Anders extrem als der zuvor veröffentlichte Gedankengang eines AfD-Bildungspolitikers ist der sokratische Eid, den Professor Klaus Zierer uns Lehrer*innen ans Herz legen möchte. Hier in der vollen Länge zitiert nach dem Beitrag in der NZZ.
“So lautet die Erneuerung des sokratischen Eides angesichts epochentypischer Herausforderungen, die nur durch Bildung zum Wohl der Menschheit gemeistert werden können:
Als Lehrperson verpflichte ich mich, all mein Fühlen, Denken und Handeln im Beruf auf das Wohl der mir anvertrauten Kinder hin auszurichten.
Den Kindern gegenüber verpflichte ich mich:
– jedes Kind seinen Möglichkeiten und seinem Entwicklungsstand entsprechend zu fordern und zu fördern,
– kein Kind zurückzulassen oder abzuschreiben, egal, welche Gründe gegeben sind,
– das Scheitern von mir anvertrauten Kindern immer und immer wieder als Anlass für neue Wege meines Lehrens zu nehmen,
– Fehler als Chance zu begreifen, nicht als Makel,
– Herausforderungen im Bildungsprozess zu setzen, damit Unter- und Überforderung nicht eintreten,
– Motivationen zu suchen, aufzugreifen und zu wecken,
– immer und immer wieder in den Dialog zu gehen, Rückmeldungen zu geben und einzuholen, Fragen zu stellen und zuzuhören,
– Unterrichtsfächern eine dienende Funktion im Bildungsprozess zuzuschreiben,
– alle Bereiche der Persönlichkeit anzusprechen und anzuregen,
– Vertrauen in die Welt und die eigene Person zu schenken und tagtäglich sichtbar zu machen,
– die Klasse und die Schule als Willkommensort zu begreifen und zu gestalten,
– für eine wertschätzende, angstfreie und bildungswirksame Atmosphäre und Beziehung zu sorgen und
– für die leibliche, geistige und seelische Unversehrtheit der mir anvertrauten Kinder einzustehen.
Den Eltern gegenüber verpflichte ich mich:
– auf Augenhöhe zu kommunizieren und eine Bildungspartnerschaft aufzubauen,
– den Bildungsprozess der Kinder als gemeinsame Aufgabe zu begreifen,
– nicht nur regelmässig zu Gesprächen bereit zu sein, sondern auch aktiv den Kontakt zu suchen und
– ihre Einschätzungen zum Bildungserfolg und -fortschritt der Kinder ernst zu nehmen und mit der eigenen Sichtweise zu verbinden.
Den Kolleginnen und Kollegen gegenüber verpflichte ich mich:
– meine Erfahrungen in der Erziehung und im Unterricht zu teilen und als Grundlage für die kollegiale Professionalisierung zu nutzen,
– die tagtäglich gemachten Fehler zu teilen und gemeinsam zu reflektieren,
– erfolgreiche Momente in der Schule zurückzuspielen und gegenseitige Anerkennung zu schenken und
– jedem seine individuelle Sichtweise auf Schule und Unterricht zuzugestehen und gleichzeitig an einer gemeinsamen Vision zu arbeiten.
Der Bildungsöffentlichkeit gegenüber verpflichte ich mich:
– den Bildungs- und Erziehungsauftrag anzunehmen und jederzeit umzusetzen,
– nicht nur Wissen und Können zu vermitteln, sondern alle Bereiche der Persönlichkeit in den Blick zu nehmen und zu fördern,
– alle Unterrichtsfächer dem Wohl des Kindes und damit dem Bildungs- und Erziehungsauftrag unterzuordnen,
– loyal, aber nicht blind gegenüber amtlichen Vorgaben zu sein,
– alles umzusetzen, was dem Wohl des Kindes dient, und alles zurückzuweisen, was dem Wohl des Kindes zuwiderläuft,
– jegliche Interessen und Forderungen an Schule und Unterricht, die nicht in erster Linie dem Wohl des Kindes entspringen, kritisch zu hinterfragen, gegebenenfalls auch öffentlich anzuklagen und zurückzuweisen und
– im öffentlichen Diskurs den Kindern und ihrem Recht auf Bildung eine Stimme zu geben.
Der Gesellschaft gegenüber verpflichte ich mich:
– allem voran die Achtung vor der Würde des Menschen als Grundlage und Ziel von Schule und Unterricht zu sehen,
– die Grundsätze unserer Demokratie zu vermitteln und in der Schule und im Unterricht zu verteidigen,
– Schule als einen Ort der Reproduktion und der Innovation gesellschaftlicher Werte zu sehen,
– meine pädagogische Freiheit zu nutzen, um aktuelle Fragestellungen in das Zentrum des Schulalltages zu stellen und
– nicht nur reaktiv, sondern auch proaktiv der Weiterentwicklung unserer Gesellschaft gegenüberzustehen.
Mir selbst gegenüber verpflichte ich mich,

– mein Vorgehen jederzeit zu begründen, kritisch-konstruktiv zu diskutieren und gewissenhaft zu reflektieren,
– regelmässig meine fachlichen, pädagogischen und didaktischen Kompetenzen weiterzuentwickeln,
– regelmässig meine Berufshaltungen zu reflektieren und
– meine Vorbildrolle stets nach bestem Wissen und Gewissen auszufüllen.
Ich bekräftige das Gesagte durch meine Bereitschaft, mich jederzeit an den Massstäben messen zu lassen, die von dieser Verpflichtung ausgehen.” (Zitat Ende)
Was soll man dazu sagen?
“Uff!” Und: “Ja!” Und: “Aber!”
Angesichts der nahezu interstellaren Höhe dieser Erwartungen wäre ich gern das engelgleiche Wesen, dem das alles “jederzeit” oder wenigstens “regelmäßig” gelingt.
Ist das menschlich? Beim ersten Lesen hätte ich mir auch eine weitere Selbstverpflichtung gewünscht:
Mir selbst gegenüber verpflichte ich mich, mich nicht zu überfordern.
So etwa in der Art. An der Qualität und Quantität dieser Maßstäbe kann ich nur scheitern. (Ich schreibe bewusst “ich” und nicht “man”.) Ich muss da wohl ein Geständnis anfügen:
Ich gestehe…
… dass ich angesichts der Unverschämtheit und Unerzogenheit mancher Schüler*innen an meine Grenzen der Geduld komme.
… dass ich mit solchen Eltern nicht gern “auf Augenhöhe kommuniziere” und mit ihnen gar nicht gern aktiv das Gespräch suche, die ihre Kinder darin noch unterstützen und von uns Lehrer*innen keinen Rat annehmen.
… dass ich schon mal resigniere, wenn die Einschätzung der Eltern zum Bildungserfolg und -fortschritt ihrer Kinder so gar keinen Anhalt an deren Leistungsmöglichkeiten hat und sie dennoch gar so fest auf ihrer Meinung beharren.
… dass mir der Druck, unbedingt aktuelle Fragestellung in das Zentrum des Schulalltags zu stellen, manchmal gehörig auf die Nerven geht, weil ich nicht weiß, wie ich das noch alles an die Schüler*innen hinbringen soll.
… dass ich implodieren würde, wenn die uneinsichtigen Eltern unerzogener Kinder zu mir kämen und mir diesen sokratischen Eid unter die Nase hielten. Lächelnd.
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