Den Nürnberger Trichter kennt man: Den Kindern wird Unterrichtsstoff eingeflößt. Das nennt man dann Lernen. Lustige Vorstellung, oder? Und ziemlich überholt – sollte man meinen. Aber Hattie sieht das immer noch sehr verbreitet und nicht nur für den Unterricht als Problem, sondern das geht tiefer.
Kurze Einleitung
Nur kurz als Vorbemerkung: Der neuseeländische Erziehungswissenschaftler John Hattie hat 2009 die bis dato weltweit umfangreichste Metastudie zum Thema “Was wirkt im Unterricht” (Visible Learning) veröffentlicht und jetzt 2023 ein Update (The Sequel) nachgeschoben. Grundlage seiner Meta-Metastudie sind über 2100 Metastudien, die ihrerseits über 130 000 Einzelstudien verarbeitet haben. Es steht also eine gewisse Substanz hinter Hatties Äußerungen. Das muss man sich vor Augen halten, wenn er Kritik an einer verbreiteten Unsitte beim Unterrichten übt. Und das tut er mit deutlichen Worten.
Der Nürnberger Trichter und …

Wikipedia beschreibt den Nürnberger Trichter so:
Mit dem Nürnberger Trichter wird eher scherzhaft eine mechanische Weise des Lernens und Lehrens bezeichnet. Damit ist vor allem die Vorstellung verbunden, ein Schüler könne sich mit dieser Form der „eintrichternden“ Beeinflussung Lerninhalte einerseits fast ohne Aufwand und Anstrengung aneignen und ein Lehrer andererseits praktisch jedem Schüler alles beibringen, unabhängig von Intelligenz und Lernfähigkeit.
… das Banking Model of Education
Das, was John Hattie in The Sequel als Fehlorientierung vieler Lehrkräfte diagnostiziert, steht dem in unseren Breiten bekannten Modell des Nürnberger Trichters nahe und wird von ihm mal als „Kübel“-Modell (bucket) bezeichnet und mal als banking model, eine Bezeichnung, die er im Anschluss an Paulo Freire verwendet.
Was versteht er darunter? In leicht ironischer Weise beschreibt er die entsprechende Erziehung als den Akt, ein (von Lehrpersonen großzügig gewährtes) Guthaben für spätere Verwendung anzulegen:
Education is, thus, an act of depositing or banking. The aim is to deposit pearls of wisdom so that the student banks these for later use. Yes, banking implies that knowledge is a gift bestowed by the teacher on the uninitiated, and students should be grateful for these deposits. (S. 150)
Von diesem Punkt aus kritisiert Hattie ein im Westen weit verbreitetes, aber im Grunde viel zu enges (Miss-)Verständnis von Bildung und Exzellenz, in welchem nur solche Schülerinnen und Schüler herausragen, denen es gelingt, in den Domänen Lesen, Mathematik und Wissenschaft auf dieses „Bankguthaben“ einzuzahlen.
In the past 30 years, however, many Western education systems have prioritized the purpose of schooling as aiming to enhance achievement in domains such as reading, mathematics, and science. Many interpretations of the international testing movement (PIRLS, TiMMS, PISA) have reinforced this narrowness.
Such narrow excellence leads to curricula being based on achievement in a few privileged domains, and great students are considered those who attain high levels of proficiency (banking) in these domains. We need a much richer, wider, and worthwhile basket of goods that define the value of schooling (Hattie, 2018; Hattie & Larsen, 2020). (S. 153)
Hatties Fundamentalkritik
Hattie ist es sehr ernst damit, denn er sieht diese Art des Lernenmüssens in einem Zusammenhang mit schulischen Strukturen und der gesellschaftlichen Entwicklung. Diese Denke – oder dieses Narrativ, um aktuelle Begrifflichkeit zu verwenden – hindere die Schülerinnen und Schüler daran, Ideen zu verknüpfen und verführe zu bloßen Versuchen, Inhalte im Kurzzeitgedächtnis zu speichern und dann wieder auszuwürgen (sein Begriff!).
Das alles ziele darauf, unsere Gesellschaft zu replizieren, statt dass die Lernenden in die Lage versetzt würden, die Gegenwart kritisch wahrzunehmen und ihre eigene Zukunft zu errichten. Solche Schulsysteme seien darauf ausgelegt, zu sortieren, zu klassifizieren und auszulesen und nicht um Lernen und Kritik zu unterstützen. Um nicht drüber wegzulesen:
Solche Schulsysteme seien darauf ausgelegt, zu sortieren, zu klassifizieren und auszulesen und nicht um Lernen und Kritik zu unterstützen.
Most important, this banking model minimizes disequilibrium, rarely engages students in seeing or making relations among ideas, and reduces the challenge of learning to short-term memory, knowing lots, and regurgitating the deposits of teaching. They aim to replicate the society as it was rather than educate students to build their (and our) own futures. These schooling systems are developed more to sort, classify, and select than support learning and critique. (S. 151)
Oben erwähnte ich, dass Hattie sich bei dem banking model ausdrücklich auf Paulo Freire bezieht und ihn mehrmals in The Sequel zitiert. Er verwendet dazu dieses Buch:

Spannend daran ist, dass Hattie als Erziehungswissenschaftler, der mit seinem beispiellosen Meta-Projekt die Qualität des Unterrichts untersucht, sich gezwungen sieht, diesen Horizont zu überschreiten. Er sieht diesen Unterricht nach Art des Nürnberger Trichters in einen Zusammenhang mit den Grundhaltungen von Lehrkräften, mit der Struktur von Schule und schließlich auch mit der Struktur einer Gesellschaft insgesamt. Und er kritisiert das mit deutlichen Worten:
Es gibt eine ungenügende Haltung von Lehrerpersonen – Hattie nennt es mind-frame –, die Unterricht als das Füllen von Kübeln oder das Einzahlen auf ein Bankkonto zu späterem Nutzen versteht. Auch das PISA-Testwesen schippert in diesem Fahrwasser, indem es das Verständnis von „Leistung“ und das Ziel von Unterricht auf Lesen, Rechnen und Naturwissenschaften verengt und nur die entsprechenden deposits honoriert.
Diesem mind-frame wirft er vor, darauf zu zielen, dass die gegenwärtige Gesellschaftsstruktur immer wieder nachgebildet und eine zukunftsgemäße Neu- oder Umstrukturierung verhindert werde.
Wie fundamental ist das denn!
Aus der Tatsache, dass John Hattie diesen zentralen Gedanken von Paulo Freire ausführlich zitiert und so stehen lässt, darf man wohl schließen, dass er hinter dieser deutlichen Schul- und Gesellschaftskritik steht. Ich gebe aus diesem Grund die Passage aus Hatties Kapitel School and Society an dieser Stelle ungekürzt wieder. Hier hat jeder Satz Gewicht:
A fundamental Freirean notion is that learners must understand how the myths of dominant discourses are, precisely, myths that oppress and marginalize them – but which can be transcended through transformative action (Lankshear et al., 1993). Freire critiqued the then (and still) dominant model of schooling: a “careful analysis of the teacher-student relationship at any level, inside or outside the school, reveals its fundamentally narrative character” (p. 72). That is, the teacher narrates and the student is expected to listen.
“The teacher talks about reality as if it were motionless, static, compartmentalized, and predictable…. (The teachers) task is to ‘fill’ the students with the contents of his narration” (p. 71). Education claimed Freire is suffering from narration sickness, and there is a dullness of words and a loss of their transforming power.
Not surprisingly, students come to believe that learning is listening to these deposits from the bank of knowledge and ideas of others, which then need to be received, filed, stored – for the day someone checks the status of the bank account in each child’s mind. How accurate that is of too many current Western classrooms.
Some students, particularly those above average, prefer this form of teaching and enjoy building large banks of knowledge to be trotted out when needed. They are good at this game, they are the winners, and they want more of it.
Some parents welcome teachers who bestow these gifts of knowledge deposits on their children, and many societies welcome this safe, nonchallenging, and manageable model.
Countries with testing cultures love to eat facts for breakfast, dinner, and supper.
Freire argued that such a model gives a low priority to developing critical consciousness and is the preferred model of the oppressors to preserve the status quo. (Perhaps it is not surprising that many countries do best on international tests of content that overemphasize content and reduce critiquing and relating ideas; see Zhao, 2014). (Hattie, The Sequel 150f)
[Zur Kritik, die Yong Zhao nicht nur am chinesischen Schulwesen übt: https://paedagokick.de/sichtweisen-38-what-works-may-hurt/ ]
Zhao, Y. (2014). Who’s afraid of the big bad dragon? Why China has the best (and worst) education system in the world. John Wiley & Sons.
Zhao, Y. (2018). What works may hurt – Side effects in education. Teachers College Press.
Nur noch mal zur Verdeutlichung:
Es ist ein Mythos, dass die Lehrer unterrichten und die Schüler zuhören müssen!
Lehrer haben die Realität nicht als Stoff zur Weitergabe in der Tasche. Schüler müssen diese Worte auch nicht als Guthaben anlegen!
Das ist aber leider die Grundhaltung in viel zu vielen westlichen Klassenzimmern!
-> Weil einige – die guten – Schüler davon profitieren.
-> Und weil einige Eltern genau das für ihre Kinder wollen.
-> Und weil Länder mit Testkulturen nur Fakten zum Frühstück, zu Mittag und zum Abendessen haben wollen.
Damit bleibt alles beim Alten!