Man nennt es tatsächlich “Kannibalisierung”, wenn sich Schulstandorte gegenseitig Schüler:innen wegnehmen. Hier ein aktuelles Beispiel für Kannibalismus auf Systemebene.
Was ist passiert?
Noch nicht viel. Die FDP-Fraktion hat im Bayerischen Landtag einen Antrag eingebracht: “Modellversuch Wirtschaftsschule ab der 5. Klasse”. Hier die genaue Formulierung des Antrags.
Die Staatsregierung wird aufgefordert, im Zuge der angesetzten Weiterentwicklung der
Martin Hagen, Matthias Fischbach, Julika Sandt, Alexander
Profile und Lehrpläne der bayerischen Wirtschaftsschulen die Einführung eines Schulversuchs „Wirtschaftsschule ab der 5. Jahrgangsstufe“ zu ermöglichen.
Muthmann und Fraktion (FDP)
Dann folgt diese Begründung:
Die bayerischen Wirtschaftsschulen werden durch die fehlende 5. Jahrgangsstufe strukturell benachteiligt. Diese Schulart ist einzigartig, weil sie schon früh wirtschaftliche Kenntnisse vermittelt und mit dem Übungsunternehmen zu einer anwendungsorientierten und praxisnahen beruflichen Grundbildung beiträgt. Die Wirtschaftsschule ist die kleinste Schulart im bayerischen Schulsystem und aufgrund sinkender Schülerzahlen landesweit vom Aussterben bedroht. Während sie 2008 noch über 25 000 Schüler besuchten, sind die Zahlen seitdem um fast 10 000 gefallen. Diesem Trend kann mit der Einführung einer 5. Klasse entgegengewirkt werden, da durch den Besuch der Wirtschaftsschule ab der 5. Klasse ein doppelter Schulwechsel nach der Grundschule entfallen würde. Somit wäre ein nahtloser Übertritt gewährleistet und Eltern und Schüler müssten nicht kurz nach dem Wechsel auf eine weiterführende Schule wieder vor die belastende Entscheidung eines Schulwechsels gestellt werden.
Was ist daran problematisch?
Weitere Schwächung der Mittelschule
Diese Schwächung konnte ich zu Schuljahresbeginn live miterleben, denn mehr unserer Fünftklässler:innen als in den Jahren zuvor haben zur Realschule und zur benachbarten privaten Wirtschaftsschule gewechselt. Nun bin ich dieser Wirtschaftsschule nicht böse, der Leiter ist ein guter Freund. Das Problem ist, dass der Zugewinn der einen Schule gleichzeitig der Verlust der anderen ist. Und das ist halt die angesprochene “Kannibalisierung”.

Weitere Zuspitzung auf den Übertrittszeitpunkt
Erst vor kurzem hatte ich ein Gespräch mit einer Viertklassmutter, gleichzeitig Gymnasiallehrerin. Sie meinte, dass der Übertritt in Bayern dadurch zu einem großen Problem wurde, dass die Realschule, die zu früheren Zeiten erst ab Klasse 7 begann, nun auch ab Klasse 5 starten sollte. Damit wurde der Druck auf Eltern, Kinder und Lehrkräfte in der 4. Klasse noch um einiges stärker. Wenn nun auch die Wirtschaftsschule ab Jgst. 5 beginnen soll, dann wird der Druck an dieser Stelle nur noch größer. Ob die FDPler über ihren Vorschlag mal mit anderen als den Wirtschaftsschulleuten gesprochen haben?
Selbstwiderspruch
Als Schulmensch ist man es gewohnt, dass nicht alle Entscheidungen des Kultusministeriums von wasserdichter Folgerichtigkeit geprägt sind. Aber was sollen die ständigen Lippenbekenntnisse zur “Stärkung der Mittelschulen”, wenn man sie auf der anderen Seite gleich wieder schwächt? Wie kann man dieses Verhalten erklären?
Politisch: Der Kultusminister (Freie Wähler) will etwas anderes als die wahrhaft Mächtigen im Freistaat (die CSU-Fraktion).
Kommunikativ: Der Kultusminister will es allen Seiten recht machen. Wie sagen die Engländer so schön: He wants to have his bread buttered on both sides. Dazu gibt es dann noch den abgegriffenen Spruch: “Politik ist die Kunst des Möglichen.”
He wants to have his bread buttered on both sides.
Engl. Sprichwort
Bildungsstrukturell: Es ist normal, dass die Mittelschule (ehem. Hauptschule) hinten runter fällt, denn erfahrungsgemäß bellen hier die Hunde am leisesten (sie jaulen nur ein bisschen).
