Gast #25: Das Schulsystem macht uns krank

Die Abiturrede von Anna Wessely, erschienen im Handelsblatt. Es ist sicher kein Zufall, dass sich vieles deckt mit dem, was Meike Mustin in diesem Blog geschrieben hat. 

Liebe Geschichtsklausur,
es kommt mir vor, als hätte die Zeit Flügel bekommen. Als würde sie sich in höhere Lüfte begeben und schwerelos sein. Ich habe Zeit. Gerade in diesem Augenblick meines oft viel zu schnellen Lebens spüre ich, wie sich Sekunden und Minuten ausbreiten. Zeit macht jetzt nicht mehr Druck, sondern bietet Möglichkeiten.

Kritik am Schulsystem: Wir brauchen Kreativität statt stumpfe Fakten!

Ich fühle mich farbenfroh frei, wie ich auf diese karge, leere, linierte, mit Gitterstäben verzierte Seite nicht hetzend und rasend auswendig gelernte Geschichtsparolen kritzle, sondern sie mit meinen wirklichen, wahren Gedanken bemale und meine Seele in blauer Tinte nach außen kehre.

Gerade sehe ich rauchende Köpfe, die krampfhaft versuchen sich zu auszudrücken, ihre Gedanken in Reih‘ und Glied hinter Gitterstäbe aneinander zu fügen, auf ein Blatt Papier, das ihnen mit Erwartungen entgegen schreit.

Hier sitzt eine Jugend ohne Worte. Und ich frage mich, wie eine Jugend ohne Worte sprechen soll. Wie sollen Austausch und Diskussion funktionieren, wenn uns allen die Worte fehlen? Wenn Lehrer uns Meinungen auferlegen und wir nur versuchen, auswendig gelernte Fakten und Zahlen in unserem Kurzzeitgedächtnis zu speichern, um sie nach der Notenabnahme wieder sinnlos zu verwerfen, sie zu entlassen in die Freiheit.

Und die Gedanken, die wir fassen und mühsam zu Papier bringen, werden anschließend mit rotem Permanentmarker durchgestrichen, bearbeitet, bewertet. Wert. Wert. Wert. Das Resultat eine kalte, abstrakte, rote, nackte Zahl. Der Durchschnitt unserer Leistung, unser Gütesiegel.

Das Schulsystem macht uns krank

Diese abstrakten, kalten Zahlen malen wir uns mühsam mit rotem Permanentmarker auf unsere jungen Körper bis wir in einem roten Meer zu ertrinken drohen. Das ist dein Wert, und das, der der anderen. Ich bin eine 13 und du? Ich bin nur eine 5.

Wir sind eine Jugend ohne Worte, aber voll gefüllt mit Zahlen und Noten und Werten.

Ich frage mich und das Schulsystem an sich: Wie soll man seinen eigenen Wert bestimmen, sich farbenfroh und frei fühlen, in Musik und Kunst den Sinn finden wollen, und Kreativität an erste Stelle setzen, wenn ständig jeden Tag aufs Neue Zahlen unsere Seele bombardieren und nichts hinterlassen als Narben und einen Wert.

Ist es da noch verwunderlich, dass die Kinder-und Jugendpsychiatrie maßlos überfüllt ist, dass Kinder sich von Brücken stürzen und eine ganze Jugend ihren eigenen Wert nicht sieht? Allein das Wort macht mir Angst: Kinder- und Jugendpsychiatrie: Kinder, das sind Menschen im Alter von sechs bis siebzehn Jahren, die fröhlich und frei leben sollten. Die Natur erkunden, mit dem Fahrrad in den Wald fahren und Schneckenhäuser suchen. Oder auf den höchsten Baum klettern und Vögel sein. Fliegen lernen. Frei sein.

Stattdessen landen sie in einem Käfig hinter Gitterstäben und fangen an mit rotem Permanentmarker ihre Seele zu bekritzeln, bilden sich ihr Ich-Bewusstsein aus kalten, roten Zahlen. Sprechen nur noch in Konjunktiven. Vom hätten, könnten, wollten, anstatt gen Freiheit zu laufen und zu handeln.

Da sind diese kleinen Menschen, die ihre Seele liebend gern in einem Meer aus Melodien baden, die Finger über Klaviertasten fliegen lassen und die fremde Welt der Musik in ihren Herzen wirklich verstehen. Da sind große Menschen, die ihre Seelen nach außen kehren und Slam-Texte schreiben, mit Worten Bilder malen, um andere Seelen zu berühren.

Lasst Schüler mehr Fehler machen!

Da sind Kinder und Jugendliche, die gerne in die Natur gehen, auf den höchsten Berg, am Gipfelkreuz stehen, kleine Berge, Täler, Flüsse, Bäume unter sich sehen, um sich endlich mal wieder als Teil dieses riesengroßen fantastisch-wunderbaren Zusammenhangs zu sehen. Um endlich mal wieder den Wind zu spüren, der einen mitnimmt in die Freiheit.

Denn eines hat diese Jugend ohne Worte gemeinsam: Visionen, Träume, Lichtgedanken, friedlich sein. Frieden. Doch Zufriedenheit bleibt ein Wunsch, Freiheit eine Sehnsucht. Kalte schwarze Tränen fließen. Verzweiflung, Hass, Selbsthass, der Hass auf andere. Wer bin ich? Ich bin es nicht wert. Bin ich es wert? Wo liegt mein Wert? Auf dieser Richterskala des Schulsystems.

Ich habe Mitleid mit dieser Jugend ohne Worte. Würde sie gerne wachrütteln und von ihren Fesseln befreien, die sie sich selbst unfreiwillig an die Beine binden. Ich würde ihnen gerne klarmachen, dass sie wunderbar und wertvoll sind.

Dass Freundschaft, Toleranz und Liebe so viel wichtigere Werte sind, als dieser abstrakte Notenwert. Ich würde ihnen gerne raten, mehr Fehler zu machen, entspannter zu leben, mit optimistischem Blick in die Zukunft ihr Leben zu leben. Doch ich bin Teil des ganzen perfektionistischen Systems, bin Teil dieses beängstigenden Prozesses der Entmenschlichung, der Produktivitätssteigerung und der Bewertung.

Das deutsche Schulsystem macht uns stumm

Ich bin ein einziges Zahnrad in diesem Komplex und habe Angst, nicht mehr laufen zu können. Und ich sehe diese Jugend ohne Worte, wie sie tonlos funktioniert, als Zahnräder sich dem großen Ganzen fügt und dabei jeder für sich so viel Individualität und damit ein Stück Menschlichkeit verliert.

Dafür sehe ich andere Merkmale wie schwarze Blumen aus unseren Seelen spießen: Angst. Verzweiflung, Konkurrenz. Wettbewerb. „Leistung“ steht da in Großbuchstaben auf meinem Körper geschrieben – darüber prangt mein Gütesiegel. Wir werden organisiert aussortiert und bleiben tonlos!

Vielleicht ist das einer der Nebeneffekte dieses Prozesses: Wir werden stumm. Sind so mit Erwartungen und Druck gefüllt, dass wir am Ende des Tages zu müde sind, um auf die Straße zu gehen und für unsere Werte aufzustehen. Unsere Köpfe rauchen, wie Schornsteine einer Massenfabrik. Wir sehnen uns doch alle nur nach Freiheit.

Dabei müssen wir auf die Straße gehen, nicht gegen das Schulsystem, das kann ich schon verstehen, da ist eh nichts dran zu rütteln. In einer Zeit des Wandels bleiben in diesem Fall die Räder der Veränderung schon lange stehen. Aber wir müssen auf die Straße gehen, um für Toleranz und Gleichberechtigung aufzustehen. Um statt Hassparolen, Melodien der Hoffnung und der Gemeinsamkeit mit erhobenen Armen in die Welt zu schreien.

Die Jugend ohne Worte braucht ihre Stimme zurück

Wir müssen uns zusammenfinden, um gemeinsam stark zu sein, gegen all die rechte Front. Um Fremden nicht mit Hass zu begegnen, sondern einem Lächeln und Interesse zu haben an der fremden Kultur. Wir müssen selbstbewusst, mutig sein und uns im Mut zur Vielfältigkeit vereinen, weil das unsere Stärke ist! Wir müssen wissen wollen, nicht weil wir müssen, sondern weil wir können und dieses Wissen mit Kreativität und Mut verbinden.

Und ich danke mit all meiner Überzeugung dem Schulsystem für dieses breite Spektrum an Wissen und diesen genauen Blick in jede Richtung. Ich danke ihm für das Angebot. Aber eine Sache ist auf der Strecke geblieben: die Haltung gegenüber dem Wissen, dass man uns vermittelt.

Denn vor lauter Auswendiglernen und Perfektion haben wir den Blick für das große Ganze verloren, sind wir auf dem langen mühseligen Weg zu müde und zu wenig wir selbst geworden, um das Wissen kreativ und sinnvoll in diesem viel zu schnellen Wandel der Zeit zu nutzen. Diese Jugend ohne Worte braucht ihre eigene Stimme zurück, um durch Innovation und Kreativität den Konflikten der Zeit entgegen zu treten und Lösungen zu entwickeln.

Wir brauchen wieder unsere eigenen Worte und die Motivation zum aktiven Handeln zurück, um gemeinsam stark zu sein! Dann werden wir zusammen auf den höchsten Baum klettern und fliegen.

Was also ist mein Lösungsweg?

Für mich sollte Schule neben einem Platz der Wissensvermittlung auch ein Ort der Selbstentfaltung sein, wo alle ihre Stärken finden und stärken. Statt Schülerinnen ausschließlich mit vorgefertigtem Faktenwissen zu füllen und sie somit in einen lähmend passiven Zustand zu versetzen, sollte man das bereits vorhandene Wissen durch die innovativen Ideen und das aktive Handeln der Jugend ergänzen.

Das deutsche Schulsystem braucht mehr Wahlfächer!

Neben dem Nachvollziehen bereits bestehender Ansätze sollten Schüler besonders auch die Fähigkeit erlernen, sich eine eigene Meinung zu bilden. Schule braucht Lebendigkeit. Ich wünsche mir Klassenzimmer als Räume der Diskussion und des Ideenaustauschs.

Wie wunderbar es doch dann wäre, alle jugendliche Eigenart und allen kindlichen Tatendrang als große Möglichkeit für Innovation zu sehen. Jugendliche füllen Schulen mit bunten Ideen und farbenfrohen Lichtgedanken, die noch nicht von festgefahrenen Strukturen und Einstellungen beeinflusst sind. Die Summe aller wäre somit ein unglaublicher Wissens- und Ideenschatz, dem wir noch viel zu wenig Bedeutung beimessen.

Auch in Wahlfächern können Schülerinnen ihr Potenzial besonders stärken. Wäre es nicht denkbar, dass Wahlfächer als Teil des festen Lehrplanes dem Schüler frei zur Auswahl stehen? So könnten Schüler aktiv ihren Lehrplan mit gestalten und Neues ausprobieren.

Zeit haben, für das, was mich ausmacht. Ich entscheide, was ich für mich brauche – und das in der Schule!
Mehr Platz für Kreativität, Musik, Philosophie, Tanz, Zufriedenheit. Zufrieden sein, mit sich Selbst und seinen Stärken. Lehrplan und Schulsystem sollten freier werden, bunter, lebendiger.

Es muss ein Wandel vom passiven Unterricht zum aktiven Umsetzen stattfinden. Das können wir auch mit mehr Praktika schaffen. Das einwöchige Praktikum während der zehnten Klasse scheint mir zu kurz und kann erweitert werden, um Schülern die Möglichkeit zu geben, sich in verschiedenen Arbeitsfeldern auszuprobieren.

Warum bekommen Schüler ständig Noten?

Wir wollen uns an dem Weltgeschehen aktiv beteiligen. Wollen nicht nur stillsitzen und zuhören. Wir wollen in der ehrlichsten Art und Weise wir selbst sein – und das auch in der Schule.

Das jedoch, ist meiner Meinung nach nur möglich, wenn man den Schülerinnen mehr Zeit gibt und das deutsche Schulsystem endlich von der ständigen Bewertung und dem Notendruck wegkommen würde.
Während unserer gesamten Schulzeit befinden wir uns in einer andauernden, nicht aufhörenden Klassenarbeit.

Jede Bemerkung zählt mit zu einer mündlichen Note, jeden Stundenbeginn könnte eine Abfrage anstehen. Jeden Tag aufs Neue müssen wir unseren Wert verteidigen, beweisen, dass wir gut sind. Und zwar in allen Fächern zu jeder Zeit. Dieser Druck sollte sinken, um die Freude am Lernen zu erhöhen.

Sobald nicht mehr jegliche Handlung in der Schulen einen Notenstempel bekommt, haben Schülerinnen die Möglichkeit, Fehler zu machen, auszuprobieren, einen Tag einfach mal schlecht drauf zu sein, eben, weil wir keine Maschinen sind UND es auch nicht sein wollen.

Meine Lösungsvorschläge bauen auf drei Grundideen: mehr Eigenverantwortung für Schülerinnen und Schüler, Freiheit und Unterstützung zur persönlichen Entfaltung, weniger Bewertung und: Zeit. Lasst uns mehr Zeit, um uns frei zu entwickeln. Einem Baum wirft man auch nicht vor, zu langsam zu wachsen. Man lässt ihm geduldig seine Zeit.

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