Argumente #15: Die Schulform Hauptschule hat ihre pädagogische Berechtigung verloren.

Hauptschüler wehren sich gegen negative Stigmatierung in einer Art und Weise, dass sie die Vorurteile gerade bestätigen. Das und noch anderes sagen Matthias Völcker und Hermann Veith, beide Uni Göttingen in einem Aufsatz über Hauptschulsozialisation.

HermannVeithkleinmvgVeith, H. & Völcker, M. (2015). Hauptschulsozialisation – oder der „unheimliche“ Lehrplan einer verschmähten Bildungseinrichtung. Zeitschrift für Pädagogik 61 (6), 857–875. 

Reichweite

Bei den folgenden Aussagen muss man sich Folgendes vor Augen halten:

a) Die Hauptschule heißt in Bayern inzwischen „Mittelschule“; die institutionellen Effekte gelten aber auch für diese Schulform.

b) Die Daten der hier vorgestellten Studie entstammen einem Forschungsprojekt, das in den Jahren 2009 bis 2013 im Stadtkreis Göttingen sowie in den Landkreisen Göttingen, Holzminden, Northeim und Osterode im Harz durchgeführt wurde. An der Befragung beteiligten sich 1305 Schülerinnen und Schüler der neunten und zehnten Jahrgänge in insgesamt 34 Schulen: 12 Hauptschulen (43 Klassen), 20 Haupt- und Realschulen (38 Klassen) und 2 Gesamtschulen (KGS) (6 Klassen).

Hauptschüler produzieren genau die Vorurteile, von denen sie sich zu distanzieren versuchen

Unabhängig davon, wie gut die pädagogische Qualität von Hauptschulen oder Hauptschulbildungsgängen tatsächlich ist, wird mit dem Hauptschülerstatus eine Vielzahl gesellschaftlich degradierend wirkender und sozial abwertend einsetzbarer Zuschreibungen assoziiert. Spätestens mit der Zuweisung der in der Sekundarschulsystemkonkurrenz abgehängten Hauptschülerposition müssen sich die Schülerinnen und Schüler mit den damit verbundenen negativen Rollenattributen auseinandersetzen.

Sie tun dieses gleichzeitig in dem Empfinden marginalisierter Aussortierter sowie in dem Bestreben, ihre Selbstachtung zu schützen und ihren Selbstwert aufrechtzuerhalten, durch Abgrenzung und Abwehr. Indem sie dieses tun – und darin liegt die ganze Tragik der Hauptschulsozialisation –, produzieren und reproduzieren sie für sich selbst und ihre unterschiedlichen Bezugspartner und -gruppen die sozialen Vorurteile, von denen sie sich zu distanzieren versuchen. Statt sich auf einen Bildungsgang einlassen zu können, der sie schulisch auf die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben als Arbeitnehmer, Bürger und Individuum vorbereitet, werden sie von Beginn an mit Perspektiven des Scheiterns, des Minderberechtigten und des Abweichens konfrontiert. Damit erzeugt der Hauptschülerstatus und mit ihm die Hauptschulsozialisation, losgelöst von der Einzelschule, Wirkungen, die weder politisch noch pädagogisch gewollt sein können.

Im bestehenden Schulsystem werden diese Effekte dadurch verstärkt, dass die aussortierten Schülerinnen und Schüler sich durch äußere Differenzierungsmaßnahmen in homogenen Lerngruppen wiederfinden. Da sie sich selbst in der Mehrzahl als Stigmaträger definieren, werden kontraproduktive Gruppendynamiken angestoßen, die die Lehrkräfte in der Breite nicht auffangen können.

(Veith und Völcker 2015, S. 872–873; Hervorhebungen von mir)

Die Schulform Hauptschule hat ihre pädagogische Legitimation verloren

Folgt man dieser Argumentation, hat die Hauptschule als Schulform ihre pädagogische Legitimation verloren – und zwar nicht deshalb, weil die pädagogische Arbeit an den einzelnen Hauptschulen vermeintlich schlechter wäre, sondern weil sie schulsystemisch nicht mehr konkurrenzfähig ist. Ihre daraus resultierende Rufschädigung ist inzwischen so weit fortgeschritten, dass sie von der überwiegenden Mehrheit der Eltern- und Schülerschaft verschmäht und aktiv gemieden wird.

Hauptschülerin oder Hauptschüler zu sein, bedeutet, vor sich selbst und anderen unentwegt erklären zu müssen, warum man der Schmach der negativen Auswahl nicht entgehen konnte und sich jetzt im Bildungsgang der „Dummen“, „Asozialen“, „Aussortierten“ und „Mehrfachrisikobelasteten“ wiederfindet. Wie viel konstruktive Lernmotivation dadurch absorbiert wird, lässt sich nur erahnen.

Wer die Hautschule in der alten Form noch irgendwie retten will, macht sich sehenden Auges einer fortgesetzten „institutionalisierten Identitätsbeschädigung“ (vgl. Solga, 2010) schuldig. Die hier nur auszugsweise vorgestellten Untersuchungsergebnisse sind ein weiteres Indiz für die Schwächen einer an traditionellen Auslesepraktiken orientierten Bildungspolitik.

Die Schülerinnen und Schüler sind die Leidtragenden, weil sie sich mit einem systemisch erzeugten Makel auseinandersetzen müssen, den sie als Person nicht verantworten können, aber im Laufe ihrer Schulzeit durch Selbstabwertung zu verantworten lernen. Eine pädagogisch verantwortliche Wahrnehmung der mit dem staatlichen Erziehungs- und Bildungsauftrag gesetzten Ziele jedenfalls sieht anders aus.

(Veith und Völcker 2015, S. 873; Hervorhebungen von mir)

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