Vom Schulrebell zum Schulpräsidenten
Der SWR berichtet im März 2017 über Rudolf Bosch:
Der Schulpräsident am Regierungspräsidium Freiburg Rudolf Bosch wird heute in den Ruhestand verabschiedet. Fünf Jahre lang lenkte der Ravensburger die Schulpolitik in Südbaden. 2011 wurde Rudolf Bosch von der damals neu gewählten grün-roten Landesregierung zunächst ins Kultusministerium nach Stuttgart und ein Jahr später als Schulamtschef ins Regierungspräsidium Freiburg geholt. Der Pädagoge, der unter der alten CDU-geführten Landesregierung als Hauptschulrebell in die Öffentlichkeit getreten war, hatte sich stets für ein integratives Schulsystem stark gemacht und half in seiner neuen Funktion mit, das dreigliedrige Schulsystem zu revolutionieren und die Gemeinschaftsschulen einzuführen. In Südbaden warb er als Schulpräsident bei Bürgermeistern, Gemeinderäten und Schulleitern für das gemeinsame Lernen bis zur 10. Klasse. Im Regierungsbezirk gibt es derzeit inzwischen 57 Gemeinschaftsschulen.
Quelle 1)
Wie war das mit den “Schulrebellen”?
Hier zitiere ich den emeritierten Professor für Didaktik der deutschen Sprache und Literatur an der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt am Main – Valentin Merkelbach, der seit Jahren die bildungspolitischen Entwicklungen in den einzelnen Bundesländern genau beobachtet und nach den jeweiligen Landtagswahlen stets eine treffende Zusammenfassung der Koalitionsvereinbarungen auf dem Gebiet der Schulpolitik ins Netz stellt (herzlichen Dank dafür!). Die Zwischenüberschriften habe ich zur Erleichterung des Lesens eingefügt.
Ein Brief mit Folgen
Am 30.April 2007 schickten vier Schulleiter von Grund- und Hauptschulen einen offenen Brief an Kultusminister Helmut Rau, zusammen mit einer Liste von 96 weiteren Schulleiterinnen und Schulleitern, die sich mit den Verfassern solidarisierten. In dem Brief nehmen die Schulleiter „mit Verwunderung und Empörung“ einen Bericht der Schwäbischen Zeitung vom 15.3.2007 zur Kenntnis, mit der Schlagzeile: „Land verordnet den Hauptschulen ein Fitnessprogramm“.
Durch diese erneute sogenannte Reform der Hauptschule werde suggeriert, heißt es in dem Brief, „dass die nicht vorhandene Akzeptanz dieser Schulart an deren mangelhafter Arbeitsweise liege“, was im Widerspruch stehe „zu dem Hohen Lied“, das der Minister „immer wieder in der Öffentlichkeit auf die Arbeitsweise der Hauptschule“ singe. Es sei in Erinnerung zu rufen, „dass die Hauptschule seit über 20 Jahren mit größtem Engagement unzählige ‚Fitnessprogramme’“ durchführe und „zurecht als die innovativste Schule“ gelte, was am „allgemeinen Desinteresse an der Schulart Hauptschule“ nichts geändert habe. Maßgeblich für die „Abwahl“ seien andere Gründe:
- Die Hauptschule befindet sich in der Hierarchie der Schulabschlüsse ganz unten und der Hauptschulabschluss eröffnet die geringsten Berufschancen.
- Die Eltern streben in der Regel für ihr Kind den „höchsten“ möglichen Abschluss an und „wählen“ für ihr Kind nach dem Selektionsverfahren der „Grundschulempfehlung“ eben nur gezwungenermaßen die Hauptschule aus. Das hiermit verbundene Leid und die Auswirkungen dieses Verfahrens auf Kinder und Eltern werden in ihrer Tragweite vielfach überhaupt nicht zur Kenntnis genommen.
- Das gesellschaftliche Ansehen einer Person beziehungsweise Familie orientiert sich an der „Schulwahl“ und dem möglichen Schulabschluss.
- Die Hauptschule wird immer durch das Stigma „Restschule“ belastet.
(S.2)
Die Forderung nach längerem gemeinsamen Lernen
Es folgen in der Form „grundsätzlicher Fragen“ eine Abrechnung mit der Schul- und speziell der Hauptschulpolitik der letzten 20 Jahre und Verweise auf die zentralen Ergebnisse internationaler Studien, deren Konsequenz auch in Baden-Württemberg „längeres gemeinsames Lernen“ über die Grundschule hinaus sein müsse. (S.2 ff.) Allerdings könne ein integratives Schulsystem „seine Vorteile nicht neben einem parallel dazu existierenden selektiven System entfalten“. Darum sei auch die häufig geäußerte Kritik an der „Gesamtschule deutscher Prägung“ mit ihren „unzähligen Niveaukursen“ „als ein nicht funktionierendes Beispiel einer integrativen Schule“ „unseriös“. (S.5) Mit einem Konsens über längeres gemeinsames Lernen könnten viele gefährdete Schulstandorte weiterhin Bestand haben und Schulen „als kultureller Mittelpunkt einer Gemeinde“ erhalten bleiben. (S.7)
Angesichts aller „angeführten Fakten und Erkenntnisse“ fordern die Schulleiter die Landesregierung auf, „einen längst überfälligen Paradigmenwechsel einzuleiten – weg vom selektiven dreigliedrigen Schulsystem, hin zu einem integrativen Schulsystem, in dem Kinder und Jugendliche, wie in anderen Staaten üblich, länger gemeinsam lernen und dabei individuell gefördert werden“. Auch wenn dieser Prozess „nicht von heute auf morgen zu bewerkstelligen“ sei, sei es umso wichtiger, „dass parteiübergreifend endlich eine Verständigung über das Ziel eines integrativen Schulwesens hergestellt und mit der Planung geeigneter Umsetzungsschritte begonnen“ werde, „in die wir als praktizierende Schulexperten vor Ort eingebunden werden“. (S.7)
Die rebellischen Vier müssen antreten
Ein solcher Schuss vor den Bug einer über 50-jährigen Schulpolitik der regierenden CDU konnte nicht ohne Wirkung bleiben. Da man jedoch nicht hundert Schulleiter/innen einbestellen konnte, die in kurzer Zeit durch viele weitere Unterstützung fanden, wurden zunächst die vier Verfasser des offenen Briefes quasi als Rädelsführer ins zuständige Regierungspräsidium Tübingen zitiert, um mit ihnen, wie aus dem Kultusministerium verlautete, über „Verfahren und Stil“ zu sprechen. (Frankfurter Rundschau, 16./17.5.2007)
Der Kultusminister will zwar weiterhin die Hauptschule „innerhalb des Systems“ reformieren, ist aber von der Rebellion der Schulleiter/innen wohl doch so beeindruckt, dass er zu Konzessionen an seine Kritiker bereit ist. So will er Kooperationen zwischen Haupt- und Realschulen erlauben: von gemeinsamen Unterrichtsstunden über gemeinsame Schulleitungen bis zu Schulverbünden, unter der Bedingung, dass die Dreigliedrigkeit erhalten bleibt. 300 Assistenten („Junior-Lehrer“) sollen die Lehrkräfte an Hauptschulen unterstützen, – was von der GEW prompt als zynisch bezeichnet wird, weil die Landesregierung gleichzeitig 2400 ausgebildete Lehrkräfte in die Arbeitslosigkeit entlasse. (Frankfurter Rundschau, 28.6.2007)
Bayerische Zwischennotiz
Da ist etwas, das sich auch der bayerische Kultusminister Dr. Spaenle zu eigen gemacht hat: Wenn die Forderung nach längerem gemeinsamen Lernen auftaucht, dann werfe man den Gemeinden einen Knochen vor: Entweder eine irgendwie geartete Kooperation – im Grunde lediglich eine Kohabitation – mit einer Realschule, wie im Falle Odelzhausen im Landkreis Dachau. Oder – wenn sich die Gemeinderäte damit zufrieden geben – eine “Veredelung” der jetzt “Mittelschule” genannten Hauptschule durch einen M-Zweig, wie im Falle Denkendorf/Kipfenberg (Landkreis Eichstätt).
Und sie geben keine Ruhe
Zu einer weiteren Eskalation im Streit der Regierung mit den „Schul-Rebellen“ kommt es, als Rudolf Bosch, Schulleiter der Grund-, Haupt- und Werkrealschule in Ravensburg und einer der vier Verfasser des offenen Briefes, die neue „Bildungsoffensive“ der Regierung als den Versuch qualifiziert, in die Bildungsdebatte Ruhe zu bringen, ohne aber die Kernprobleme zu lösen. Das reizte den damaligen CDU-Fraktionsvorsitzenden und späteren Ministerpräsidenten Stefan Mappus zu der Drohung: „Wenn der Mann noch lange im Amt ist, weiß ich nicht, warum man das Beamtentum braucht.“ Der Protest im Lande („Maulkörbe für Schulleiter“, „Methoden des Obrigkeitsstaates“) änderte nichts daran, dass Bosch ein weiteres Mal von der Schulbehörde vorgeladen und zu mehr Zurückhaltung aufgefordert wurde. (Frankfurter Rundschau, 26./27.7.2008)
Unterstützung aus der Erziehungswissenschaft
„Der Zement und die Schule“ ist der Titel eines Beitrags von Ulrich Herrmann, bis 2004 Professor für Schulpädagogik an den Universitäten Tübingen und Ulm. (www.forum-kritische-paedagogik.de /Mai 2007) Den Titel erläutert Herrmann mit dem Hinweis: Die Schwäbische Alb bestehe „seit etwa 150 Millionen Jahren fast nur aus Kalkstein“. Heidelberg Cement sei „der größte deutsche Baustoffhersteller“. D.h.: „In Baden-Württemberg lässt sich gut zementieren! Auch das Schulsystem?“
Herrmann kommt in seinem Beitrag auch auf den offenen Brief der Schulleiter aus Oberschwaben zu sprechen, den er mit vielen weiteren Fakten, was die Misere der Hauptschule betrifft, unterstützt. Weder habe sich das dreigliedrige Schulsystem bewährt noch fordere „jemand eine Gesamtschule wie vor 30 Jahren, die in der baden-württembergischen Version die Dreigliedrigkeit intern praktizierte bzw. praktizieren musste“. Er fordert, ganz im Sinne der Grund- und Hauptschulleiter, „eine Sekundarstufe I mit verlängerter gemeinsamer Lernzeit, die zum einen eine schulische Grundbildung für alle sicherstellt und zum anderen auf internen differenzierten Wegen einen Mittleren Abschluss für jeden“ (S.6 f.).
Quelle 2)
Wer Ohren hat zu hören…
Auch an dieser Stelle wieder ein Wink mit dem Zaunpfahl nach München: Die ideologische Gleichsetzung von Gemeinschaftsschule mit dem sozialistischen Teufelszeug Gesamtschule (meine Worte) oder – in KM-Sprech – “Einheitsschule” war schon damals in Baden-Württemberg bildungspolitisch rückwärtsgewand und ist es gegenwärtig in Bayern erst recht angesichts des guten Funktionierens des längeren gemeinsamen Lernens in allen (!) anderen Bundesländern.
“Die Einheitsschule dagegen, die heute gern mit dem Label der Gemeinschaftsschule versehen wird, halte ich für eine Pädagogik der Vergangenheit”, so der Minister.
Pressemitteilung Nr. 202 vom 09.09.2011
„Eine gemeinsame Schule für alle Kinder kann kein Modell für unsere heterogene Gesellschaft des 21. Jahrhunderts sein. Die Einheitsschule ist ein rückwärtsgewandter Ansatz, der in der Bildungsgeschichte bereits versagt hat.“
Ludwig Spaenle, bayerischer Kultusminister in einem Video in: www.km.bayern.de, zit. nach: http://www.feldhausverlag.de/shop/Am%20Haus%20der%20inklusiven%20Schule%20-%20Leseprobe.pdf
Besonders rätselhaft ist Spaenles Vergleich der Gemeinschaftsschule mit einer Waschmaschine (!). Mir erschließt sich, das muss ich gestehen, der Sinn dieser Aussage leider gar nicht:
Mit einer „Waschmaschine, die der differenzierten und qualitätsvollen bayerischen Schullandschaft mit extrem hoher Schleuderzahl enormen, nicht wieder gutzumachenden Schaden zufügt“ vergleicht Bayerns Kultusminister Dr. Ludwig Spaenle die von der SPD-Landtagsfraktion favorisierte Einheitsschule. „Diese Schulform wird es in Bayern nicht geben“, reagierte der Kultusminister auf den Vorstoß des SPD-Politikers Güll. Die sog. „Gemeinschaftsschule“ stellt für Kultusminister Spaenle einen Schritt in die pädagogische Vergangenheit dar, einen Schritt in die Zeit der Gesamtschule.
Eine „solche Waschmaschine“ sei völlig kontraproduktiv und schade den jungen Menschen. Denn beim qualitätsvollen bayerischen Bildungswesen für unsere jungen Menschen handle es sich nicht um nasse Wäsche, die es durch rasches Schleudern zu trocknen gilt.
Pressemitteilung Nr. 033 vom 13.02.2012
Fazit I
Was dem einen sein Rebell, ist dem anderen sein Heiliger.
Fazit II
Man darf hoffen, dass sich die pädagogische Vernunft irgendwann auch in Bayern durchsetzt. Die Analysen von Professor Merkelbach zeigen, dass dies in der Regel die Regierungsbeteiligung einer bisherigen Oppositionspartei voraussetzt. In Bayern sind 2018 die nächsten Landtagswahlen.
Quellen: 1) http://www.swr.de/swraktuell/bw/suedbaden/freiburg-verabschiedung-schulpraesident/-/id=1552/did=19243482/nid=1552/l8kr7s/ Foto: Regierungspräsidium Freiburg 2) http://www.valentin-merkelbach.de/baden-wuerttemberg.html
1 comments On People #5: Rudolf Bosch
Pingback: Faktencheck #9: Wie läuft’s in Baden-Württemberg? – Pädagokick ()