. Würde man das anerkennen, bräuchte es keine Sonderstrukturen. Die Stimmen in Deutschland, die sagen, dass die UN-Behindertenrechtkonvention nicht einfordern würde, Förderschulen abzuschaffen sind damit widerlegt. Aufgrund der sehr deutlichen Einlassungen dazu gehen wir davon aus, dass dies auch in den schriftlichen Empfehlungen des UN-Fachausschusses, die voraussichtlich noch im September veröffentlicht werden, deutlich werden wird.
Schulportal: Warum sehen Sie das Elternwahlrecht so kritisch? Wäre das nicht in Ordnung, wenn es eine gute inklusive Schule neben der Förderschule geben würde?
Kroworsch: Wenn es ein gutes inklusives Schulsystem gebe, wären die Förderschulen obsolet. Wenn überhaupt, könnte es Förderschulen ja nur in einer Übergangsphase geben. Solange es sie gibt, muss man aber eine echte Wahl haben. Die gibt es jedoch nicht.
Schlegel: Das Elternwahl ist tatsächlich nur ein Scheinwahlrecht. Es wird als politisches Instrument ins Feld geführt, um die Förderschulen zu erhalten. In vielen Bundesländern wird kaum etwas getan für eine gute inklusive Schule, um dann zu sagen, es funktioniert nicht mit der Inklusion und deshalb brauchen wir die Förderschulen. sechs von zehn Kindern mit sonderpädagogischem Förderbedarf besuchen derzeit Förderschulen. Das heißt, die Ressourcen werden nicht in das inklusive Schulsystem für alle umgelagert. Wohnortnah gibt es oft keine qualitativ hochwertige inklusive Schule. Den Eltern wird nach der Diagnostik eines Förderbedarfs häufig von vornherein nahegelegt, ihre Kinder an die Förderschule zu geben, zum Wohle ihres Kindes. Viele Eltern werden entmutigt, den inklusiven Weg zu gehen.
Das Elternwahl ist tatsächlich nur ein Scheinwahlrecht. Es wird als politisches Instrument ins Feld geführt, um die Förderschulen zu erhalten
Ist es denn nicht nachvollziehbar, dass Eltern den inklusiven Weg scheuen unter den aktuellen Umständen? Sie kritisieren ja selbst, dass die Lehrkräfte an den Regelschulen nicht genügend ausgebildet sind für den inklusiven Unterricht. Und auch die Barrierefreiheit fehlt oft.
Kroworsch: Doch, das ist in der Tat nachvollziehbar. Aber genau deshalb, weil die Eltern eine gute Förderung ihrer Kinder nur in der gesonderten Schulform erwarten, muss Deutschland endlich umsteuern und Alternativen bieten. Die sächlichen und personellen Ressourcen für gute inklusive Schulen sind ja vorhanden, nur sie stecken eben im Förderschulsystem. Deshalb ist aus unserer Sicht der Systemwechsel so wichtig. Natürlich braucht es darüber hinaus auch die Fortbildung der allgemeinen Lehrkräfte. Wenn es multiprofessionelle Teams an der Regelschule gibt, auch mit Therapiemöglichkeiten, dann kann man auch auf die verschiedenen Bedarfe der Kinder und Jugendlichen sehr gut eingehen. Auf lange Sicht spart das sogar Kosten, wenn nicht zwei Schulen nebeneinander aufrechterhalten werden müssen.
Die sächlichen und personellen Ressourcen für gute inklusive Schulen sind ja vorhanden, nur sie stecken eben im Förderschulsystem.
Frau Schlegel, Sie sagten, in Deutschland sei der eigentliche Inklusionsgedanke noch nicht ins Bewusstsein durchgedrungen ist, nach dem Behinderung Teil der menschlichen Diversität ist. Haben wir ein Verständnisproblem?
Schlegel: Ja, das war auch ein zweiter grundsätzlicher Kritikpunkt, der in der Prüfung eine Rolle spielte. Die Sondersysteme für behinderte Menschen in Deutschland sind aus einem Fürsorgegedanken heraus entstanden. Die Grundlagen für unseren Wohlfahrtsstaat wurden im letzten Jahrhundert gelegt. Ausgeprägter als in anderen europäischen Ländern wurden in Deutschland Schutzräume zum Wohle der behinderten Menschen geschaffen.
Das Problem dabei ist, stellvertretend für Menschen mit Behinderungen zu denken und zu entscheiden, was für sie das Beste wäre. Das spricht gegen die Selbstbestimmung der behinderten Menschen und damit schließlich auch gegen ihre Würde. Der Ansatz der Inklusion ist ein ganz anderer: Beeinträchtigungen, ganz gleich welcher Art, werden nicht als Defizite gesehen, die einer besondere Behandlung bedürfen. Stattdessen schaffen wir ein inklusives System für alle Menschen, in dem Nachteile ausgeglichen werden.
Kroworsch: Besonders diskriminiert im Zugang zur allgemeinen Schule sind Kinder aus Familien mit Migrationsgeschichte. Studien zeigen, dass Kinder mit sonderpädagogischen Förderbedarf aus diesen Familien überproportional häufig an Förderschulen vertreten sind. Wir sehen im Förderschulsystem auch verstärkende Effekte von Mehrfachbenachteiligung bestimmter Personengruppen.
Besonders diskriminiert im Zugang zur allgemeinen Schule sind Kinder aus Familien mit Migrationsgeschichte.
Schon nach der ersten Prüfung 2015 gab es eine Rüge auch bezüglich der schulischen Inklusion. Damals hieß es, dass die Zahl der Förderschulen weiter abgebaut werden soll. Besteht die Gefahr, dass auch diesmal die Kritik ignoriert wird?
Schlegel: Die Kritik an dem Förderschulsystem gab es tatsächlich auch schon 2015. Der Auffassung, dass Förderschulen Teil eines inklusiven Systems seien, hat der Ausschuss nun noch einmal eine klare Absage erteilt. Die Bundesregierung hat die UN-Behindertenrechtskonvention ratifiziert und trägt damit auch Verantwortung für die Umsetzung.
Kroworsch: Aus unserer Sicht steht jetzt auch der Bund in der Verantwortung. Die Bundesregierung hat die UN-Behindertenrechtskonvention ratifiziert und trägt damit auch Verantwortung für die Umsetzung. Wir haben dazu verschiedene Vorschläge gemacht, etwa im Grundgesetz den kooperativen Föderalismus zu stärken. Wir brauchen einen „Pakt der Inklusion“, in dem der Bund eine steuernde und koordinierende Funktion übernimmt. Wir brauchen gemeinsame länderübergreifende Standards mit klaren zeitlichen Zielen, die auch finanziell unterlegt sind.
Wir brauchen einen „Pakt der Inklusion“, in dem der Bund eine steuernde und koordinierende Funktion übernimmt.
Hat die UN Sanktionsmöglichkeiten, wenn Deutschland der UN-Behindertenrechtskonvention nicht nachkommt?
Kroworsch: Nein, Sanktionen gibt es nicht. Es ist ein Prinzip, das auf „naming and shaming“ setzt. Man geht davon aus, dass niemand in der internationalen Staatengemeinschaft schlecht dastehen will. Am Ende ist man auf ein Goodwill der Vertragsstaaten angewiesen.
Wie geht es jetzt weiter?
Schlegel: Nach den sechs Stunden der Staatenprüfung hat der Staat noch die Möglichkeit binnen 24 Stunden schriftliche Antworten auf die Fragen des Ausschusses nachzusenden und seine Position ausführlicher darzustellen. Bis zum 8. September beschließt der Ausschuss die Abschließenden Bemerkungen für Deutschland. Dort wird es auch Empfehlungen zu Artikel 24 geben. In der zweiten Septemberhälfte werden diese Empfehlungen veröffentlicht. Wenn es Bereiche besonderer Besorgnis gibt, ist der Staat verpflichtet, innerhalb eines Jahres zurückzuberichten, welche Maßnahmen ergriffen wurden. 2015 war das beispielsweise der Bereich des Gewaltschutzes.
Wir als Monitoring-Stelle würden uns in diesem Jahr wünschen, dass auch die inklusive Bildung als Bereich besonderer Besorgnis aufgeführt wird. Insgesamt können das bis zu drei Bereiche sein. Die nächste Staatenprüfung findet voraussichtlich erst wieder in etwa acht Jahren statt. Im nationalen Rahmen werden die Bemerkungen des UN-Fachausschusses Zielvorgabe für die Inklusionspolitik der nächsten Jahre sein. Auch die Zivilgesellschaft wird die Bemerkungen nutzen, um die Inklusion in Deutschland voranzutreiben.
Auch die Zivilgesellschaft wird die Bemerkungen nutzen, um die Inklusion in Deutschland voranzutreiben.
Wie steht denn Deutschland im europäischen Vergleich bei der Umsetzung der Inklusion im Bildungsbereich da?
Kroworsch: Wenn man sich die Exklusionsquote anschaut, also den Anteil der Kinder und Jugendlichen mit sonderpädagogischem Förderbedarf, die außerhalb der Regelschule unterrichtet werden, gehört Deutschland ganz klar zu den Schlusslichtern in Europa. In Deutschland liegt diese Quote bei 4,5, europaweit bei 1,55. Italien beispielsweise hat eine Exklusionsquote von null Prozent, weil hier das System schon in den 1970er Jahren umgestellt wurde. Die skandinavische Länder haben Quoten von 0,1 oder 0,2 Prozent. In Ländern mit niedriger Exklusionsquote findet ein offenerer Umgang mit Divesität statt, unter anderem durch binnendifferenziertes Lernen.
Italien hat eine Exklusionsquote von null Prozent, Deutschland von 4,5 Prozent, Europa insgesamt 1,55 Prozent
Schlegel: Es feht eine generelle Bewusstseinsbildung in Deutschland. Lehrkräfte, die Sonderpäadagogik studieren, haben meist klar das Ziel vor Augen, in einer Förderschule zu unterrichten, weil sie überzeugt sind, das sei das Beste für die Kinder. Stattdessen müssen gezielt Lehrkräfte für die Inklusion an Regelschulen ausgebildet werden. Wir müssen schon in der Lehrkräfteausbildung ansetzen und die Studierenden für eine gute inklusive Schule motivieren.
Die Personen
Britta Schlegel ist Soziologin und leitet die Monitoring-Stelle UN-Behindertenrechtskonvention des Deutschen Instituts für Menschenrechte.
Susann Kroworsch ist Juristin. An der Monitoring-Stelle UN-Behindertenrechtskonvention des Deutschen Instituts für Menschenrechte ist sie unter anderem für den Bereich Inklusive Bildung zuständig.