Die bayerische Mittelschule auf dem Land steckt in großen Schwierigkeiten. Hier ein paar Beispiele dafür, dass nur an untaugliche, weil einander widersprechende, Lösungen gedacht wird, anstatt auch mal einen Systemwechsel zu denken.
Unser leider nicht im Schulsystem erfahrener neuer bayerischer Kultusminister wird jeden Tag mit anderen Fragen konfrontiert. Hier ein neues Beispiel:
Die Problemstellung
[Problemanzeige] Ein Tagungsteilnehmer schilderte folgende Situation: Es gebe in den Mittelschulverbänden, die vor einigen Jahren eingeführt wurden, immer wieder kleine Mittelschulen auf dem Land, die weniger als 100 Heranwachsende betreuen. Dort könne beispielsweise pro Jahrgangsstufe nur noch eine einzige Klasse gebildet werden. Darunter hätten letztlich die Schüler zu leiden, da nur ein eingeschränktes Angebot – beispielsweise in der Berufsvorbereitung – geleistet werden könne.
[Lösung 1] Ein anderer Versammlungsteilnehmer ging einen Schritt weiter. Er sprach recht deutlich aus, welche Lösung er für diese Problematik sieht: Die Anzahl der Mittelschulen müsse abnehmen und sich den Realschulen annähern. “Es gibt vielleicht fünf sinnvolle Mittelschulstandorte pro Landkreis”, sagte er. Wenn man die Schulform Mittelschule auf Dauer stärken wolle, müsse man diesen Schritt gehen.
[Lösung 2] Es kamen aber auch Gegenstimmen zur Sprache. Es sei wichtig, die Mittelschule im ländlichen Raum zu erhalten. Viele Eltern seien sehr froh darüber, eine Schule vor der Haustüre zu haben. Und die Betriebe vor Ort würden stets sehnsüchtig auf die Absolventen ihrer jeweiligen Mittelschule warten.
[Lösung 3] Piazolo und der ebenfalls anwesende Ministerialdirigent Walter Gremm betonten, dass man diese Diskussion sehr vorsichtig führen müsse, um nicht ungewollt in eine grundsätzliche Debatte über den Wert der Schulform Mittelschule hineinzuschlittern. Das wolle man nämlich auf keinen Fall, so Piazolo, die Mittelschule sei wichtig. Und die Koalition habe ganz klar festgelegt, dass man die flächendeckende Schulstruktur auf dem Land erhalten wolle, so der Minister. Ein Vorschlag ging in die Richtung, an kleinen Mittelschulen fünfte und sechste sowie siebte und achte Jahrgangsstufe zu kombinieren. Das funktioniere an Grundschulen ganz gut, könne aber schwierig werden, je näher man an Differenzierungen wie den M-Zug komme, antwortete Gremm.
Wenn ich das mal zusammenfassen darf:
Das Problem ist, dass viele Mittelschulen – nicht nur auf dem flachen Land – so klein sind, dass sie nicht sehr “wirtschaftlich” geführt werden können. Siehe dazu auch die Ausführungen zum Mittelschulsterben.
Lösung 1 will die kleinen Schulen schließen, um so zu großen und wirtschaftlichen Mittelschulen zu kommen.
Lösung 2 will das genaue Gegenteil, nämlich die kleinen Schulen in der Fläche erhalten, weil sie ja wichtig seien für eine Kommune.
Lösung 3 (KM) unterstützt die Alternative 2 und denkt dabei sogar an jahrgangsgemischte Klassen in der Mittelschule: 9 Schüler in der 7. plus 6 Schüler in der 8. geben 15 Schüler in der gemischten 7./8. Klasse usw.
Damit gerät man allerdings in einen System-Error, weil das Konzept der M-Züge ja im Grunde eine einzelne (z.B. 7.) Klasse auf zwei Züge aufteilt, nämlich einen Regel-7 und eine M7. “M” steht dabei für “Mittlerer Schulabschluss”. Das heißt, das System verlangt, die wenigen Schüler auch noch zu differenzieren und auf zwei Leistungsgruppen aufzuteilen.
Bisher hat das System auf diese Weise reagiert:
Es gibt sowohl Regelklassen als auch M-Klassen. Die Regelklassen bleiben vor Ort, während die M-Klassen sich an den größeren Standorten konzentrieren. Die Folge hat sich bereits in aller Deutlichkeit gezeigt: Die M-Standorte gewinnen an Attraktivität und Schülern, weil sie ja die Möglichkeit des Mittleren Schulabschlusses anbieten. Die R-Standorte verlieren weiter Schüler.
Ich behaupte, dass die Beteiligten ebenso wenig wie die Betroffenen und die Entscheider aus diesen Dilemmata herausfinden, so lange sie nur innerhalb der Grenzen des Systems denken.
Die Antworten liegen auf der Hand:
Gerald Hüfner…
… hat das für den BLLV schon im Jahr 2011 für alle nachvollziehbar durchgerechnet und eine Prognose für sämtliche bayerischen Landkreise erstellt (PDF ist unten verlinkt); er kommt zu folgenden Schlüssen:
Bayern auf dem Irrweg
Bayern geht einen Irrweg, wenn es diese Problematik aus der Landespolitik ausblendet. Das Schulsterben ist weniger demografisch bedingt als hausgemacht. Andere Flächenstaaten machen es uns längst vor: Es gibt als Alternativen wohnortnahe Regionalschulen oder auch Gemeinschaftsschulen, die attraktiv sind und mit Erfolg arbeiten. Fast alle Bundesländer (z. B. Schleswig-Holstein, Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen, Thüringen, Sachsen) haben diesen Weg eingeschlagen und machen positive Erfahrungen mit einem zweigliedrigen Schulsystem. Sie alle sind Flächenstaaten und haben ein dichtes Netz an wohnortnahen Schulen. Hohe Akzeptanz bei Eltern, zufriedene Kommunen und ein effizienter Einsatz von Steuergeldern im Interesse besserer Bildung sind die Folge. (Hüfner, S. 6)
Verweigerung von Schulversuchen
Verheerend ist die Weigerung des Kultusministeriums, Modellversuche für eine wohnortnahe Schule jenseits der starren Trennung der Schularten zuzulassen. Denn nur praktische Beispiele könnten Lösungsmöglichkeiten eröffnen. Während Schulversuche und Schulmodelle zu vielfältigen Themen genehmigt werden, verweigert das Kultusministerium gegen den Willen der örtlichen Eltern, Lehrer und Kommunalpolitiker solche zukunftsfähigen Lösungen mit wenig überzeugenden Schlagworten. Wir brauchen aber Pragmatismus und Bürgernähe statt Ideologie und Zentralismus. (Hüfner, S. 6)
Resümee:
Eine gemeinsame Schule für alle Schüler sichert auch langfristig im Vergleich in allen Städten und Landkreisen ein wohnortnahes Schulangebot. (Hüfner, S. 35)
Ernst Rösner,
… ein Beobachter und Gestalter der Schulszene in ganz Deutschland, hat es schon im Jahr 2007 kommen sehen:
Das dreigliedrige Schulsystem kollabiert
Vertreter des dreigliedrigen Schulsystems erkennen mit Betroffenheit, dass das über Jahrzehnte stabile System eines angeblich nach Begabungen sortierenden dreigliedrigen Schulsystems instabil geworden ist und zu kollabieren droht…
Die Kräfte, die den Niedergang der Hauptschule bewirken, sind, so hat es den Anschein, allemal stärker als alle bisherigen Ansätze, diese Schulform durch Attraktivitätssteigerung wieder konkurrenzfähig zu machen. (Rösner 2007, S. 142)
Eltern haben kein Vertrauen mehr in die Hauptschule
Was bislang zur Sanierung der Hauptschule erdacht oder bereits erprobt wurde, hat sich als vertrauensfördernde Maßnahme bei Eltern bislang als wirkungslos erwiesen…
Nichts hilft. (Rösner 2007, S. 169)
Die listige Idee der Bajuwaren
Auf eine listige Idee, eine Art Strukturlösung vorzugeben, ohne dabei an der Dreigliedrigkeit etwas zu ändern, kam eine Arbeitsgruppe der CSU, die klar zu erkennen glaubte, dass Eltern die Hauptschule nicht mehr wollten. Lösung: Abschaffung der Hauptschule, indem sie durch eine Sekundarschule [jetzt “Mittelschule” P.S.] ersetzt wird. Gewiss, bei einem Schilderwechsel sollte es nicht bleiben, insbesondere ein ausgeprägtes und differenziertes Profil und ein verbindliches 10. Schuljahr sollte die Hauptschule als Sekundarschule wieder attraktiv machen. Ob elterliche Bildungsaspiration dadurch nennenswert zu beeinflussen ist, muss als äußerst fraglich gelten. (Rösner 2007, S. 173)
Helmut Fend
kommt nach einem Leben voller Erfahrungen mit Schulstrukturdebatten zu folgendem Ergebnis:
Der dritte Weg ist jener der Zweigliedrigkeit des Bildungswesens. Ich halte Gemeinschaftsschulen (die alle Abschlüsse anbieten) neben den Gymnasien für eine historisch günstige Situation. (In einer privaten Mail an mich. P.S.)
Dem ist nichts weiter hinzuzufügen. Wer noch weiterlesen will, findet Antworten in der reichhaltigen …
… Literatur
Bellenberg, G. (2012). Schulformwechsel in Deutschland. Durchlässigkeit und Selektion in den 16 Schulsystemen der Bundesländer innerhalb der Sekundarstufe I. Gütersloh: Bertelsmann-Stiftung.
Blossfeld, H.-P., Bos, W., Daniel, H.-D., Hannover, B., Lenzen, D., Prenzel, M. & Wößmann, L. (2011). Bildungsreform 2000 – 2010 – 2020. Jahresgutachten 2011 (vbw – Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft e.V., Hrsg.) (Jahresgutachten). München: Aktionsrat Bildung.
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Hüfner, G. (2011). Die Zukunft der wohnortnahen Schule in Bayern, München: BLLV
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