Abitur und Studium für (möglichst) alle – das klingt zunächst mal schräg. Dann habe ich mich skeptisch an die Lektüre gemacht und kann der Idee nun etwas abgewinnen. Joachim Lohmann, der die Entwicklung der Schulen in Deutschland seit Jahrzehnten beobachtet und in Berlin und Kiel selbst mit geprägt hat, formuliert zahlreiche Gedanken für eine zukünftige Gestalt von Bildung und Ausbildung.
Lohmann, J. (2022). Abitur und Studium für (möglichst) alle. GGG Gemeinnützige Gesellschaft Gesamtschule (Hrsg) Die Schule für alle – Das Magazin Nr. 2022/2, S. 20 – 30
Die Trendwende verlangt von allen umfassende Bildung und Qualifikation
Joachim Lohmann
Zurzeit ist die Welt so stark bedroht wie noch nie in der Nachkriegszeit. Bis vor kurzem waren die Herausforderungen durch den Klimawandel, die Digitalisierung und die zunehmende sozioökonomische Ungleichheit verursacht. Eher fatal reagierte die westliche Welt bisher auf die Schwächen der Demokratie und die ersten imperialistischen Überfälle Russlands. Erst der totale Angriffskrieg gegen die Ukraine verstand der Westen als Trendwende bzw. als Epochenbruch. Mit dem heißen und zweiten Kalten Krieg
- wird die Beschäftigungsstruktur beschleunigt umstrukturiert werden,
- droht eine Rezession,
- entsteht eine seit langem nicht mehr gekannte Inflation,
- werden die Sozial und Bildungsbenachteiligten am stärksten wirtschaftlich und gesellschaftlich leiden und
- sind am anfälligsten für Populismus und Extremismus, die ihrerseits diese Benachteiligten als Zielgruppe ausgeben werden.
Gegenüber dieser Vielfalt an Bedrohungen sind alle Politikbereiche gefordert. Zum Zentrum der Innenpolitik gehört die Bildungspolitik. Ihre Aufgabe sollte es sein,
- trotz des revolutionierenden Arbeitsmarktes durch qualifizierte Aus wie Fortbildung die Beschäftigung und das Einkommen zu sichern,
- mit hoher Qualifikation für alle gegen die Ungleichheit anzukämpfen und
- mit einer umfassenden Allgemeinbildung für die Demokratie zu aktivieren.
Gegen den revolutionierenden Arbeitsmarkt schützt nur eine hohe Qualifizierung aller
Die gesellschaftspolitische Bedeutung der Bildungspolitik wird zumeist unterschätzt; das gilt auch für den Arbeitsmarkt. Er wird durch die Digitalisierung revolutioniert. Nach den Analysen der Weltbank könnten schon zurzeit 50 % bis 60 % der Arbeitsplätze sofort entfallen oder erheblich umgestaltet werden.
Die meisten Prognosen der Arbeitsmarktforscher gehen auf Grund der Digitalisierung nicht von einer Arbeitslosigkeit aus. Allerdings werde sich die Qualität des Arbeitsmarktes erheblich verändern. Stark steigen wird die Nachfrage nach kognitiv kreativen Berufen. Zu ihnen zählen vor allem die Berufe in Forschung und Entwicklung, im Bildungs, Gesundheits- und Pflegebereich, in Kultur, Freizeit, Urlaub und Sport.
Die veränderte Berufsstruktur führt zu höheren Anforderungen an die Ausbildung. Bei den kreativen Berufen bilden Personen mit höchstens dem Sekundarstufen II-Abschluss mit 15 % nur noch eine kleine Minderheit; die tertiär Ausgebildeten dagegen mit 85 % die große Mehrheit (World Bank, Kap. 2, S. 132 f.).
Konsequenz müsste ein drastischer Ausbau des tertiären Sektors sein, bei dem Deutschland erheblich hinterherhinkt.
Nicht nur die Digitalisierung, sondern auch die Klimapolitik revolutioniert den Arbeitsmarkt. Ihretwegen werden ganze Branchen wie Kohlebergbau und -verarbeitung entfallen; andere Branchen wie die Eisen, Stahl und Aluminiumerzeugung, die Chemie und der Pharmabereich sowie die Kfz-Industrie, der Verkehrsbereich sowie der Wohnungs- und Immobilienmarkt werden ganz erheblich umstrukturiert. Dagegen werden andere Branchen wie die regenerative Energiegewinnung, -speicherung und -verteilung deutlich ausgebaut. Der russische Energiekrieg gegen Europa beschleunigt den klimapolitischen Umbau der Wirtschaft. Er wird in vielen Berufen den Qualifikationsbedarf steigern.
Gegen die Ungleichheit den Hochschulausbau forcieren
Die Technikentwicklung ist bisher der Hauptgrund für den gestiegenen Qualifikationsbedarf. Weil in den letzten Jahrzehnten das Ausbildungsniveau nicht genügend anstieg, hat sich die Ungleichheit erheblich verschärft.
Krass ist die Ungleichheit beim Einkommen, noch massiver beim Vermögen. Inzwischen erhält vom Volkseinkommen in Deutschland das Top-Ein-Prozent das 13-fache, die obersten 10 % das 4-fache des Durchschnitts (Bartels, S. 54 ff.). Ähnlich dramatisch sind der Stand und die Entwicklung der Ungleichheit auch global. Jürgen Habermas bezeichnet diesen Stand der Ungleichheit als eine gesellschaftliche Refeudalisierung. Eine weiter ansteigende Ungleichheit ist voraussehbar, denn der Qualifikationsbedarf wird auf Grund der Digitalisierung und der Klimapolitik stark ansteigen, mit der zunehmenden Nachfrage erhöht sich das Einkommen der Qualifizierten.
In nächster Zeit wird die Ungleichheit auch aus einem anderen Grund zunehmen – zunehmen wegen der Inflation. Sie trifft die Menschen sehr unterschiedlich. Weitaus am schärfsten werden die Sozial- und Einkommensschwächeren belastet werden.
Gegenüber der Inflation hat Bundeskanzler Scholz mit seinem Versprechen „You’ll never walk alone – kein einziger Bürger wird allein gelassen“ sozialpolitische Maßnahmen angekündigt.
Doch die Sozialpolitik macht zwar den Status der sozial Schwächeren erträglicher, aber sie verändert ihren Status nicht. Das wirksamste Mittel gegenüber gestiegenem Qualifikationsbedarf ist einer Analyse der OECD zufolge die Zunahme von Hochschulabsolventen. Um mehr als das Doppelte wäre die Ungleichheit angestiegen, wäre die tertiäre Bildung nicht um die Jahrhundertwende global expandiert. Ihr Ausbau ist insbesondere in Deutschland unabdingbar.
Mit Bildung die Demokratie gegen ihre inneren und äußeren Feinde schützen
Der Umbruch des Arbeitsmarktes und die zunehmende Ungleichheit verunsichern vor allem die sozial Schwächeren und lassen sie an der Politik zweifeln.
Die Demokratie ist nicht auf dem Siegeszug, wie es Francis Fukuyama nach dem Zerfall des Ostblocks annahm. Die Geschichte endet nicht mit der Demokratie, diese hat sich nicht endgültig durchgesetzt. Vielmehr entwickelt sie sich regressiv, wie die verschiedenen globalen Demokratieindizes überstimmend feststellen. Nicht einmal die Hälfte der Staaten sind unvollständige Demokratien, auch die Zahl der vollständigen Demokratien ist rückläufig; für den „Economist“ sind es nur noch 21 Staaten (Schäfer/Zürn).
Selbst Innerhalb der vollständigen Demokratien schwindet das Vertrauen in die Demokratie, zugleich gewinnen Populismus und Extremismus an Einfluss, die Gefahren ihrer Regierungsübernahme sind nicht behoben (z.B. USA, Frankreich, Italien, Schweden).
In Deutschland scheinen die Gefahren durch Populismus und Extremismus weniger bedrohlich. Doch auch hier wächst die Skepsis gegenüber der Demokratie. Mit ihrem Funktionieren ist nicht einmal die Hälfte der Deutschen zumindest ziemlich zufrieden, nur jeder achte ist sehr zufrieden. Zu dem Umbruch der Beschäftigung und den Auswirkungen der Klimapolitik kommt jetzt der Krieg gegen die Ukraine. Er hat zunächst die Demokratien im Westen gefestigt, ihre Geschlossenheit und Wehrhaftigkeit war anfangs ermutigend, und extreme Parteien sind mit ihrer Putin-Nähe wenigstens in Deutschland ins Schleudern geraten.
Doch der Krieg gefährdet die wirtschaftliche Basis von Demokratie, denn er führt zur Inflation und einer Energiekrise, zudem droht eine Rezession. Die wirtschaftliche Basis für die Zustimmung zur Demokratie bröckelt. Gleichzeitig steigt die Zahl der Flüchtlinge und Zuwanderer an. Zudem werden EU-Staaten finanzielle Hilfen gegen ihre Haushaltskrisen benötigen. Für die Populisten und Extremisten sind das gefundene Argumente für antidemokratische Agitationen.
Es ist keine Zeit, sich auf die Stabilität der Demokratie zu verlassen. Ihre Stabilisierung sollte jetzt beginnen. Gefragt sind nicht nur innenpolitische Maßnahmen gegen Volksverhetzung, Hass und Fake News, nicht nur mehr Bürgernähe der Politik und mehr bürgerliche Mitwirkung.
Unabdingbar ist eine Bildungspolitik, die deutlich intensiver über Gesellschaft, Wirtschaft und Soziales aufklärt, verstärkt zu Demokratie erzieht, für sie aktiviert sowie für internationale Kooperation wirbt. Dies gilt insbesondere für die Bildungsbenachteiligten. Bei Personen mit geringerem und mittlerem Bildungsgrad liegt der Demokratieverdruss um 50 % höher als bei Personen mit hohem Bildungsgrad (Decker, S. 31).
Eine umfassende Demokratieerziehung für die Bildungsbenachteiligten ist bei einer nur 9/10-jährigen elementaren Allgemeinbildung ausgeschlossen. Zu stark ist der Druck der Wirtschaft auf die Verstärkung der Elementarfertigkeiten, um die Ausbildungsfähigkeit für die Jugendlichen zu sichern. Ziel sollte eine 12/13-jährige allgemeine Bildung mit dem Abitur als Abschluss sowie eine anschießende tertiäre Ausbildung für grundsätzlich alle sein.
Das etablierte Bildungssystem diskriminiert die individuelle Entwicklung der Benachteiligten und versteinert die Gesellschaft
Die bisherigen Darlegungen haben die ökonomischen, soziologischen und politischen Gründe dargestellt, auf Grund derer die nur elementare 9/10-jährige zugunsten einer 12/13-jährigen Allgemeinbildung sowie eine nur sekundäre zugunsten einer tertiären Ausbildung für alle überwunden werden sollte.
Noch gewichtiger für eine umfassende Weiterentwicklung des Bildungswesens ist, dass gegenwärtig das Grundrecht auf die individuelle Entfaltung der Persönlichkeit für einen Großteil der Jugendlichen verletzt wird.
Am schlimmsten trifft es Personen ohne einen Sekundarstufen II-Abschluss, das sind mehr als jeder siebente Erwachsene. Der geringere Abschluss wirkt sich individuell selbst auf sportliche Aktivitäten, erst recht auf gesunde Ernährung und auf ihren Gesundheitszustand aus. Um 20 %, 30 %, ja 40 % schlechter fallen ihre Werte gegenüber den Hochschulabsolventen aus. Ihre Lebenserwartung als 30Jährige schrumpft um fünf Lebensjahre gegenüber Akademiker*innen.
Richtig desaströs ist die gesellschaftliche Integration der Personen ohne einen Sekundarstufen II-Abschluss. Gegenüber Hochschulabsolventen haben sie ein um mehr als die Hälfte geringeres Vertrauen zu anderen, sind seltener ehrenamtlich tätig und gehen von weniger Einfluss auf die Politik aus. Sie fühlen sich mithin zu einem erheblichen Teil abgehängt, desintegriert.
Um einiges besser ist die individuelle Entfaltung von Personen mit gegenüber Personen ohne einen Sekundarstufen II-Abschluss. Ihre Abstände gegenüber Hochschulabsolventen betragen aber immerhin noch bei Sport, Ernährung und Gesundheit mindestens 10 %.
Auch bei ihnen hapert die gesellschaftliche Integration. Ihr Vertrauen in andere ist nur halb so groß, ihren politischen Einfluss schätzen sie gegenüber Akademiker*innen um 40 % geringer ein.

Insgesamt bedeutet also ein gegenüber dem Hochschulabschluss niederer Bildungsstatus
- sozioökonomisch ein geringeres Einkommen und höhere Arbeitslosigkeitsgefahr,
- individuell weniger Sport, gesunde Ernährung und Wohlbefinden sowie
- soziokulturell geringere gesellschaftliche Integration und politische Teilhabe.
Diese Feststellungen gelten für Personen ohne gegenüber Personen mit Sekundarstufen II-Abschluss, ebenso für Personen mit Sekundarstufen II-Abschluss gegenüber einem Tertiärabschluss. Das stimmt sogar zwischen den gestuften Tertiärabschlüssen – nach den dafür vorliegenden Daten für Deutschland.
Die Ursache für die Bedeutung des Bildungsstatus ist nicht vorrangig die Gesellschaft, in der sich die Bildung widerspiegelt; es ist in starkem Maße das Bildungssystem, welches die Gesellschaft formt. Denn diese Befunde gelten für alle Länder, seien sie statisch, seien sie bei Auf- und Abstieg dynamisch. Wäre die Gesellschaft vorrangig für sie verantwortlich, dann dürften die auf Bildung bezogenen Befunde in dynamischen Ländern nicht zutreffen – sie gelten aber auch dort. Bildung formiert die Gesellschaft. Die Stufung der Abschlüsse, ihre Hierarchie ist es, die maßgeblich die Gesellschaft spaltet.
Die erhebliche Einschränkung der individuellen und vor allem der gesellschaftspolitischen Entfaltung auf Grund eines niederen Bildungsstatus trifft grundsätzlich für alle OECDLänder zu, Deutschland ist da kein Außenseiter.
Außenseiter ist Deutschland aber in Bezug auf die Tradierung des sozialen Status. In fast keinem Land OECD-weit ist der Leistungsstand so abhängig von der Bildungsherkunft wie in Deutschland. Noch unerträglicher ist die Zementierung des sozialen Status in Deutschland. So selten verändern Kinder ihren Bildungsstatus gegenüber ihren Eltern in keinem anderen Land. Die Quote des Bildungsaufstiegs ist die 2. niedrigste, die des Abstiegs die 3. höchste und das Verhältnis von Auf- zu Abstieg ist am geringsten, fast nur 1:1, dabei ist der Aufstieg über die Berufsausbildung berücksichtigt. In anderen Ländern steigen bis zu 7 mal mehr auf als ab (OECD 2018, S. 248). Es leidet kein OECDLand so unter Bildungssklerose wie Deutschland.
Deutschland kann sich weder die soziale Verkrustung noch die Einschränkung des Grundrechts auf individuelle Entfaltung für die Bildungsbenachteiligten leisten.
Gerecht wird den Herausforderungen nur eine umfassende Weiterentwicklung von Bildung: ein Abitur und Studium für möglichst alle
Das Ziel von Gesamtschulanhängern – eine gemeinsame Schule bis zum 10. Schuljahr – ist nicht ausreichend. Es genügt den gesellschaftlichen Herausforderungen nicht. Obwohl die gemeinsame Schule für alle noch nicht erreicht ist, sind weitergehende Konzepte schon jetzt erforderlich, um
- trotz des sich revolutionierenden Arbeitsmarktes eine qualifizierte Beschäftigung für alle zu sichern,
- eine weiter steigende Ungleichheit zu verhindern,
- die Demokratie zu stabilisieren und
- das Recht des Einzelnen auf eine angemessene individuelle Entwicklungschance zu ermöglichen.
Ziel sollte deshalb eine allgemeine, gemeinsame 12/13Jährige Bildung sowie eine tertiäre Ausbildung für grundsätzlich alle sein.
Ein Abitur und Studium für grundsätzlich alle ist nicht wirtschaftsfeindlich, es ist auch nicht illusionär
Sowohl das Abitur als auch das Studium sollten kein Privileg bleiben; linke Politik sollte sich vielmehr verpflichtet sehen, das Abitur und das Studium für alle in Schritten durchzusetzen.
Denn damit kann der Staat am wirkungsvollsten die gesellschaftliche Spaltung durch die ökonomische Ungleichheit bekämpfen und die Bürger*innen für Demokratie aufschließen.
Vor allem mit Bildungspolitik kann der Staat die Strukturen so gestalten und alle Jugendlichen weitgehend so fördern, dass diese künftig grundsätzlich alle zu Abitur und Studium geführt werden können.
Eine Forderung nach einem Abitur und einem Studium für grundsätzlich alle wird auf heftigen Widerstand stoßen. Er wird vor allem mit wirtschaftlichen und Begabungsargumenten begründet sowie dem Erhalt der hierarchischen Gesellschaftsstruktur. Wirtschaftlich sei die Forderung eine Horrorvorstellung (Dystopie), weil sie die Leistung nivelliere sowie Handwerk und einfache Dienstleistungen gefährde. Begabungspsychologisch sei ein generelles Studium eine Illusion: Es unterschätze die Ungleichheit der Begabungen.
Ein generelles Studium gefährdet nicht, sondern verhindert den wirtschaftlichen Niedergang
Ein Studium für grundsätzlich alle bedeutet keinen wirtschaftlichen Niedergang, vielmehr ist es die Bedingung dafür, dass genau dieser Niedergang nicht eintritt.
Wie stark die Digitalisierung und die Klimapolitik den künftigen Bedarf von Spezialisten und Experten fordert, ist oben ausgeführt worden. Der Hochschulausbau gefährdet auch nicht die starke Position der Hochschulabsolvent*innen am Arbeitsmarkt. Das zeigen der Rückblick wie der Ländervergleich.
Historisch hat es in Deutschland seit der Nachkriegszeit eine Explosion der Zahl der Akademiker*innen gegeben; aber fast in jedem Jahr lag deren Arbeitslosigkeit niedriger als bei jedem anderen Ausbildungsstatus. Gleichzeitig übertraf ihr Einkommen im Schnitt fast durchgängig das der anderen Ausbildungsstufen.
Der Ländervergleich kommt zum gleichen Ergebnis wie der historische Rückblick: Im OECD-Durchschnitt liegt die Erwerbslosenquote der Hochschulabsolvent*innen deutlich unter der Quote anderer Bildungsgrade, und das Einkommen übertrifft die anderen Bildungsstufen erheblich. Je niedriger der Bildungsstand, desto schlechter sind beide Werte. Das gilt nicht nur für die OECD allgemein, sondern – wenn überhaupt – mit ganz wenigen Ausnahmen auch für jedes einzelne Land.
Auch die Unterstellung trifft nicht zu, dass mit steigender Akademikerquote die niederen Ausbildungsgrade ökonomisch geschwächt werden. Im Vergleich zu den Hochschulabsolvent*innen sinkt bei höherer Akademikerquote vielmehr die Erwerbslosigkeit und steigt das Einkommen der Bildungsschwächeren.
Das bedeutet, dass trotz steigender Quote des Hochschulstudiums sein Vorteil gegenüber dem geringeren Bildungsstatus abnimmt; aber selbst wenn die Akademiker*innenquote doppelt so hoch wie in Deutschland ist, bleibt der finanzielle Vorteil eines Studiums erheblich.
Mithin bestehen auch bei einer höheren Akademikerquote, verglichen mit einer niedrigeren, die Beschäftigungs und Einkommensvorteile für Hochschulabsolventen fort, sind aber schwächer ausgeprägt, während die Bildungsschwächeren weniger als bisher diskriminiert werden. Eine steigende Studierquote verringert mithin die Ungleichheit.
Der andere ökonomische Einwand gegen einen Ausbau der Hochschulen ist die Gefährdung des Handwerks und der einfachen Dienstleistungen. Doch sowohl die Kammern als auch die Bürger*innen unterschätzen die Auswirkungen von Digitalisierung, Klimapolitik, Pandemie und Krieg. Die Anforderungen auch an das Handwerk wie an die einfachen Dienstleistungen werden deutlich ansteigen; kaum ein Gewerbe wird verschont bleiben, so z. B.:
- Im E-PKW wird die Elektronik zum wichtigsten Bestandteil, der KFZ-Schlosser auch zum IT-Sachverständigen.
- Im Bauhaupt- und Baunebengewerbe steigen die Anforderungen auf Grund der Umweltauflagen erheblich, allein die Maßnahmen zu Energiegewinnung und -einsparung. Am deutlichsten zeigt sich das daran, dass inzwischen auch Handwerksbetriebe duale Studiengänge anbieten.
- Der Einzelhandel wird vor allem durch den Online-Handel erschüttert, viele Läden stehen in den Innenstädten leer.
- Der Offline-Handel versucht, sich durch höhere Qualität und Erlebnisangebote gegen den Online-Handel zu behaupten; damit steigen auch hier die Anforderungen, während einfache Tätigkeiten wie das Kassieren durch das Selbstscannen abnehmen. Der Handel wie die Hochschulen haben darauf reagiert. Ein duales Studium im Handel bieten inzwischen 25 Hochschulen an.
Die Zahl dualer gegenüber traditioneller Studienformen ist noch gering, aber in den letzten 15 Jahren geradezu explodiert, und dies, obwohl dual Studierende für die Betriebe aufwendig sind, da sie im Vergleich zu Auszubildenden dem Betrieb seltener zur Verfügung stehen. Das duale Studium bieten z.B. Betriebe
- des KFZ-Gewerbes für Mechatroniker,
- des Baugewerbes für Bauingenieure und
- des Einzelhandels für Einzelhandelsfachwirte an.
Statt dass der Andrang zur Hochschule den Einzelhandel gefährdet, erkennt ein Teil der Betriebe, dass sie mit einer tertiären Ausbildung ihre Zukunft sichern können und kooperieren von sich aus bei der Ausbildung mit den Hochschulen. Der Aufstieg der dualen Berufsausbildung in den Hochschulbereich beginnt.

Ein Studium für grundsätzlich alle ist keine Illusion
Für sehr Viele ist ein Abitur und ein Studium für grundsätzlich alle illusionär. Diese Einstellung ist in Deutschland extrem verbreitet. Sie entstand gegen den Neuhumanismus, der – wie Humboldt – schon alle Jugendlichen für das Gymnasium qualifizieren wollte. Seit dem Ende des 19. Jahrhunderts entstand eine antiegalitäre Tradition. Sie rechtfertigte die hierarchische Schulstruktur mit angeblich biologisch bedingten, vorgegebenen Begabungsunterschieden, die auch der Nationalsozialismus für sich genutzt hat.
Die Skepsis, möglichst alle längerfristig qualifiziert bilden und ausbilden zu können, ist verständlich, doch sie widerspricht neuen wissenschaftlichen Einsichten, historischen Rückblicken und einem Ländervergleich.
Dass Begabung, dass besonders Intelligenz durch Vererbung bedingt sei, entspricht nicht den neuen Erkenntnissen der Genforschung. Sie kommt vielmehr zu dem Ergebnis:
„der Effekt der einzelnen Gene (ist) verschwindend gering. Selbst wenn man alle Geneffekte kombiniert, kann die aktuelle Forschung Unterschiede in der Intelligenz nur zu vier Prozent erklären“.
C. Kuhbandner
Es sind mithin die Umwelt wie das Individuum selbst, die seine Entwicklung fast ausschließlich bestimmen. Und die Umwelt ist gestaltbar. Bildung und Erziehung – privat wie öffentlich – sind die entscheidenden Faktoren. Sie können Intelligenz und Begabungen wecken, entwickeln und fördern.
Gerade die Leistung der öffentlichen Erziehung kann gesteigert werden durch
- den Ausbau von Krippen, Kindergärten und Ganztagsschulen,
- eine Weiterentwicklung der Inhalte sowie der Didaktik und Methodik,
- eine deutlich bessere Qualität der Lehrkräfte und Erzieherausbildung
- die Durchsetzung einer gemeinsamen Schule für alle, also der Inklusion im Bildungsbereich sowie
- eine verbesserte Ressourcenausstattung der Bildung.
Damit können insbesondere sozial und bildungsschwächere, elterliche und Umweltbedingungen stärker ausgeglichen werden.
Fast unvorstellbar sind der pädagogische Fortschritt und der Wandel der Einstellung. Das zeigt der Rückblick. Erst gut zwei Generationen – 70 Jahre – ist es her, da galt in Deutschland ein Studienbeginn von 5 % als eine Akademikerschwemme. Jetzt liegt die Quote 10 mal so hoch, und die extrem elitäre Hochschule der Nachkriegsjahre ist inzwischen zur Ausbildungsstätte der Mehrheit geworden. Trotz dieser Revolution unterstellen nur wenige konservative Vertreter, dass die Leistungen der Hochschulabsolvent*innen gegenüber der Vergangenheit abgefallen seien.
Einerseits ist dieser Schul wie Hochschulausbau in Deutschland revolutionär, andererseits jedoch mehr als bescheiden gegenüber dem Stand und der Dynamik im Ausland.
Die Mehrheit der OECDStaaten vermittelt ihren Jugendlichen bessere Abschlüsse als Deutschland. Bei uns schafft jeder achte Jugendliche (13 %) nur einen Abschluss der Sekundarstufe I, in Korea sind es nur 2 %. Dabei müsste in Deutschland der Erwerb eines Abschlusses der Sekundarstufe II leichter als in vielen Ländern fallen, denn es gibt hier nicht einen einheitlichen, sondern drei hierarchisch abgestufte Abschlüsse – den Berufsabschluss, die Fachhochschul und die Hochschulreife. Im Gegensatz dazu haben viele OECD-Staaten nur einen Abschluss, der zudem den direkten Zugang zur Hochschule gestattet.
Noch krasser ist Deutschland bei den Hochschulabschlüssen abgeschlagen. Diesen Abschluss hat unter den 2534Jährigen in Deutschland nur jeder Dritte (35 %), der OECD-Durchschnitt liegt um 30 %, in Korea um 100 % höher – bei 70 %.
Dabei hat die Verbesserung der Abschlussquoten keinesfalls ihren Wendepunkt global erreicht, vielmehr sind die Quoten noch in den letzten 10 Jahren um gut 1/3 in praktisch allen OECD-Staaten angestiegen, in ähnlichem Umfang selbst bei den Ländern, die schon hohe Abschlussquoten aufwiesen.
Nur die OECD-Staaten zu vergleichen, übersieht die globale Entwicklung: Der Hochschulzugang explodiert geradezu weltweit. Während in den ersten eineinhalb Jahrzehnten der Hochschulbesuch im Viertel der einkommensreichsten Länder um 1/3 zunahm, hat er sich weltweit fast verdoppelt, und bei dem zweitreichsten Viertel der Staaten fast verdreifacht (UIS).
Der Einwand, solch ein Hochschulausbau könne nur zu Lasten der Leistung gehen, ist unbewiesen. Vielmehr belegen die bei den Abschlüssen führenden Länder auch gute Plätze bei den PISA-Leistungsergebnissen.
Global entwickelt sich mithin der Zugang zur Hochschule extrem. Wenn es nicht zu gravierenden längerfristigen wirtschaftlichen Einbrüchen und staatlichen Umbrüchen kommt, dann wird sich das Studium für grundsätzlich alle sowohl global als auch in Deutschland durchsetzen.
Die Berufsausbildung steigt schon schrittweise in den Hochschulbereich auf
Seit dem Neuhumanismus Humboldts war die Berufsausbildung von der Allgemeinbildung fast völlig geschieden. Die Berufsabschlüsse berechtigten weder für den Zugang zur gymnasialen Oberstufe noch erst recht zur Hochschule. Erst die EU hat einen breiten Durchbruch geschaffen: Der Grundsatz der EU-weiten Freiheit beruflicher Niederlassung setzt die gegenseitige Anerkennung von Abschlüssen und Berechtigungen voraus. Nach dem Vorbild des Europäischen Qualifikationsrahmens hat der Bund einen Deutschen Qualifikationsrahmen beschlossen, der die Gleichwertigkeit des Berufsabschlusses mit der Hochschulreife festlegte.
Die Annäherung der Berufsausbildung an das allgemeine Bildungswesen war mehr als richtig, aber zu lau und zu kurzsichtig:
- Die Regelung ist zu lau: Offiziell ist die Berufsausbildung der Hochschulreife gleichgestellt und berechtigt zum direkten Besuch der Hochschule. Faktisch haben die Kultusminister*innen den Zugang zur Hochschule durch Auflagen nur um ein Nadelöhr geöffnet. Nur 4 % der Studierenden haben kein Abitur.
- Die sekundäre Berufsausbildung wird in der Sekundarstufe II festgehalten, sie gehört aber mittelfristig in den Tertiär, also in den Hochschulbereich.
Die schulische Berufsausbildung ist im Aufstieg
In Deutschland hat die schulische Berufsausbildung geringe Bedeutung. Im Vergleich zur dualen umfasst sie nur etwas mehr als die Hälfte der Ausbildungsangebote. Innerhalb der schulischen Berufsausbildung ist von Gewicht die Ausbildung im Erziehungs, Sozial und Gesundheitsbereich; dort finden 80 % der schulischen Berufsausbildung statt. Im westlichen Ausland ist dieser Bereich inzwischen fast vollständig in den Hochschulbereich verlagert worden. Innerhalb der EU ist die deutsche Ausbildung nur in einer Fußnote der Ausbildung in Europa gleichgestellt worden und wird weiterhin innerhalb der OECD infrage gestellt. In Anlehnung an Europa beginnt der Aufstieg der schulischen Berufsausbildung in den Hochschulbereich jetzt auch in Deutschland. Lange Zeit nicht hochschulwürdig, werden mittlerweile zunehmend Studiengänge für diese Berufsfelder eingerichtet:
- In der Kindheitspädagogik kann man den Bachelor inzwischen an 40, den Master an vier Hochschulen erwerben.
- Im Bereich Pflege, Gesundheit und Sport ist die Akademisierung viel breiter vorangeschritten: Es bestehen fast 250 Bachelor und über 100 Masterstudiengänge.
- Konsequent hat das Bundesgesundheitsministerium jetzt das EU-Recht umgesetzt, indem es für die Hebammenausbildung das Studium vorschreibt.
Der Aufstieg der schulischen Berufsausbildung in den Tertiärbereich hat begonnen.
Die duale Berufsausbildung nähert sich der Allgemeinbildung an und steigt auf
Die Wirtschaft ficht für die Würdigung der dualen Berufsausbildung. Einerseits unterstellt sie vehement die Gleichwertigkeit der dualen Berufsausbildung mit der akademischen Bildung, andererseits setzt sie sich für die Aufwertung und die Annäherung an das allgemeine Bildungswesen ein.
Die vermeintliche Gleichwertigkeit der dualen Ausbildung mit dem Studium
Die Wirtschaft wirbt massiv um Schüler*innen. Sie versucht, möglichst viele vom Besuch der Oberstufe und einem Studium zugunsten einer dualen Berufsausbildung abzuhalten. Sie wirbt mit der Gleichwertigkeit der dualen Berufsausbildung mit der Hochschulbildung.
Im Durchschnitt ist diese Behauptung allerdings falsch. Die duale Berufsausbildung ist weder in der Vergangenheit noch gegenwärtig gleichwertig mit einem Studium – weder bei der Beschäftigungschance noch beim Einkommen. Das gilt im Schnitt für einen Facharbeiter/Gesellen gegenüber einem Hochschulabsolventen, das gilt selbst für einen Meister/Techniker gegenüber einem Akademiker.
Zudem sind die Chancen auf Fortbildung äußerst begrenzt. Das gilt sowohl für den Erwerb des Meister bzw. Technikertitels als auch erst recht für die Zulassung zum Hochschulstudium.
Gleichzeitig zur behaupteten Gleichwertigkeit ficht die Wirtschaft aber für eine Aufwertung und Gleichstellung der dualen Ausbildung mit dem allgemeinen Bildungswesen.
An fünf Beispielen wird die Entwicklung deutlich:
- die Ausbildungsziele werden angehoben und damit zugleich die Ansprüche an den Schulabschluss,
- duale Aus- und Fortbildung werden der Bildung in Schule und Hochschule formal gleichgestellt und die Durchlässigkeit ein wenig erhöht,
- die Bezeichnung beruflicher Abschlüsse wird denen des allgemeinen Bildungswesens angenähert,
- duale wie tertiäre Studiengänge nehmen sprunghaft zu und
- berufliche Schulen steigen in den Hochschulbereich auf.
Die Ansprüche an Ausbildung und Schulabschlüsse steigen
Um die duale Berufsausbildung gegenüber den steigenden Berufsanforderungen zu erhalten, werden die Ansprüche an die Ausbildung sowie an die schulische Vorbildung gesteigert. Für Jugendliche nur mit einem Hauptschulabschluss und erst recht für Jugendliche ohne dieses Zeugnis wird es immer schwerer, einen Ausbildungsplatz zu erhalten.
Stattdessen gibt es inzwischen fast reine Abiturientenberufe. Das gilt insbesondere für die angesehenen Ausbildungsberufe, die in Konkurrenz zu Hochschulabschlüssen stehen. Die Zahl der Hochschulberechtigten, die eine Lehre beginnen, steigt seit Jahren stetig. Mehr Studienberechtigte als Jugendliche mit höchstens einem Hauptschulabschluss starten eine duale Berufsausbildung.
Die berufsbildenden Abschlüsse werden formal den Abschlüssen des allgemeinen Bildungswesens gleichgestellt
Einen Durchbruch bei der Aufwertung erzielte die Berufsausbildung mit dem Deutschen Qualifikationsrahmen, der eine Folge des Europäischen Qualifikationsrahmens ist. Formal wird der Berufsabschluss der Hochschulreife und der Meister/Techniker dem Bachelor unmittelbar gleichgestellt. Doch die Bundesländer haben auf Druck der Hochschulen den Hochschulzugang für Ausgebildete an längere Berufserfahrung und weitere Auflagen gekoppelt.
Ein weiterer Erfolg der Wirtschaft ist die Annäherung der Berufsabschlussbezeichnungen. Sie setzte sich gegen massiven Widerstand der Hochschulen durch: Ab jetzt wird der Meister zum Bachelor Professional, der Betriebswirt zum Teil sogar zum Master Professionell.
Die duale Ausbildung steigt in den Hochschulbereich auf
Die größte Aufwertung für die Berufsausbildung ist die Übernahme des dualen Prinzips in Studiengänge. Seit wenigen Jahren gibt es Betriebe, die Jugendliche gemeinsam mit einer Hochschule ausbilden. Dabei fällt die Beteiligung der Betriebe am Studiengang unterschiedliche intensiv aus.
Das Neueste sind triale Studien, bei denen Betrieb, Berufsschule und Hochschule gemeinsam ausbilden und die Jugendlichen einen doppelqualifizierten Berufs wie Hochschulabschluss (Bachelor) erhalten.
Noch ist der Anteil der Studierenden im dualen/trialen Studium mit 3 % sehr begrenzt, doch der Anteil ist innerhalb von 15 Jahren auf das 2 ½fache gestiegen.
Die Berufsausbildung wagt den Aufstieg in den Hochschulbereich
Nicht nur die Wirtschaft, sondern auch die Berufsschule wagt den Aufstieg in die tertiäre Bildung. Dies gilt besonders für Schulen in privater Trägerschaft.
- So benennt sich ein Teil der Fachschulen in Fachakademien um und
- bietet traditionelle wie duale Studiengänge an und lässt sie akkreditieren.
- In neun Bundesländern bestehen inzwischen Akademien mit dualen Studiengängen.
- Zur weitestgehenden Innovation hat sich Hamburg durchgerungen.
Hier errichtet das Hamburger Institut für Berufliche Bildung als Träger der 30 Beruflichen Schulen in Hamburg eine eigene Hochschule – die sogenannte Berufliche Hochschule. Die Berufsausbildung ist damit in Hamburg zugleich auch Hochschule. Diese bietet für Hochschulberechtigte zusammen mit der Wirtschaft triale Studiengänge an.
Das Studium kommt der Berufsbildung entgegen
Nicht nur die Berufsausbildung nähert sich dem allgemeinen Bildungswesen und vor allem der Hochschule an, sondern gleichzeitig kommt auch das Studium der Berufsausbildung entgegen. Die duale Berufsausbildung war stolz auf das Berufsprinzip, streng auf Berufe hin auszubilden. Während die Anzahl der Ausbildungsberufe inzwischen auf gut 300 zurückgeht, sind die Studiengänge nicht mehr nur wissenschaftszentriert, sondern zunehmend berufsorientiert und teilweise stark spezialisiert in gut 20.000 Bachelor bzw. Master-Studiengänge. Dies geht auch auf den Bologna-Prozess der EU zurück, der einen stärkeren Berufsbezug für Studiengänge vorsieht.
Insgesamt hat der Aufstieg sowohl der schulischen als auch der dualen Berufsausbildung in den tertiären Bereich begonnen. Unter dem Druck höherer Anforderungen an die Berufsausbildung und dem Streben nach ihrer Gleichwertigkeit mit einem Studium werden sich die Aufwertung und Annäherung der Berufsausbildung an die Hochschule fortsetzen und längerfristig zu ihrer Integration in den Hochschulbereich führen.
Die gymnasiale Oberstufe zur Oberstufe für grundsätzlich alle entwickeln
Die bestehende Sekundarstufe II ist ein diskriminierendes Konglomerat
Der schrittweise Aufstieg der schulischen und dualen Berufsausbildung in den Hochschulbereich wird die Selektivität der Sekundarstufe II verschärfen. Ihre Reform ist die dringlichste bildungspolitische Herausforderung.
Denn die Sekundarstufe II in Deutschland ist eigentlich keine Stufe, sie ist vielmehr ein zusammengestückeltes Konglomerat unterschiedlichster Bildungsformen. Abgesehen von der (gymnasialen) Oberstufe entstammen sie keinem gemeinsamen Konzept, sondern sind Reaktionen auf jeweilige gesellschaftliche Zustände. Ergebnis ist eine Bildungs-„stufe“ der schärfsten Diskriminierung.
Zur Sekundar-„stufe“ II zählen
- der Wartesaal Übergangsbereich für vermeintlich NichtAusbildungsreife mit rund hundert unterschiedlichen Maßnahmen. Sie verbessern die Ausbildungschancen nicht, sofern sie den Jugendlichen nicht einen höheren Schulabschluss vermitteln;
- eine duale Berufsausbildung, die ihre Gleichstellung mit dem Studium verspricht, sie aber nur sehr wenigen partiell gewährt und deren Qualität recht unterschiedlich ausfällt;
- eine schulische Berufsausbildung für mittlere Positionen, die unter unterschiedlichen Länderauflagen den Bildungsaufstieg über die Hochschulreife vermittelt kann, sowie
- die Oberstufe in Form der gymnasialen Oberstufe, des Beruflichen Gymnasiums und der Fachoberschule. Sie verleiht das doppelte Privileg einer verlängerten Allgemeinbildung und die Chance auf die hochgeschätzte tertiäre Ausbildung.
Die Abschlüsse der hierarchischen Sekundarstufe I bestimmen weithin die Selektion innerhalb der Sekundarstufe II.
Die Reform ist unumgänglich
Notwendig ist eine Neuordnung der Sekundarstufe II, sie ist erforderlich, um – wie gesagt –
- allen Jugendlichen die Chance auf eine individuelle Entfaltung zu ermöglichen,
- sie aktiv für Demokratie und Kooperation zu gewinnen sowie
- sie alle beruflich hoch zu qualifizieren, d. h. sie
- auf ein Studium für grundsätzlich alle vorzubereiten.
Eine 9/10jährige allgemeine Bildung reicht nicht – 12/13 Jahre für alle sind nötig
Die bisherige Schulpflicht von nur 9/10 Schuljahren reicht nicht. Gesellschaft und Welt haben sich verändert und werden sich weiterentwickeln. Die Bildung dafür ist schon jetzt ungenügend. Insgesamt braucht
- die Berufswelt bessere Grundkenntnisse für ein Studium für möglichst alle,
- die Demokratie mehr gesellschaftspolitische Bildung und Teilhabe für die Bildungsbenachteiligten und
- das Individuum bessere Bildung für seine individuelle Entwicklung.
Mit einer Lehrplanreform der 9/10jährigen elementaren Allgemeinbildung sind die Ziele nicht zu erreichen, das ist unrealistisch. Denn eine umfassendere, breitere Bildung scheitert am Druck der Wirtschaft auf mehr Förderung der Grundfertigkeiten.
OECD-weit belegen die Daten, dass eine Anhebung des niederen Bildungsstatus unabdingbar ist; je schwächer der Status, desto geringer sind OECD-weit und in fast jedem Land die Berufsaussichten – das gilt jetzt und trifft künftig erst recht zu.
Die Wirtschaft wird durch eine Schulzeitverlängerung fast nicht belastet
Die Wirtschaft wird gegen eine Schulzeitverlängerung einwenden, dass damit das Angebot an Arbeitskräften noch weiter zurückgeht. Doch dieser Einwand trifft so gut wie nicht zu; denn Jugendliche mit und erst recht ohne Hauptschulabschluss beginnen ihre duale Berufsausbildung im Schnitt erst mit rund 20 Jahren. Die längere Schulzeit würde vor allem die Zeit jahrelangen Suchens und des Besuchs des kaum wirksamen Übergangsbereichs verkürzen.
Zu einer Oberstufe für alle gibt es keine dauerhafte Alternative
Eine schulische Berufsausbildung als Alternative zur kriselnden dualen Berufsausbildung ist seit langem im Gespräch; mit ihr wäre es möglich, die Zahl der Jugendlichen ohne Berufsausbildung und den Wartesaal Übergangsbereich zu reduzieren.
Das Problem ist die Anerkennung ihrer Abschlüsse als gleichwertig zur dualen Berufsausbildung durch die Wirtschaft. Sie sieht ihren Anspruch auf das Monopol der dualen Ausbildung gefährdet. So hat sich eine schulische Berufsausbildung außerhalb des Gesundheits und Erziehungsbereiches nicht durchgesetzt, sie befindet sich vielmehr deutlich im Rückwärtsgang.
Eine mögliche Alternative wäre ein Allgemeinbildungsangebot ohne den Abschluss des Abiturs. Ein solcher Aufbau wäre der Mühe kaum wert; denn das Ansehen solcher Alternative im Vergleich zur gymnasialen Oberstufe würde diskriminiert sein. Ihre Durchsetzungschance wäre minimal, da an der jetzigen gymnasialen Oberstufe gut 50 % eines Jahrganges ihre Hochschulreife erwerben.
Für einen verlängerten Schulbesuch kommt nur die Weiterentwicklung der gymnasialen Oberstufe in Frage – also des Gymnasiums, des Fachgymnasiums, der Fachoberschule und selbstverständlich der Gesamtschule.
Mit neuen Lernformaten und verbesserten Strukturen kann die Oberstufe zur gemeinsamen Oberstufe für alle werden
Auf die oben genannten Herausforderungen ist die gesamte Jugend umfassender vorzubereiten, sie nur als studierfähig auszubilden, reicht nicht. Sie sollte Gesellschaft wie Welt möglichst weitgehend verstehen und zu beruflichem, gesellschaftlichem und politischem Handeln fähig und gemeinsam willens sein.
Längerfristig können sich die Voraussetzungen für eine Oberstufe für möglichst alle verbessern, indem ganztägige Kindertagesstätten ausgebaut werden, sie wie auch die gebundenen Ganztagsschulen kinder- und jugendpädagogisch gestaltet werden und indem mindestens die sonderpädagogische Exklusion und das hierarchische Schulsystem der Sekundarstufe I als nächsten Schritt zugunsten der gleichgestellten Zweigliedrigkeit aufgegeben werden.
Doch auf bessere Ausgangsbedingungen sollte die Weiterentwicklung der Oberstufe nicht warten. Auch unter den gegebenen Umständen kann sie viel bewirken.
Die Jugend kann in viel größerem Umfang motiviert, aktiviert und zur Selbständigkeit wie Teamfähigkeit erzogenen werden. Deshalb sollte sich ein Großteil der Welt in der Schule widerspiegeln. So sollte immer wieder die gesellschaftliche Praxis eingefangen sowie die Außenwelt erfahren werden. Das gilt von Anfang an auch für die Berufswelt mit ihren Inhalten.
Die Digitalisierung bietet bisher einmalige Belege für das Begaben und die Motivierung.
Mit Projekten, Praktika, Exkursionen und Expeditionen kann Aktivieren und Teamarbeit gelernt und Selbstsicherheit gewonnen werden
Die Struktur der Oberstufe aufbrechen
Zudem sollten die Strukturen der Oberstufe aufgebrochen werden. Bei so unterschiedlichen Leistungen von Schulen, Schulformen und abschlüssen der Sekundarstufe I sollte die Eingangsphase flexibel gestaltet werden. Das sollte ebenso für die Ausgangsphase gelten. Auch ein Abschluss in Stufen sowie einer für einzelne Fächer sind sinnvoll.
Die gemeinsame Oberstufe wird kommen
Die gemeinsame Oberstufe für grundsätzlich alle ist keine Illusion; sie wird sich vielmehr schrittweise durchsetzen. Erleichtert wird dies durch Reformen anderer Bildungsstufen und pädagogische Fortschritte.
- Doch entscheidend ist der Bildungswille bildungsbenachteiligter Eltern. Er wird steigen und sich mit Diskriminierungen nicht abfinden.
- Bei der Wirtschaft werden höhere Qualifikationen nachgefragt und
- Schulleiter*innen sowie Lehrkräfte werden sich mit dem geringeren Ansehen ihrer Schulformen nicht abfinden.
- Letztlich wird die Basis linker Parteien die Oberstufe für grundsätzlich alle gegen taktischen Widerstand der Parteioberen politisch durchsetzen.
Auf diese Kräfte ist die revolutionäre Bildungsverbesserung der letzten 2 ½ Generationen zurückzuführen, am krassesten die Entwicklung der Hochschule von ihrer extremen Exklusivität zur Schule der Mehrheit.
Aber die Aussage von Willy Brandt bleibt weiter gültig:
„Nichts kommt von selbst. Immer ist das Engagement von Betroffenen und Beteiligten verlangt. Nichts kommt schon später, sondern jetzt anfangen.“
Willy Brandt
Mit freundlicher Genehmigung des Verfassers und der Herausgeber des GGG Magazins
Lizenz: CC BY-NC-ND-4.0
Literatur
Allensbach-Umfrage Deutschland, für einige eine Scheindemokratie, DLF Nova, 22.4.2022
Decker, F. u.a.; Vertrauen in Demokratie, Friedrich-Ebert-Stiftung 2019
Economist Intelligence Unit, Democracy Index 2021, The Economist Intelligence Unit Limited
OECD, A Broken Social Elevator? How to Promote Social Mobility, 2018
Schäfer, A u. M. Zürn, Die demokratische Regression, Berlin 2021
C. Kuhbandner, Intelligenz ist nicht angeboren. SZ 14. 2018
UIS Stat, Gross enrolment ratio by level of education
Nida-Rümelin. J., Der Akademisierungswahn, Hamburg 2014.
Weitere Beiträge von Joachim Lohmann
Initiative #45: Gegen die Schweigespirale
Gast #3: Joachim Lohmann über die Notwendigkeit einer gemeinsamen Schule für alle