Feucht / München, 17. März 2023

Großer Zulauf zu Vortrag über Gemeinschaftsschule – Chance für gerechte Verteilung von Bildung
Auf großes Interesse stieß am vergangenen Mittwochabend ein Onlinevortrag des Bündnisses Gemeinschaftsschule Bayern. Gut 170 Personen hatten sich angemeldet für “Chance Gemeinschaftsschule – Wie eine längere gemeinsame Schulzeit Gerechtigkeit mehrt und Lernen befreit”.
Das Bündnis hatte sich im vergangenen Jahr mit dem Ziel gegründet, dass in Bayern die Gemeinschaftsschule als weitere Schulart zugelassen wird. Aufgrund ihrer Struktur halten die Initiatoren des Bündnisses diese Schulart für geeignet, Bildungsgerechtigkeit zu verwirklichen, indem dort bis zur 8. Klasse eine Selektion nach faktischen „Risiken“ wie Migrationshintergrund, Armut, Behinderung oder fehlendem Bildungshintergrund unterbleibt. Stattdessen soll hier den Kindern Zeit und individuelle Unterstützung für ihre Entwicklung gegeben werden.
Referent Roland Grüttner, ehemals Leiter einer Montessori-Schule, später auch einer staatlichen Grund- und Mittelschule, führte in die Probleme des selektierenden Schulsystems sowie in die Chancen und das Wesen einer Gemeinschaftsschule ein.
Das Bayerische Schulsystem löst sein Versprechen nicht ein
Das erklärte Versprechen des bayerischen, angeblich „begabungsgerechten, differenzierten Schulsystems“, Schülerinnen und Schüler in leistungshomogenen Gruppen und gemäß ihren Begabungen zu fördern, werde nicht erreicht, viele Kinder würden falsch eingestuft. Grüttner zeigte anhand wissenschaftlicher Erhebungen, dass die hierzulande praktizierte Zuweisung auf verschiedene Schularten in hohem Maß nach familiärem und sozialem Hintergrund und nach den Erwartungen der Lehrkräfte erfolge, nicht jedoch nach eigentlicher Begabung. Somit werde die soziale Ungleichheit in der Gesellschaft durch die Schule zementiert. Eine Unterscheidung nach der Herkunft verstoße aber gegen Artikel 3 des Grundgesetzes. Als höchst problematisch stufte Grüttner die dem LehrplanPlus zugrunde gelegten stereotypen Menschenbilder für die verschiedenen Schularten ein.
Noten bilden Leistungen nicht objektiv ab
Auch die gängige Benotung müsse stark infrage gestellt werden, denn Noten seien weder aussagekräftig noch vergleichbar noch verlässlich. Sie seien nicht einmal mit notwendiger Motivation zu rechtfertigen, denn Schulen, die auf Benotung verzichten, brächten keine schlechteren Ergebnisse hervor.
Zeitpunkt der Selektion in der Kritik
Eine frühe Aufteilung der Schülerinnen und Schüler auf verschiedene Schularten behindere die Entwicklung von Potenzialen und die Chancen auf Bildung, dies belegten die OECD-Untersuchungen. Die nur vierjährige Dauer der Grundschule in Bayern stehe somit zurecht in der Kritik, eine wissenschaftlich haltbare Begründung gebe es dafür nicht. Überdies wünschten laut einer Umfrage nur 11% der Eltern in Bayern die Aufteilung der Schülerinnen und Schüler nach der vierten Klasse, der bei weitem größte Teil, 74% befürworte einen Übertritt erst nach der sechsten Klasse. Für sich selbst spreche außerdem, dass die Integrierte Gesamtschule als Schulart bundesweit am stärksten wächst, nur in Bayern gebe es diese nicht. Während sich insbesondere die PISA-Spitzenländer schon vor Jahrzehnten von der frühen Selektion in der Schule verabschiedet hätten, halte aber Deutschland und insbesondere Bayern unbeirrt daran fest. Grüttner fasste zusammen: „Der Übertritt schon in der vierten Jahrgangsstufe lässt sich weder entwicklungspsychologisch noch pädagogisch begründen, er findet zu einem starren Zeitpunkt statt, sortiert die Kinder nicht nur nach Leistung, sondern häufig auch nach Herkunft und erzielt keine homogenen Gruppen, deren pädagogischer Nutzen ohnehin umstritten ist“.
Gemeinschaftsschule als Chance
Im zweiten Teil ging Grüttner auf die qualitativen, strukturellen und pädagogischen Erfordernisse einer Gemeinschaftsschule ein und zeigte Wege der Einführung und des Umbaus bestehender Schulen. Hier griff er auf schon früher gestellte Anträge und Vorhaben verschiedener bayerischer Kommunen zurück sowie auf Erfahrungen mit der Einführung der Gemeinschaftsschule in Baden-Württemberg vor etwa 10 Jahren.
Anders als die differenzierten Schularten müsse sich die Gemeinschaftsschule eben nicht auf starre, nur scheinbar nach Leistung getrennte jahrgangsstufen ausrichten, sondern könne bis etwa zur 7. oder 8. Klasse flexibel mit innerer Differenzierung arbeiten. Grüttner zeigte die vielfältigen Lernmethoden und strukturellen Möglichkeiten auf, die dazu beitragen können.
Angesichts des großen Interesses an der Veranstaltung sieht sich das Bündnis auf einem gemeinsamen Weg mit vielen Menschen, die, veranlasst durch die immer deutlicher sichtbare Bildungskrise, eine grundlegende Erneuerung fordern. Erst vor wenigen Tagen hatte anlässlich des Bildungsgipfels in Berlin eine große Gruppe aus Stiftungen, Verbänden und Gewerkschaften geschlossen an die Verantwortlichen appelliert, die Ärmel hochzukrempeln.
Die Folien des Vortrags finden Sie unter
- Teil 1: Warum Gemeinschaftsschule?
https://prezi.com/view/XDbXjosF7ASiBqA5qRqC/ - Teil 2: Wie geht Gemeinschaftsschule?
https://prezi.com/view/gnvmgpsBYBl49j7YJ5Vr/
Die Aufzeichnung können Sie ansehen auf https://www.youtube.com/watch?v=8CeKuYz3rJQ
Gast #29: “Ein graues, geheimnisumwittertes Papier”