Worum geht es? Wer seine Fähigkeiten richtig einschätzt, weiß, was er kann und wo er noch dazulernen muss. Über die hohe Wirksamkeit dieser Fähigkeit gibt es einen interessanten Abschnitt bei Hattie, der auf einer Linie liegt mit einer neuen Studie der Uni Würzburg. Zuerst Hattie, dann die Pressemeldung der Universität.
John Hattie zur Selbsteinschätzung
The Sequel ist die weltweit umfangreichste Metastudie zur Frage: “Was wirkt im Unterricht?” Auf Seite 85f befasst sich Hattie mit der Wirksamkeit der richtigen Selbsteinschätzung unter dem Stichwort Self-reported grades. Hier zunächst seine Thermometerdarstellung mit Erläuterungen.
Überblick

Links steht mit R = 3 ein Hinweis auf die Robustheit des Ergebnisses. Die Skala geht von 1 (gering) bis 5 (hoch), in diesem Fall also sind die Aussagen einigermaßen belastbar.
0.96 im Oval ist die Effektstärke. Der Durchschnitt aller im Buch beschriebenen Effektstärken liegt bei 0.40 (= hinge point, Angelpunkt). Self-reported grades, also die Selbsteinschätzung, wirkt insgesamt also außergewöhnlich positiv auf die Leistung von Lernenden.
# meta = 6 verweist auf die Anzahl der verwendeten Metastudien,
# studies = 218 auf deren zugrundeliegende Einzelstudien,
est. # people = 30,347 auf die Gesamtzahl von Studienteilnehmern,
# effects = die Anzahl der Erwähnungen genau dieses Effekts,
se = 0.96 beschreibt die Standardabweichung.
Einzelheiten
Hattie berichtet, dass laut der ihm vorliegenden Untersuchungen Kinder ab ungefähr 10 Jahren eine “ziemlich genaue” Vorstellung von ihrer Leistung haben.
Overall… students were very knowledgeable about their chances of success.
Interessant sind die Schlüsse, die er daraus zieht:
Auf der einen Seite stellt er die Notwendigkeit zahlreicher Tests in Frage, wenn die Schülerinnen und Schüler ohnehin schon wissen, wo sie stehen.
This shows a remarkably high level of predictability about achievement in the classroom (and should question the necessity of many tests when students already have much of the information the tests supposedly provide).
Und auf der anderen Seite sieht er darin nicht nur die Gefahr der Selbstüberschätzung, sondern auch das Problem, dass sich die Schülerinnen und Schüler durch die eigenen Leistungserwartungen mehr behindern als beflügeln:
Further, the student’s own expectations of success (which are sometimes set lower than what could be possible) might become barriers for some students, as they only perform to whatever expectations they already have of their current potential.
Dieser neue Gedanke findet sich an mehreren Stellen in The Sequel: Die Lehrerinnen und Lehrer sollen sich darum bemühen, dass die Lernenden nicht nur ihr Potenzial erreichen, sondern das übertreffen, was sie selbst für ihr Potenzial halten!
Aus alledem zieht Hattie den Schluss, dass den Schüler:innen verstärkt die Werkzeuge an die Hand gegeben werden sollen, mit denen sie ihre eigenen Lernfortschritte besser einschätzen können, zum Beispiel dadurch, dass sie von sich aus Feedback einholen von den Lehrer:innen oder ihren peers.
Mit den positiven Folgen einer realistischen Selbsteinschätzung befasst sich eine Studie der Uni Würzburg, aus deren Pressemeldung ich jetzt zitiere.
Pressemeldung der Uni Würzburg
Wer sich und seine Fähigkeiten realistisch einschätzt, kommt im Leben weiter als andere. Eine Studie der Uni Würzburg zeigt jetzt, wie Kinder eine präzise Selbsteinschätzung lernen können.
Unsere Forschung zeigt, dass es Kindern aus bildungsfernen Familien schwerer fällt, sich und ihre Fähigkeiten realistisch einzuordnen.
Prof. Fabian Kosse, Inhaber des Lehrstuhls für Data Science in Business and Economics
Für viele wegweisende Entscheidungen im Leben, etwa die Berufswahl, sei das ein entscheidender Nachteil.
Menschen, die ihre Fähigkeiten präziser einschätzen, sind im Schnitt beruflich erfolgreicher, haben höhere Einkommen und leben sogar gesünder.
Murmelspiel gibt Auskunft über die Fähigkeit zur Selbsteinschätzung
Um die Selbsteinschätzung von Kindern im Grundschulalter zu messen, konzipierten die Forschenden ein neuartiges Spiel, bei dem die Kinder Spielzeug gewinnen konnten: Die Aufgabe der Acht- bis Neunjährigen bestand darin, Murmeln in Löcher zu rollen. Nach einer Trainingsrunde konnten sie selbst den Schwierigkeitsgrad der Aufgabe bestimmen, indem sie die Größe des Lochs wählten. Ein Treffer in ein kleineres Loch erzielte einen höheren Gewinn – allerdings erhöhte sich zugleich die Schwierigkeit und damit die Wahrscheinlichkeit, leer auszugehen. „Eine Analyse der Spielergebnisse zeigt: Kinder aus Familien mit höherem sozioökonomischem Status waren erfolgreicher als Kinder aus Familien mit niedrigerem Status“, so Kosse.
Mit der richtigen Förderung lässt sich präzise Selbsteinschätzung erlernen

Wie aber lässt sich diese nachteiligere Ausgangsposition aufholen? Das untersuchte die randomisierte Studie in einem zweiten Schritt. Dazu unterteilten die Forschenden Kinder aus bildungsferneren Familien per Zufall in zwei Gruppen: Eine wurde ein Jahr durch ein Mentoring-Programm betreut, für die andere gab es keine Förderung. „Das Mentoring-Programm heißt ‚Balu und Du’“, erklärt Kosse. „Dabei übernehmen junge, engagierte Menschen ehrenamtlich eine Patenschaft für ein Kind. Sie nehmen sich einmal wöchentlich ein paar Stunden Zeit, schenken ihm seine Aufmerksamkeit und erleben gemeinsam etwas.“
Das Ergebnis: Nach einem Jahr erzielte die betreute Schülergruppe deutlich höhere Gewinne im Selbsteinschätzungs-Spiel. „Das Mentoring begünstigte die Selbsteinschätzung sogar so stark, dass die Kinder nach einem Jahr auf demselben Stand waren, wie Gleichaltrige aus sozioökonomisch starken Familien“, so Kosse.
Wir konnten zeigen, dass es für die Entwicklung einer realistischen Selbsteinschätzung entscheidend ist, Kindern abwechslungsreiche, interaktive Aktivitäten zu bieten, gemeinsam zu spielen, zu basteln, zu musizieren oder Sport zu machen – und ihnen damit aufschlussreiche Erfahrungen zu ermöglichen.
Positive Effekte auch noch Jahre später nachweisbar
Wie nachhaltig diese interaktive Förderung ist, auch das zeigt Kosses Forschung: Sechs Jahre nach Ablauf des Mentorings untersuchen er und seine Mitforschenden Armin Falk, Hannah Schildberg-Hörisch und Florian Zimmerman die Kinder (jetzt im Teenager-Alter) erneut und befragen sie zu ihren schulischen Leistungen. „Wir wollten wissen: Wie schätzt Du Deine Leistungen in den Fächern Mathematik und Deutsch ein“, erklärt der Wissenschaftler. „Anschließend verglichen wir diese Selbsteinschätzung mit den tatsächlichen Noten, also der Einschätzung von Lehrerinnen und Lehrern.“
Das Resultat: Selbst jetzt noch schnitten Kinder bei ihrer Eigeneinschätzung deutlich besser ab, wenn sie aus bildungsnahen Familien kamen oder das Mentoringprogramm durchlaufen hatten.
Wir konnten zeigen, wie positiv und langfristig sich eine frühe Förderung bei Kindern auswirkt
„In den kommenden Jahren werden wir die Teilnehmenden weiter begleiten und erforschen, wie sich ihre Fähigkeit zur Selbsteinschätzung entwickeln und wie sich diese auf wichtige Lebensentscheidungen auswirkt.“
An der Studie waren neben der Uni Würzburg auch das Bonner briq-Institut für Verhalten und Ungleichheit sowie die Uni Düsseldorf beteiligt. Finanziell gefördert wurde die Studie durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG), den Europäischen Forschungsrat, die Jacobs Foundation sowie die Benckiser Stiftung Zukunft.
Originalpublikation
Self-assessment: The role of the social environment. Armin Falk, Fabian Kosse, Hannah Schildberg-Hörisch, Florian Zimmermann. Publiziert im Journal of Public Ecnonomics, DOI: 10.1016/j.jpubeco.2023.104908. https://www.sciencedirect.com/science/article/abs/pii/S0047272723000907