Es gibt viele Möglichkeiten, Kindern im Unterricht weh zu tun. Leider ist uns Lehrkräften das oft gar nicht bewusst. Oder wir wollen es nicht wahrhaben. Und wir finden Ausreden. Es folgen einige wenige protokollierte Unterrichtsszenen aus dem Forschungsprojekt INTAKT, in welchem mehr als 10 000 Szenen dokumentiert wurden.
Tellisch, C. (2016). Serielle Stigmatisierungen von Schüler/innen in Lehrer-Schüler-Interaktionen. Diskurs Kindheits- und Jugendforschung 11 (2), 209–223.
Die beiden Kinder
Bei den Beispielen handelt es sich um zwei protokollierte Folgen pädagogischer Interaktionen mit zwei Kindern, einem neunjährigen Mädchen mit Inklusionsstatus und einem neunjährigen Jungen ohne Inklusionsstatus. Beide besuchen eine staatliche Grundschule in einem heterogenen Einzugsgebiet.
Was wird unter “Stigmatisierung” verstanden
Der soziologische Begriff der Stigmatisierung meint einen Prozess der negativen Zuschreibung, also der „Kategorisierung einer Person durch gesellschaftlich oder gruppenspezifisch negativ bewertete Attribute, d.h. durch (vermeintliche) Eigenschaften, welche die betreffende Person entwürdigen” (Fuchs-Heinritz u.a. 1994). Solche Typisierungen erfolgen laut Lösel (1975) oftmals aufgrund gesellschaftlicher Stereotype. Diese sind meist nur auf subjektiven Annahmen beruhend. Diese impliziten Theorien sind einem jeden Menschen eigen und beruhen auf gesellschaftlichen Normen (vgl. Ulich/Mertens 1973, S. 43ff.). Auch die Haltung von Lehrern ist geprägt von persönlichen Theorien über Schülerpersönlichkeiten. (Tellisch 2016, S. 211)
Die Nachhaltigkeit negativer Zuschreibungen
Manche Lehrer:innen nehmen bei bestimmten Schülern vor allem negative Verhaltensweisen wahr. Solch ein negatives Merkmal (z.B. Lernschwäche) wird dann oftmals mit anderen unvorteilhaften Eigenschaften eines Menschen in Verbindung gebracht (z.B. seiner sozialen Herkunft).
So entsteht bald eine ganze Theorie durch Aneinanderreihungen wahrgenommener und zugeschriebener vermeintlich negativer Verhaltensweisen, aus denen der Schüler kaum noch ausbrechen kann. Solche Zuschreibungen greifen gravierend in die Persönlichkeitsentwicklung des Kindes ein, sodass das Selbstbild und das moralische Selbstbewusstsein nachhaltig beeinflusst werden können. Dies ist oft schädlich für das weitere Leben… Das Kind gewinnt ein negatives Selbstbild von sich. (Tellisch 2016, S. 211)
Selbsterfüllende Prophezeiungen
Der Prozess, wie sich die Erwartungen einer Lehrkraft auf Kinder so auswirken können, dass diese dann in die Vorstellungen hineinwachsen, wurde hier schon ausführlich beschrieben. Christin Tellisch stellt das so dar:
„Schüler, die von Lehrern und Mitschülern als leistungsschwach, unbeliebt und delinquent eingestuft werden, halten sich im Vergleich zur jeweils entgegengesetzten Gruppe für fauler, unaufrichtiger, unaufmerksamer, unordentlicher, unfreundlicher, unruhiger, eingebildeter, geltungsbedürftiger, aggressiver und streitsüchtiger“ (S. 98). Dieses negative Bild wird aufgrund der externen Erwartungen seitens des Lehrers, wie Rosenthal und Jacobson bereits 1971 feststellen konnten, von dem Kind immer wieder erfüllt (vgl. Pygmalion-Effekt nach Rosenthal/Jacobson 1971, S. 421ff.). Man spricht in diesen Fällen von Erwartungseffekten bzw. von sich selbst erfüllenden Prophezeiungen: Die Existenz von Erwartungen des Lehrers erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass das Kind diese erfüllen wird. (Tellisch 2016, S. 211–212)
Verhalten unter Beobachtung
Das im Folgenden beschriebene (leider negative) Lehrerverhalten wurde in Beobachtungssituationen gezeigt. Was das wohl für unbeobachtete Situationen bedeuten mag?
Es ist zu berücksichtigen, dass in den Unterrichtsstunden stets mindestens ein Beobachter des Forschungsteams anwesend war und dennoch solche Stigmatisierungsprozesse, wie sie im Folgenden geschildert werden, beobachtet werden konnten. Wie Lehrkräfte sich verhalten, wenn keine Beobachter anwesend sind, ist eine immer wieder diskutierte offene Frage. (Tellisch 2016, S. 212)
Bei Justus wiesen von den 46 beobachteten Szenen keine sehr anerkennende, sieben leicht anerkennende, 15 neutrale, 14 leicht verletzende, sechs sehr verletzende und vier ambivalente Qualität auf.
Bei Melanie konnte keine anerkennende oder sehr anerkennende Szene beobachtet werden. Insgesamt weisen von den 16 Szenen neun neutrale, drei leicht verletzende, vier sehr verletzende und eine ambivalente Qualität auf.
Szenenbeschreibung 1 Justus
Zu Stundenbeginn empfängt die Lehrerin die Schüler freundlich: „So, Kinder, eine Stunde haben wir noch. Ihr habt heute schon toll gearbeitet, auch Justus. Und jetzt, Justus, versuchst du nochmal mitzumachen und heut Abend früher ins Bett zu gehen.“ Kurz darauf erkundigt sich die Lehrerin bei Justus nach seinen Einschlafgewohnheiten. Der Junge beschreibt, dass er jeden Tag um 19 Uhr ins Bett gehe, dann aber nicht einschlafen könne. Daraufhin fragt die Lehrerin leicht ungeduldig und Justus teilweise unterbrechend, was er denn vor dem Einschlafen mache und ob er „etwa am Computer“ sitze. Der Junge bestreitet dies, es stellt sich im Laufe des Gesprächs aber schließlich heraus, dass er sich meist vor dem Zubettgehen mit einem Nintendo-Spiel beschäftigt. Als die Lehrerin dies hört, stellt sie unumwunden fest: „Das ist Überreizung. Ich könnte auch nicht schlafen so. Kein Wunder. Wenn ich abends jogge, gehe ich noch kurz unter die Dusche und sobald ich auf dem Bett sitze, schlafe ich auch schon ein.“ Durch einen Fingerzeig nach draußen unterstreicht sie ihr Plädoyer für viel Bewegung an der frischen Luft, insbesondere jetzt im Frühling. Der Beobachter notierte in seiner Introspektion Betroffenheit über das Lehrerverhalten. (Tellisch 2016, S. 213)
Szenenbeschreibung 2 Justus und Nico
Justus und Nico streiten sich, da beschwert sich Justus bei der Lehrerin: „Nico nervt mich.“, worauf die Lehrerin klar Partei ergreift: „Nico nervt dich. Nico macht gar nichts, der ist nämlich ein süßer Schnuckel!“ [Nico demonstrativ heftig umarmend und an sich drückend, während Justus zunächst daneben steht und dann betrübt an seinen Platz zurück schleicht]. Noch in der Umarmung flüstert Nico der Lehrerin zu, dass Justus ihn getreten habe, woraufhin die Lehrerin sofort Justus diesbezüglich beschuldigt und ihn ermahnt, das Treten zu unterlassen. Da will sich der Junge erklären, was die Lehrerin jedoch strengen Tones unterbindet: „Justus, du musst immer das letzte Wort haben. Kannst du nicht einfach mal sagen: ‚Ja, Frau Klaus, ich merk‘s mir.‘?!“ Nun setzt sich Justus, den Kopf zwischen den aufgestützten Händen vergraben, an seinen Platz. Der Beobachter notierte in seiner Introspektion, dass ihm Justus unendlich leid tut und er ihn in den Arm nehmen und trösten möchte. (Tellisch 2016, S. 214)
Szenenbeschreibung 3 Justus
Justus meldet sich, während die anderen Kinder ihrer Stillarbeit nachgehen. Mit erhobener Stimme und genervtem Ton fragt die Lehrerin ihn: „Was willst denn du?!“, „Bin fertig.“, murmelt darauf der Junge und die Lehrerin entgegnet schnippisch: „Ja, du hast eher angefangen, das macht einen krank, lass doch mal die anderen Kinder jetzt arbeiten.“ (Tellisch 2016, S. 215)
Szenenbeschreibung 4 Melanie
Beim Anblick von Melanies Mathe-Hefter ruft die Lehrerin angewidert und in großer Lautstärke aus: „Igitt, Melanie, guck doch mal! Wie sieht denn der aus? Das geht nicht, das ist ja eklig! So kann das nicht aussehen!“ Das Mädchen sitzt dabei mit hoch gezogenen Schultern, den Kopf dazwischen verbergend, sichtlich beschämt an ihrem Platz und lässt den „Redeschwall“ der Lehrkraft über sich ergehen. (Tellisch 2016, S. 217)
Szenenbeschreibung 5 Melanie und Hanna
Hanna und Melanie sind im Sportunterricht mit dem Dreierhopp dran. Nachdem Hanna überschwänglich von der Sportlehrerin gelobt wird: „Super, Hanna!“, springt Melanie kraftlos und erreicht so eine sehr geringe Weite. Dann geht sie schnell wieder an die Linie zurück und sieht die Lehrerin hilfesuchend an. Diese sieht ihrerseits gespannt der Spielentwicklung im Feld nebenan zu, schiebt Melanie zur Seite, so dass Hanna den nächsten Sprung ausführen kann. Ohne Melanie Anleitung zum Springen anzubieten, benotet sie sie schließlich mit einer 5. Daraufhin geht Melanie konsterniert dreinschauend zu den anderen zurück. (Tellisch 2016, S. 218)

Was den Kindern vermittelt wird
Die beiden hier ausgewählten Beispiele weisen Gemeinsamkeiten auf. Beide, Justus und Melanie, erfahren serielle Verletzungen durch Lehrkräfte. Die Feldvignetten zeigen, wie stigmatisierte Kinder negative Zuschreibungen bezüglich ihres Verhaltens, ihrer Materialien, ihrer Leistungen, ihrer Freizeitbeschäftigungen und ihres Elternhauses sowie ihrer Stellung in der Klassengemeinschaft erhalten. Positive Rückmeldungen zu schulischen Leistungen kommen gar nicht oder nur ausnahmsweise und ambivalent vor, so dass die Kinder daran gehindert werden, ein positives Selbstbild als Schüler bzw. Schülerin aufzubauen und sich als anerkanntes Mitglied der Schulgemeinde erfahren zu können (vgl. Krappmann 2015). Indem Ablehnung und Ekel durch die Lehrkräfte expressiv klassenöffentlich geäußert werden, wird den Peers vermittelt, dass Diskriminierungen zulässig zu sein scheinen und sie werden implizit animiert, auch ihrerseits diese Kinder zu diskriminieren (vgl. Fuchs-Heinritz u.a. 1994; Lösel 1975). Die wiederholten aversiven Lehreräußerungen verhindern, dass die Kinder Schule als einen guten Ort und Lehrkräfte als vertrauenswürdige Menschen erleben können. Den Kindern Melanie und Justus wird durch stigmatisierendes Lehrerhandeln der Zugang zu Bildung erschwert. Eine „Pädagogik der Vielfalt“ und damit der Anerkennung, wie sie von Prengel gefordert wird, findet in den untersuchten Szenen nicht statt (vgl. Prengel 1995, 2013). (Tellisch 2016, S. 220)
Mögliche Ursachen des Fehlverhaltens
In der Einleitung habe ich angedeutet, dass es Gründe oder Ausreden gibt, mit denen wir unser Fehlverhalten entschuldigen. Christin Tellisch zählt eine ganze schmerzhafte Serie auf, die ich hier stichpunktartig aufliste:
- Die Bandbreite reicht von einer gestörten Beziehung der Lehrkraft zu bestimmten Schülerinnen und Schülern,
- stigmatisierenden Schülerbildern,
- einem hohen Stresspegel beispielsweise aufgrund von Schülerverhalten,
- dem Druck des zentralen Rahmenlehrplans,
- der begrenzten Unterrichtszeit,
- der Überforderung beispielsweise aufgrund einer mangelnden pädagogischen Professionalität
- oder aufgrund eines fehlenden Einfühlungsvermögens
- bis hin zu einer eigenen beruflichen Unzufriedenheit
- oder möglichen Schwierigkeiten im privaten Bereich der Lehrkraft.
- Desweiteren könnte … die Vermutung aufkommen, dass der Lehrer seine Schüler nicht gut genug kennt,
- ihre Interessen nicht berücksichtigen
- sowie eine individuelle Leistungsentwicklung nicht fördern kann und daher der Aufbau einer anerkennenden Beziehung schwierig zu sein scheint.
- Anzunehmen ist, dass den zu verletzendem Handeln neigenden Lehrpersonen grundlegendes Wissen über Kinderrechte
- und über angemessenes pädagogisches Handeln fehlt.
- Möglich sind darüber hinaus auch schwierige Rahmenbedingungen wie das Fehlen einer weiteren Lehrkraft, um Inklusion wirklich gerecht werden zu können. (Tellisch 2016, S. 221)
Gegensteuern
Wie kann man dem begegnen? Vieles ist vermutlich in die Persönlichkeit der Lehrer:in fest eingewachsen – sei es, dass fest geprägte Menschenbilder das Verhalten steuern; sei es, dass den Lehrkräften das eigene Verhalten nicht (gern) bewusst wird. Die Vorschläge von Christin Tellisch sind nur ein Anfang, weisen aber in die richtige Richtung:
Eine fachliche Aus- und Weiterbildung aller Lehrkräfte in diesem Bereich, verbunden mit stetiger Reflexion des eigenen Lehrerhandelns, Supervision, Teamteaching und gegenseitiger Hospitation unter Kollegen könnten erste Ansatzpunkte sein, um diesem Problem gegenzusteuern. (Tellisch 2016, S. 221)