Fail #66: Der Kampf gegen die Erinnerung

Das Vorbild in 1984

Winston, die Hauptperson in 1984, ist damit beauftragt, Zeitungsberichte umzuschreiben, so dass sie der aktuellen Lage und den politischen Wünschen von Big Brother entsprechen. Man kann es auch so formulieren: Ziel ist, die ferne und nahe Geschichte so darzustellen, dass sie der herrschenden Ideologie genehm ist.

Dieses folgende Bild aus der Graphic Novel von Fido Nesti zeigt eine Szene an Winstons Arbeitsplatz: Per Rohrpost erhält er eine Anweisung zu einem Zeitungsbericht, er schreibt diesen inhaltlich und sprachlich (in Newspeak) um und vernichtet schließlich die Anweisung mitsamt der alten Version.

Die Gegenwart in 2023

Genau das passiert gerade in Russland, wie verschiedene Medien vermelden, unter anderem BR24, das ich hier zitiere:

Die Leser des Horror-Klassikers „1984“ wissen es: In der dort beschriebenen Diktatur werden permanent alle Bücher und Zeitungen umgeschrieben, damit die alten Texte stets zur politischen Gegenwart passen. Ähnliches passiert nach Ansicht nicht weniger russischer Kritiker gerade in Putins Russland. „Wer die Vergangenheit kontrolliert, kontrolliert die Zukunft. Wer die Gegenwart kontrolliert, kontrolliert die Vergangenheit. Wer die Gedanken kontrolliert, kontrolliert die Realität“, so der britische Autor George Orwell einst über den „Wahlspruch“ des von ihm beschriebenen fiktiven Terror-Regimes. Mit der ständigen Manipulation der Archive sollte garantiert werden, dass die Herrschenden scheinbar immer nur „zutreffende Prognosen“ abgegeben, sich also niemals geirrt hatten. Da passt es, dass ausgerechnet „1984“ zu den derzeit meist verkauften Klassikern in Russland gehört.

Und jetzt kommt es:

Putins Berater und Propagandist Wladimir Medinski kümmert sich seit längerem um die „Geschichtspolitik“ und stellte jetzt auf einer Pressekonferenz in Aussicht, dass sämtliche Geschichtsbücher bis zum Schuljahresbeginn kommenden Jahres „überarbeitet“ werden sollen. Vor allem die Abschnitte über die jüngere Vergangenheit seit 1970 sollen „komplett neu geschrieben“ werden. Bildungsminister Sergej Krawzow hatte zuvor angekündigt, dass „nach einem Endsieg“ im aktuellen Krieg auch ein „neuer Abschnitt“ in die Lehrbücher aufgenommen werden solle, ergänzt um spezielle Kurse zur Geschichte Russlands. Im Übrigen legt Krawzow nach eigenen Worten besonderen Wert auf Texte darüber, wie Russland die Weltgeschichte geprägt habe.

Der Kampf um die Geschichtsbücher

Was da gerade in Russland geschieht, ist besonders augenfällig, aber nichts Neues. Hier zwei Beispiele, ein fernes und ein nahes:

Das Massaker am „Platz des Himmlischen Friedens“ hat es nicht gegeben

Der ikonische „Tank Man“ Quelle

Tian’anmen-Massaker ist die verbreitete Bezeichnung der gewaltsamen Niederschlagung einer ursprünglich studentischen Protestbewegung auf dem Tian’anmen-Platz (deutsch „Platz am Tor des Himmlischen Friedens“) in Peking. Im chinesischen Sprachraum wird die Bezeichnung „Zwischenfall vom 4. Juni“ verwendet.

Wikipedia schreibt dazu:

Am 3. und 4. Juni 1989 schlug das chinesische Militär im Zentrum Pekings gewaltsam die Proteste der Bevölkerung nieder. Auf dem Platz selbst starben dabei keine Menschen, vielmehr wurde er nach Verhandlungen zwischen Militär und den Studenten vor der Drohkulisse aufgefahrener Panzer friedlich geräumt. In anderen Teilen der Stadt verloren nach Angaben von Amnesty International zwischen mehreren hundert und mehreren tausend Menschen ihr Leben. Presseberichte, die sich auf Quellen im chinesischen Roten Kreuz beriefen, nannten 2600 Tote auf Seiten der Aufständischen und des Militärs und rund 7000 Verletzte im Laufe der Woche in ganz Peking.

Der Staat versucht, eine kritische Debatte über die Ereignisse wie auch jede Erinnerung daran innerhalb Chinas zu unterbinden. So sind Inhalte über das Tian’anmen-Massaker im Internet auch Gegenstand der Zensur und Internetkontrolle in China. 

Wikipedia

Erinnerungskultur im Sinne der AfD

Wer das Holocaust-Mahnmal in Berlin als ein „Denkmal der Schande“ bezeichnet, wie der Geschichtslehrer B. Höcke, der will es nicht wahrhaben und will es nicht da haben, also abschaffen. Ähnlich soll es dann wohl auch – nach der „Machtergreifung“ – mit den Gedenkstätten der Konzentrationslager gehandhabt werden.

Wir finden in offiziellen und persönlichen Stellungnahmen dieser Partei unter anderem folgende Aussagen:

Die aktuelle Verengung der deutschen Erinnerungskultur auf die Zeit des Nationalsozialismus ist zugunsten einer erweiterten Geschichtsbetrachtung aufzubrechen, die auch die positiven, identitätsstiftenden Aspekte deutscher Geschichte mit umfasst.

Programm für Deutschland, S. 48

So einfach geht das: Natürlich hat die deutsche Erinnerungskultur ein Spektrum, das mindestens von den Kelten bis zum Fall der Mauer reicht, um nur zwei besonders prominente Eckpunkte zu nennen. Aber hier wird behauptet, dass sich die Erinnerung zu sehr auf den Nationalsozialismus fokussiert und dass damit keine Identität gestiftet werden kann – dafür braucht es andere Geschichtsmomente. Folglich muss das „aufgebrochen“ werden, handelt es sich dabei doch nur um einen „Vogelschiss“.

Diesen Begriff hat der damalige Bundessprecher und Fraktionsvorsitzende der Bundestagsfraktion A. Gauland in die Debatte eingebracht:

Wir haben eine ruhmreiche Geschichte, daran hat vorhin Björn Höcke erinnert. Und die, liebe Freunde, dauerte länger als die verdammten zwölf Jahre. Und nur, wenn wir uns zu dieser Geschichte bekennen, haben wir die Kraft, die Zukunft zu gestalten. Ja, wir bekennen uns zu unserer Verantwortung für die zwölf Jahre. Aber, liebe Freunde, Hitler und die Nazis sind nur ein Vogelschiss in über tausend Jahren erfolgreicher deutscher Geschichte.

A. Gauland, zitiert nach Stern

Bis jetzt ist unsere Geistesverfassung, unser Gemütszustand, immer noch der eines total besiegten Volkes. Und diese dämliche Bewältigungspolitik, die lähmt uns heute noch viel mehr als zu Franz Josef Strauß’ Zeiten. Wir brauchen nichts anderes als eine erinnerungspolitische Wende um 180 Grad.

B. Höcke im Januar 2017 in Dresden

Damit wird wohl deutlich genug, wohin die Reise gehen soll. Wir dürfen getrost davon ausgehen, dass unter einer AfD-Mitregierung dieser Teil in den Geschichtsbüchern unserer Schulen kürzer gehalten würde. Dass dies nicht etwas Nebensächliches, sondern für demokratische Gesellschaft Wesentliches ist, sagt uns ebenfalls das Grundsatzprogramm:

Denn Demokratie und Freiheit stehen auf dem Fundament gemeinsamer kultureller Werte und historischer Erinnerungen.

Programm für Deutschland, S. 6

Darum also muss die Erinnerung manipuliert werden. 1984 und Putin 2023 lassen grüßen.

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