Es gibt ein Menschenrecht auf Inklusion. Beschlossen am 13. Dezember 2006 von der Generalversammlung der Vereinten Nationen, in Kraft getreten am 3. Mai 2008, ratifiziert von der Bundesrepublik Deutschland am 24. Februar 2009 – aber umgesetzt? Die Umsetzung kann man nur als gescheitert betrachten, und das Scheitern kann man nur mit einem entsprechenden Unwillen der Verantwortlichen erklären. Ein paar Einzelheiten.
Die Umsetzung des Menschenrechts auf Inklusion wird in einem festgelegten Verfahren überprüft. Darin sind die Vertragsstaaten verpflichtet, über den Stand der Dinge in ihrem Verantwortungsbereich zu berichten. Da die deutschen Berichte sich bisher durch ein gewisses Maß an Schönfärberei ausgezeichnet haben, gibt es dazu Parallelberichte vom Deutschen Behindertenrat, einem Bündnis von Behindertenverbänden und -initiativen. Nun liegt ein neuer Parallelbericht vor, bei dessen Lektüre einem die Haare zu Berge stehen.
Wir betrachten mal nur Zitate aus dem Bereich “Bildung”. Und getreu dem überholten Leistungsverständnis vieler Bildungsverantwortlicher vergebe ich dafür Noten; möglicherweise ist dies die einzige Sprache, die verstanden wird. Die Anhaltspunkte für diese Leistungsziffern entnehme ich dem Text.

Allgemeine Umsetzung: Note 6 (ungenügend)
Zitat: Die Umsetzung der inklusiven Bildung ist im Berichtszeitraum in fast allen Bundesländern ins Stocken geraten, zum Teil sogar rückläufig. In keinem Bildungsbereich – von der Kita über Schule, Ausbildung und Hochschule bis zur Erwachsenenbildung – liegt eine verbindliche Gesamtstrategie (Ziele, Zeitplan, Qualitätskriterien, Ressourcen) von Bund und Ländern zum Aufbau inklusiver Bildungseinrichtungen vor. Es erfolgt keine planmäßige Beseitigung baulicher Barrieren im Bestand von Bildungseinrichtungen und keine durchgängige Berücksichtigung von Barrierefreiheit in der Digitalisierung.
Die Ausführungen der Bundesregierung im Staatenbericht betrachten wir als ausweichend und zum Teil irreführend. Die vom UN-Ausschuss zum Schutz der Rechte von Menschen mit Behinderungen in den Fragen zu Artikel 24 erbetenen Zahlen werden nicht erhoben.
Anhaltspunkte für die Note:
Die Lernfortschritte des Schülers sind sogar rückläufig. In keinem Bereich zeigt er ein verbindliches Umsetzungsverhalten.Er räumt Lernhindernisse nicht aus dem Weg. Seine Äußerungen dazu sind ausweichend und irreführend. Notwendige Lernstandserhebungen lässt er nicht durchführen.
Bereich Bewusstsein: Note 5 bis 6 (mangelhaft bis ungenügend)
Fortbildungen von Schulleitungen und Lehrenden sind nicht regelhaft und verpflichtend. Im Ergebnis bilden sich selbst an „inklusiven“ Schulen nur wenige Lehrer:innen in inklusiver Bildung, Förderung und Unterrichtsentwicklung fort. Deshalb ist der menschenrechtliche Gehalt der inklusiven Bildung in der Lehrerinnenschaft weitestgehend unbekannt.
In der allgemeinen Lehrer:innenausbildung bleibt Inklusion ein Randthema. Sonderpädagog:innen werden immer noch weitestgehend für die Arbeit in Förderschulen ausgebildet.
Darüber hinaus gibt es bisher keine wirksame administrative Steuerung von Ausmaß und Qualität der inklusiven Schul- und Unterrichtsentwicklung. Schulministerien und Schulaufsichten setzen lediglich Rahmen für Personalausstattung und Lehrpläne und überlassen die konkrete Ausgestaltung von Unterricht und Schulleben weitestgehend den einzelnen Schulen. Verbindliche inhaltliche Qualitätskriterien für inklusive Bildung fehlen.
Hochschulen wiederum sehen Inklusion häufig als Aufgabe, die sie an die Bereitstellung zusätzlicher Mittel durch die Länder binden. Es dominieren Maßnahmen im Einzelfall, d. h. auf Anforderung einzelner Studierender. Erst vereinzelt wird Inklusion über Aktionspläne als strukturelle, gesamtuniversitäre Aufgabe verankert.
Anhaltspunkte für die Note:
Der Schüler bildet sich nicht regelmäßig fort, so dass die Lerninhalte zum Menschenrecht weitestgehend unbekannt und ein Randthema bleiben. Er zeigt sich nicht in der Lage, seine Fortschritte wirksam und verbindlich zu steuern. Im tertiären Bereich gibt es punktuell aussichtsreiche Maßnahmen.

Bereich Personal: Note 5 (mangelhaft)
Die Einführung inklusiver Bildung in Regelschulen ist von erheblichem Personalmangel geprägt. Eine ausreichende Verlagerung von sonderpädagogischem Personal in die Inklusion findet in den meisten Bundesländern nicht statt. Für den Einsatz von Lehrkräften mit Behinderungen existieren keine Entwicklungsprogramme.
Anhaltspunkte für die Note:
Der Schüler investiert mangelhaft in seine Fortschritte und keine ausreichenden Kräfte. Er zeigt kein planvolles Vorgehen.
Bereich Bildungseinrichtungen: Note 5 bis 6 (mangelhaft bis ungenügend)
“Inklusive Schulen” werden nicht transparent und in ihrer Qualität erfasst. Die Zahl der Schülerinnen an Förderschulen ist je nach Bundesland und Förderschwerpunkt konstant bzw. sogar steigend, insbesondere für Schülerinnen mit Lernschwierigkeiten, körperlichen und psychischen Beeinträchtigungen. Hohe „Inklusionsraten“ der Länder resultieren überwiegend aus einer immens gesteigerten Zuschreibung „sonderpädagogischer Förderbedarfe“ an Schüler:innen allgemeiner Schulen.
“Inklusive Schulen” sind nicht flächendeckend vorhanden und beschränken die Aufnahme zumeist auf bestimmte Behinderungen oder individuelle Auswahl. In der Praxis haben Eltern in vielen Ländern die „Wahl“ zwischen einer Sonderschule und einer schlechter erreichbaren, schlechter ausgestatteten und unzureichend entwickelten „inklusiven“ Schule. Information, Aufklärung, Beratung oder gar Ermutigung von Eltern zu inklusiver Bildung findet weitestgehend nicht statt.
Anhaltspunkte für die Note:
Der Schüler verweigert sich Lernstandserhebungen. Beim Erreichen der Ziele gibt es einerseits Rückschritte, andererseits nur vorgetäuschte Fortschritte. Die Eltern werden über den Stand der Dinge unzureichend informiert und können nur unter ungeeigneten Alternativen “wählen”.
Bereich Rechtsanspruch/angemessene Vorkehrungen: Note 5 (mangelhaft)
Der Rechtsanspruch auf inklusive Schulbildung ist in den meisten Bundesländern mit (Ressourcen-) Vorbehalten versehen, der Zugang zu angemessenen Vorkehrungen ist nicht gesichert. Die Mehrheit der Landesregierungen hält das Sonderschulsystem als vermeintlich bessere Alternative für viele Kinder mit Behinderungen aufrecht. Verwiesen wird auf ein vorgebliches „Elternwahlrecht“, wobei das Recht der Kinder, nach ihren Bedarfen gefragt zu werden, um inklusiv an Bildung teil zu haben (z. B. Schulform), vernachlässigt wird.
Die Anwendung barrierefreier Materialien und Kommunikation ist nicht systemisch verankert, die Deutsche Gebärdensprache kein Unterrichtsfach. Viele Arten angemessener Vorkehrungen von der Schüler:innenbeförderung über Assistenz und Gebärdensprachdolmetschung bis zu Nachteilsausgleichen müssen jährlich individuell neu beantragt werden und unterliegen dem Ermessen unterschiedlicher zum Teil regionaler Behörden. Dies führt zu immensen individuellen und regionalen Unterschieden in der Gewährung. Schülerinnen mit Behinderungen haben nach wie vor geringere Chancen, einen anerkannten Schulabschluss und eine Berufsausbildung zu erlangen.
Auch beim Zugang zur Berufsausbildung und zum Hochschulsystem sind sie unterrepräsentiert. In der hochschulischen Bildung werden Leistungen zur Teilhabe an Bildung (Hilfsmittel, Gebärdensprachdolmetscher:innen, personelle Assistenzen) nur für Pflicht-Praktika, Pflicht-Auslandsaufenthalte und nur in Ausnahmefällen für Promotionen gewährt. Studierenden mit psychischen Beeinträchtigungen wird zunehmend der Zugang zu Nachteilsausgleichen verweigert.
Beauftragte und Beratungen für Studierende mit Behinderungen sind nach wie vor unzureichend mit Rechten und Ressourcen ausgestattet. In den Digitalisierungsstrategien von Bund, Ländern und Hochschulen wird technische und didaktische Barrierefreiheit vermehrt, aber unzureichend berücksichtigt. Fehlende Analysen und eine eingeschränkte Datenlage erschweren die Schaffung inklusiver Strukturen und adäquater Maßnahmen zur Unterstützung für Studierende wie Nachwuchswissenschaftlerinnen mit Behinderungen.
Anhaltspunkte für die Note: 5 (mangelhaft, nicht ausreichend)
Der Schüler stellt seinen Lernwillen unter Ressourcenvorbehalte und begründet dies mit angeblich besseren Möglichkeiten und einem “Wahlrecht”. Er stellt dem Erreichung von Schulabschlüssen und der Möglichkeit von Berufsausbildungen unnötige Hindernisse in den Weg. Weitere Bildungsmaßnahmen werden unzureichend berücksichtigt, nicht analysiert und insgesamt erschwert.
Fazit: Klassenziel verfehlt
Dem Schüler wird nahegelegt, sein Lernverhalten grundsätzlich zu überdenken und neu auszurichten.

1 comments On Faktencheck #106: “Inklusion”? Eine Katastrophe!
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